Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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ging, und verbarg hinter ihrer kühlen Fassade eine Tiefe, die ihrer Ausstrahlung einen Hauch von Mystik verlieh.

      Ellens linke Hand lag bewegungslos zwischen Notebook und Telefonanlage. Die Finger der Rechten bewegten sich im Takt einer Melodie, die nur Ellen selbst kennen mochte. Nina beobachtete Ellens lautlos auf die gläserne Tischplatte trommelnde Finger und versuchte zu erraten, welche Melodie sie spielen mochte. Ellen hatte lange, schlanke Finger. Kein Zweifel, dass diese Finger sehr geübt über die Tastatur eines Klaviers gleiten konnten. Es waren Klavierspielerhände, wie Nina sie aus dem Kreis ihrer Eltern kannte.

      Doch diese Finger konnten nicht nur Klavier spielen … Nina dachte unweigerlich daran, was Ellens Berührung zwischen ihren Beinen bewirkt hatte, und sie fühlte eine angenehme Hitze in sich aufsteigen. Zugleich mit der Hitze kam die Scham. Warum löste der bloße Gedanke an die Art und Weise, wie Ellen sie berührt hatte, so starke Gefühlswallungen bei ihr aus? Warum passierte nichts von dem, wenn Lukas sie berührte? – Sie hatten während der Urlaubswoche an Ostern mehrmals miteinander geschlafen, doch sie selbst hatte kein so großes Bedürfnis danach verspürt. Das war nicht ungewöhnlich für sie – Sex war nun einmal nicht das Bindeglied ihrer Beziehung zu Lukas. Auch nicht zu anderen Männern. Seit sie das erste Mal mit einem Mann geschlafen hatte, war sie der Überzeugung, dass sie zu jenen Frauen gehörte, die in dieser Hinsicht nicht besonders viel empfanden. Bisher hatte ihre Unlust, zum Höhepunkt zu kommen, sie nicht besonders beschäftigt. Sie hatte sich auch bei ihren Ex-Freunden immer mit dem Gedanken getröstet, dass Sex nur eine Nebensache war und ihre Empfindungen weit über bloße Lustbefriedigung hinausgingen.

      Ellen hatte sie etwas Besseren belehrt. Sie hatte unweigerlich eine Türe geöffnet und einen Weg gezeigt, von dem Nina weder wusste, ob sie ihn beschreiten wollte, noch, ob sie ihn je wieder verlassen konnte. Es war für sie eine komplett neue Erkenntnis gewesen, dass sie sehr viel mehr empfinden konnte als nur ein angenehmes Gefühl körperlicher Verbundenheit.

      Sie schlief also weiterhin mit Lukas in der Hoffnung, dass es auch mit ihm mehr geben musste. Sie schlief mit ihm, um sich zu beweisen, dass ihre Fähigkeit, Sex zu genießen, nicht an Ellen McGill gebunden war, und es beschämte sie, dass ihr Körper bei Lukas nicht im Ansatz zeigte, zu welcher Leidenschaft er fähig war. Sie konnte es nicht steuern. Lukas war der Mensch, dem sie vertraute, den sie liebte, mit dem sie seit knapp zwei Jahren Freud und Leid teilte. Ellen Mc-Gill dagegen war eine im Grunde fremde Person, die sich ihr gegenüber verschlossen und seltsam verhielt und die sich ihrer bemächtigt hatte, ohne vorher zu fragen. War es eine Art emotionaler Sadomasochismus, der ihre Empfindungen beim Sex mit Ellen so intensiv gemacht hatte? Gehörte sie zu jener Gruppe von Menschen, die zur sexuellen Stimulation gedemütigt oder überwältigt werden mussten? Kam sie zum Höhepunkt, nur weil Ellen sie wochenlang kalt und unzugänglich behandelt hatte? Und verlor Sex seinen Reiz, wenn jemand nett zu ihr war?

      Nina beunruhigten diese Fragen, die sich ihr aufdrängten, weil sie das Gefühl hatte, sich selbst nicht mehr zu kennen.

      Und noch mehr beunruhigte sie, dass sie noch immer Ellens Finger anstarrte und sich zurück in den Kopierraum wünschte. Das Gefühl von Ellens Fingern, die unter ihren Tanga glitten …

      »Nina? – It’s your turn.« Ellens Stimme neben ihr riss sie aus ihren Phantasien. Sie war der Telefonkonferenz schon gute zehn Minuten nicht mehr gefolgt. Sie hatte keine Ahnung, was gesprochen worden war, was von ihr erwartet wurde und was sie nun sagen sollte. Die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sich ihre Blicke trafen. In Ellens graugrünen Augen flackerte kurz etwas auf, was Nina nicht zu deuten vermochte. War es Amüsement oder Ärger? Ein Gefühl jedenfalls, das für einen kurzen Moment Ellens maskenhaftes Antlitz durchbrach und sie die Antwort auf die Frage geben ließ, die eigentlich Nina gegolten hatte.

      Ellen führte sehr gewandt aus, wie die Medienanfragen bisher beantwortet worden waren und wie das bisherige Medienecho in Österreich tendenziell ausfiel. Nina war dankbar, dass sie diesen Job übernahm. Sie wusste, sie hätte mühsam nach den richtigen Worten suchen müssen und die Berichterstattung niemals so komprimiert und elegant zusammenfassen können.

      Dennoch dachte sie gleichzeitig, dass Ellen sie sicher für komplett unfähig halten musste, und diese Vorstellung behagte ihr ganz und gar nicht. Wieder einmal fühlte sie sich den Herausforderungen, mit denen sie bei LENOPHARM fast tagtäglich konfrontiert war, nicht gewachsen.

      Mit dem Ende der Telefonkonferenz war auch von internationaler Seite beschlossen worden, dass Österreich eine Art Fragen-und-Antworten-Katalog, kurz FAQ-Katalog genannt, zum Thema Fenolane und Journalistenanfragen zusammenstellen sollte – auf Englisch. Nina zog es krampfartig den Magen zusammen, als sie das hörte. Sie wusste, sie würde die Aufgabe niemals in zufriedenstellender Weise bewältigen, und wagte den metaphorischen Sprung ins kalte Wasser, als Ellen den Hörer aufgelegt hatte: »Ich kann das nicht. Mein Englisch ist zu schlecht.«

      Es kostete sie große Überwindung, dies offen auszusprechen, auch wenn es die Wahrheit war. Sie wusste, dass sie damit unwillkürlich bestätigte, was ohnehin viele in der Firma dachten: dass sie dem Job nicht gewachsen war. Es ausgerechnet jener Person zu gestehen, die ihr dieses Gefühl am stärksten vermittelt hatte, glich für sie einem Seelenstriptease. Daher traf es sie bis ins Mark, als Ellen plötzlich wieder zu jener abweisenden Person wurde, als die Nina sie kennengelernt hatte. Das sei nicht ihr Problem, beschied ihr Ellen auf Englisch. Englisch sei nun einmal die Firmensprache. Nina müsse das bewältigen, egal wie, schließlich sei sie für die PR verantwortlich. Sie weigere sich, Ninas Job noch zusätzlich zu ihrem eigenen zu erledigen.

      Nina fühlte sich, als wäre sie kopfüber in Eiswasser getaucht worden, als sie Ellen McGills Büro verließ. Gleichzeitig spürte sie die kalte Ernüchterung, die von ihr Besitz ergriff: Wie hatte sie nur so dumm sein und annehmen können, dass Ellen McGill eventuell Gewissensbisse aufgrund des Vorfalls im Kopierraum plagten – oder, mehr noch, dass er ihr irgendetwas bedeutete?

      Ellen McGill verachtete sie.

      Und trotzdem blieb die Erinnerung, wie sich ihre Berührungen anfühlten, in Nina lebendig. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie auf dem Rückweg in ihr Büro war, und verabscheute sich selbst für ihre Empfindungen.

      Nina kam gegen 20.00 Uhr nach Hause. Sie war müde, fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Bereits als sie die Haustüre aufsperrte, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Es roch nach Zigarettenrauch.

      Sie unterdrückte den leisen Ärger, der in ihr hochkam. Im Wohnzimmer waren drei Köpfe über ein Blatt Papier gebeugt, auf dem Nina zunächst nur wirre Striche und Pfeile erkannte, und hoben sich erstaunt, als sie nun höflich grüßte und sich im selben Augenblick fragte, woher diese sichtliche Verwunderung über ihr Erscheinen herrührte.

      Einer der Köpfe war der blonde Haarschopf von Lukas.

      »Was macht du denn hier?«, fragte er. Nina glaubte, aus seiner Stimme einen leichten Vorwurf heraus zu hören.

      »Ich wohne hier«, sagte sie und ließ sich auf das Sofa fallen.

      Sie musterte die kleine Gruppe, die sich um den Esstisch geschart hatte und sich offensichtlich ganz heimelig fühlte, mit innerlicher Missbilligung. Ein voller Aschenbecher, eine leere Weinflasche und eine zweite, die nur noch halbvoll war, zeugten von fröhlichen Stunden.

      »Lukas hat schon gesagt, dass du bist kaum noch zu Hau-säää!«, informierte sie Marga, der hellbraune Haarschopf, in ihrem breiten Jargon. »Immer tust du nur arbeitään für diese Firma!« Sie zündete sich prompt eine weitere Zigarette an.

      Tut das deiner Stim-mää nicht gut, hätte Nina am liebsten sarkastisch zurückgegeben, doch sie fühlte sich zu erschöpft, um jetzt eine Raucherdiskussion zu beginnen. Es störte sie, dass Lukas mit Marga offensichtlich ihre An- und Abwesenheiten diskutierte.

      »Ich finde, du wirst dort wirklich ausgenutzt«, sagte Sonja, deren Gesicht ehrliche Anteilnahme widerspiegelte. »Das ist echt nicht normal, dass du erst jetzt nach Hause kommst.«

      »Es ist ja nicht immer so«, meinte Nina und unterdrückte ein Gähnen. Sie wäre am liebsten gleich ins Bett gekrochen, wollte aber nicht vor Lukas Freunden als Schlafsuse gelten. »Wir haben derzeit eine Krise. Es gibt