Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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PILLE HAT RISIKEN: WENN DER ARZT VERSAGT

      − GYNÄKOLOGE VERGISST THROMBOSE-CHECK – ANNINA (18) JETZT HALBSEITIG GELÄHMT

      − TRAGISCHES SCHICKSAL EINER JUNGEN STEIRERIN: VERHÜTUNGSMITTEL MACHT SIE ZUM KRÜPPEL

      − RISIKEN ERNST NEHMEN: AUF WAS FRAUEN BEI VERHÜTUNG ACHTEN MÜSSEN

      Mit Entsetzen nahm Nina die Titelseiten der Tageszeitungen, die Jasna schwungvoll auf den Schreibtisch gelegt hatte, zur Kenntnis.

      »Das ist doch gar nicht so schlecht«, fand Jasna zu ihrer Überraschung. »Ich meine, angesichts der Situation. Natürlich wäre es besser, wenn diese Sache mit der 18-Jährigen nie passiert wäre, das ist klar.«

      Nina starrte sie perplex an. Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Diese Schlagzeilen sind doch furchtbar«, sagte sie schließlich. »Alles negativ!«

      Jasna grinste. »Du bist wohl ein bisschen zu viel mit Ellen zusammen gewesen, oder wie? Die sieht auch nur immer rot – oder besser gesagt, schwarz.« Dass Nina bei der Erwähnung von Ellens Namen unweigerlich zusammenzuckte, entging ihr völlig. »Aus meiner Sicht sind diese Schlagzeilen ziemlich okay. Wir haben gestern gute Arbeit geleistet. Nirgends steht FENOLANE MACHT 18-JÄHRIGE ZUM KRÜPPEL! In keiner einzigen Überschrift wird der Produktname erwähnt, und nur in zwei der Artikel steht er etwas weiter unten im Text. Dass LENOPHARM der Hersteller ist, taucht gar nicht auf. Bis auf einen zielen alle Überschriften auf den Gynäkologen ab, der nicht nachgefragt hat, ob es in der Familie dieser Annina ein erhöhtes Thrombose-Risiko gibt.«

      Eine halbe Stunde später trafen sie sich mit Fenolane-Produktmanagerin Lilli Muster in Ellen McGills Büro zur Tagesbesprechung.

      Auch heute verspürte Nina wieder leichte Beklemmungen, als sie gemeinsam mit Jasna das Büro betrat. Dennoch – gemessen an ihren Empfindungen vom Vortag fühlte sie sich nun schon deutlich besser. Als sie vergangene Nacht todmüde ins Bett gefallen war – ohne Lukas, denn der war mit seinen Freunden unterwegs gewesen und erst zwei Stunden nach ihr zurückgekehrt –, hatte sie sich wie ein Mantra vorgesagt, dass eigentlich nichts passiert war. Je öfter sie dies vor sich hin gemurmelt hatte, desto mehr hatte sie selbst daran geglaubt. Irgendwann waren ihr die Augen zugefallen und sie hatte einen wunderbaren Traum gehabt, in dem Lukas und sie an einem Strand entlanggingen und Muscheln sammelten.

      Nina versuchte an Lukas und die Muscheln zu denken, als sie jetzt auf dem einzig freien Platz direkt neben Ellen McGill auf dem Sofa Platz nahm.

      »Es hätte schlimmer sein können«, meinte Ellen mit einem Blick auf die Zeitungen, die Jasna mitgebracht hatte.

      »Ich frage mich, was diese Journalisten als Alternativlösung anbieten«, murmelte Kathrin Hanelka, eine schlanke Brünette Mitte dreißig, die für den Bereich Kontrazeptive verantwortlich war. »Sollen wir jetzt pausenlos schwanger werden, oder soll die Zahl der Abtreibungen wieder nach oben schnellen? Nichts anderes passiert doch, wenn die Medien pausenlos Verhütungsmittel schlechtreden.«

      »Es gibt ja noch das gute alte Kondom«, warf Georg Waldmeister von der Medizin-Abteilung ein, und Jasna konterte prompt: »Das sagst ausgerechnet du als Mann!«

      Waldmeister grinste verlegen.

      »No sex«, sagte Ellen McGill trocken. »Das ist die einzige Alternative.«

      »Und die ist impraktikabel«, ergänzte Kathrin Hanelka.

      Nina fühlte, wie ihr unwillkürlich das Blut in den Kopf stieg. Ellen selbst schien ihren Faux pas nun ebenfalls zu bemerken. »Lassen wir das«, sagte sie steif. »Sprechen wir darüber, was uns heute erwartet. – Der Außendienst ist informiert, der Infobrief an unsere Gynäkologen wurde gestern noch verschickt. Ich denke, wir werden von dieser Seite verstärkt Nachfragen zu erwarten haben. Kümmerst du dich darum, Kathrin?«

      »Natürlich. Ich habe meine sonstigen Termine abgesagt. Ich widme mich ausschließlich den Gynäkologen.« Sie richtete ihren Blick auf Nina. »Was ich aber schon noch sagen muss, bezüglich der Pressearbeit: Ich finde das nicht so gut, wenn von unserer Seite die Schuld auf den Gynäkologen geschoben wird. Wir wissen aufgrund unserer Recherchen ja nun genau, welcher Gynäkologe der behandelnde Arzt von dieser Annina war. Das ist einer unserer besten Kunden! Es ist sehr geschäftsschädigend, wenn Frau Blume in diesem Zusammenhang von einem Behandlungsfehler spricht.« Sie deutete auf den Artikel mit der Überschrift GYNÄKOLOGE SCHÄTZT THROMBOSE-RISIKO FALSCH EIN – ANNINA (18) JETZT IM ROLLSTUHL!

      Zum zweiten Mal fühlte Nina, dass sie errötete – diesmal vor Scham. Offensichtlich machte sie einfach alles falsch.

      Jasna holte bereits Luft, doch Ellen McGill war schneller.

      »Nina hat das völlig richtig gemacht. Ich opfere lieber einen inkompetenten Gynäkologen als eines unserer umsatzstärksten Produkte. Wir distanzieren uns klar von Behandlungsfehlern.«

      Nina hob überrascht den Kopf. Hatte Ellen sie gerade beim Vornamen genannt? Und tatsächlich verteidigt?

      »Ich meine ja nur«, sagte Kathrin Hanelka nun unschlüssig. »Ich habe nur Bedenken …«

      Ellen fuhr ihr hart ins Wort. »Wir haben alle Bedenken, Kathrin. Wir sind in einer Krisensituation. Es wäre schlimm, wenn wir alle handeln würden, ohne je Bedenken zu haben. Aber irgendwann ist es auch gut. Es bringt nichts, alles immer weiter zu hinterfragen. Wir drehen uns sonst im Kreise. – Ich denke, unsere Presseabteilung hat gute Arbeit geleistet.«

      Keiner wagte ein weiteres Wort dazu. Jasna grinste, als würden ihr allein die Komplimente gelten. Nina versuchte still und unbemerkt von den Blicken der anderen zu verarbeiten, dass sie von Ellen McGill gerade ein Lob bekommen hatte.

      »Um zehn Uhr ist eine internationale Telefonkonferenz«, fuhr Ellen nun fort. »Für PR und Marketing; natürlich ist unsere Krise das Thema. Ich habe schon Nachricht von Kollegen aus Italien und Great Britain; Fenolane wird auch hier für LENOPHARM ein Thema. Der Fall Annina wird auch dort von den Medien aufgegriffen; es gibt schon vereinzelt Meldungen darüber. Um zehn Uhr wird über die weitere Strategie beraten. Ich schlage vor, dass Nina und ich an der Telefonkonferenz teilnehmen.«

      Nina zuckte unmerklich zusammen. Telefonkonferenz. Sie hatte noch nie an einer Telefonkonferenz teilgenommen. Das Wort »international« kündigte obendrein an, dass die Gespräche auf Englisch stattfanden. Und dann auch noch gemeinsam mit Ellen McGill …

      Um kurz vor zehn klopfte sie an Ellens Bürotüre. Die Vorstellung, die nächsten sechzig Minuten allein mit ihr in einem Raum zu verbringen, bereitete Nina trotz ihres inneren Mantras »Es-ist-nichts-passiert« Unbehagen.

      Ellen McGill wirkte sachlich und kühl wie eh und je, als sie sie aufforderte, Platz zu nehmen. Nina verfolgte aufmerksam, wie Ellen sich in die Telefonkonferenz mittels eines vorgegebenen Zahlencodes einwählte.

      Die Diskussion verlief schleppend. Nina hatte Mühe, den Verhandlungen zu folgen. Die Leitung wurde immer wieder durch schrille Pfeiftöne und andere Nebengeräusche gestört; jeder sprach Englisch mit einem eigentümlichen Akzent. Es fielen Worte, die Nina noch nie gehört hatte. Auch Ellen runzelte ein paar Mal irritiert die Stirn, was Nina wiederum beruhigte – offensichtlich lag es nicht nur an ihrem schmalen Wortschatz, dass sie vieles nicht verstand.

      Ellen stellte einige Fragen, die das Fenolane-Marketing betrafen und zu heftigen Diskussionen zwischen einem Herren mit deutschem Akzent und einem anderen Herren mit osteuropäischem Akzent führten. Nina kannte beide nicht, und den Kollegen aus Osteuropa verstand sie zudem kaum.

      Sie musterte Ellen verstohlen von der Seite. Wer war diese Frau, die in abgelegenen Zimmern plötzlich über andere Frauen herfiel wie ein wildes Tier? Was mochte in ihr vorgehen? Sie wirkte immer so sachlich und ernst, verbarg jede Gefühlsregung hinter dieser unsichtbaren, undurchdringlichen Maske. Nina hatte sie noch nie lachen hören. Sie fragte sich, was der Grund dafür war. Lag es an Ellens Charakter, der nun einmal so unzugänglich war, oder hatte sie Angst, ihre Karriere zu gefährden, wenn sie Emotionen zeigte?

      Ninas Blick glitt unwillkürlich Ellens Körper entlang. Es war nicht zu leugnen, dass sie diese