Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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»Nina! Sei nicht so kompliziert. – Ellen hat ausdrücklich gesagt, ich soll dich anrufen. Also, komm bitte zu mir herunter, und wir machen uns ein nettes halbes Stündchen, ehe wir aus dem Büro verschwinden. Heute ist so ein schöner Tag, da sollten wir nicht ewig hier hocken.«

      Wenig später saß sie mit Lilli in deren kleinem Büro mit Blick über den Wien-Fluss auf den ersten Bezirk und löffelte köstliches Erdbeereis. Von Ellen selbst fehlte jede Spur.

      »Du hast einen tollen Ausblick«, stellte sie erstaunt fest. Sie hatte nicht erwartet, dass Lilli als junge Produktmanagerin ein Einzelbüro mit einem ebenso schönen Ausblick zugewiesen bekam wie Ellen McGill, die die Vorgesetzte von drei Abteilungsleitern war.

      »Ja, nicht wahr?« Lilli kicherte. »Das Büro wurde vor mir noch ab und zu von Michaelis genutzt. Offiziell war er zwar bereits in Pension, aber wie du ja inzwischen auch mitbekommen hast, fällt ihm der Abschied von der Firma nicht leicht. – Na ja, kein Wunder. Wenn man sonst nichts hat im Leben.«

      »Hat er keine Frau und Kinder?«

      Auf Nina hatte Michaelis nicht wie ein Mann gewirkt, der mit seinem Leben nichts anzufangen wusste, ganz im Gegenteil.

      »Er war schon verheiratet, habe ich gehört«, erzählte Lilli. »Aber seine Frau ist dann wohl vor einiger Zeit an Krebs gestorben. Ich glaube, Kinder hatten sie keine. Aber genau weiß ich es nicht. Ich bin ja auch erst seit zwei Jahren in der Firma. Mich hier zu bewerben war das Beste, das ich tun konnte! Hier ist wirklich alles super: erträgliche Arbeitszeiten, weniger Dienstreisen, tolle moderne Büros, gute Bezahlung, lukrative jährliche Prämien, nette Leute …« Sie warf den Rest ihrer Waffel in den Müllkorb und schleckte sich die letzten Eisreste von den Fingern. »Denkst du nicht?«

      Nina wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Unternehmen gab, in denen noch mehr gearbeitet wurde als bei LENOPHARM, von lukrativen jährlichen Prämien hatte sie bisher nichts gehört, und über die Bezahlung dachte sie längst nicht mehr, dass sie so vorzüglich war, wie es ihr am Anfang erschien. Sie hatte sich vor Kurzem ausgerechnet, auf welchen Nettostundenlohn sie kam, wenn sie allein die im Vertrag festgeschriebene Zeit von 38,5 Stunden pro Woche als Berechnungsgrundlage berücksichtigte. Dabei hatte sie mit leichtem Entsetzen festgestellt, dass sie sogar bei der Werbeagentur in München, bei der sie kurzfristig gearbeitet hatte, auf einen etwas besseren Stundenlohn gekommen war – und dort hatte sie immerhin nur an der Rezeption gearbeitet.

      Lilli deutete Ninas Schweigen auf ihre Weise. »Na ja, ein paar seltsame Leute gibt es ja in jeder Firma. Aber die meisten Leute sind wirklich okay. Abgesehen von einer.« Ihr Gesicht verfinsterte sich.

      Nina wurde schlagartig hellhörig. Sollte sie endlich auf eine Seelenverwandte gestoßen sein, die unter Ellen McGill genauso litt wie sie selbst?

      »Dass ausgerechnet ich an so eine Chefin geraten muss, ist wirklich Ironie des Schicksals«, begann Lilli auch schon. »Ich habe selten so etwas Verbissenes und Unzugängliches erlebt wie diese Frau. Die reinste Sklaventreiberin, wirklich. Jedes Jahr steckt sie sich enorm hohe Ziele, nur um ihre Position zu sichern und eine Riesenprämie zu kassieren. Wir Produktmanager bekommen nur einen Bruchteil vom großen Kuchen ab. Und dann diese Launenhaftigkeit – an einem Tag ist sie deine beste Freundin, am nächsten Tag behandelt sie dich wie eine Aussätzige.«

      Nina betrachtete Lilli unter einem völlig neuen Aspekt. Sie sah eine grazile junge Frau mit dunklem, glattem Haar, sonnengebräunter Haut und großen, dunklen Augen. Rein äußerlich waren sie sich nicht ganz unähnlich. War Ellen auch über sie hergefallen, vielleicht eines Abends, hier in diesem Büro?

      »Ich habe diese Erfahrung auch mit ihr gemacht«, sagte Nina nun vorsichtig. »Ich weiß nie, woran ich bei ihr bin. Manchmal habe ich schon Bauchweh, wenn ich nur zu ihr ins Büro muss.«

      Lilli riss erstaunt die Augen auf. »Aber du hast doch kaum mit ihr zu tun!«

      Nina war genauso erstaunt. Hatte Lilli denn keine Augen im Kopf? »Ich bin mehrmals pro Woche bei ihr. Sie ist doch diejenige, die mir alle Infos gibt und mit der ich besprechen muss, was in Sachen Produktkommunikation geplant ist.«

      Die beiden starrten sich an. Und auf einmal wurde ihnen klar, dass sie nicht von derselben Person sprachen.

      »Meine direkte Vorgesetzte ist Kathrin Hanelka. – Aber du … du redest von Ellen!«

      Nina spürte, wie ihr die Röte bis in die Haarwurzeln stieg. Lillis Blick ruhte zu allem Überfluss auch noch prüfend auf ihr. »Aber Ellen ist doch total nett«, sagte Lilli. Die Überraschung in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Ich wünschte so sehr, sie wäre meine Chefin. – Warum kriegst du Bauchweh, wenn du zu ihr ins Büro musst?«

      Nina wäre am liebsten auf der Stelle aus Lillis Büro gestürzt, doch diese Reaktion hätte unter allen möglichen Reaktionen die meisten Fragen aufgeworfen. »Sie wirkt manchmal sehr streng«, erwiderte sie lahm. »Aber vielleicht liegt das auch nur an mir. Mir fällt es einfach sehr schwer, mit dominanten Menschen umzugehen.«

      Lilli schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber Nina …! Ellen ist überhaupt nicht dominant. Sie kann sich durchsetzen, das ja. Und sie verlangt sehr viel von ihrem Team. Aber sie setzt sich sehr für ihre Mitarbeiter ein. Vor allem dann, wenn es Probleme gibt. Zum Beispiel in meinem Fall: Sie hat das sehr wohl bemerkt, wie Kathrin Hanelka teilweise mit uns umgeht. Und ich weiß aus gesicherter Quelle, dass sie bereits mehrere Gespräche mit Kathrin wegen ihres Führungsstils geführt hat, in denen sie deutliche Worte für sie hatte. Seitdem reißt sich Kathrin auch mehr zusammen, habe ich den Eindruck. – Wahrscheinlich kennst du Ellen noch zu wenig. Wenn du sie mal näher kennst, wirst du sie sicher sehr mögen.«

      »Mag sein«, meinte Nina ausweichend. Sie wollte dieses Gespräch nicht fortsetzen, wollte zurück in ihr Büro, wo sie vor Fragen sicher war. Und sie hoffte nur, dass Lilli für sich behielt, was sie soeben gesagt hatte. Sonst würde bald das ganze Haus hinter ihrem Rücken Witze darüber machen, dass sie Bauchweh bekam, wenn sie Ellens Büro betrat. Noch dazu, wo ganz LENOPHARM Ellen McGill als netten und sanften Menschen zu betrachten schien. Wie richtig es gewesen war, den Vorfall im Kopierraum nicht dem Personalchef zu melden! Niemand hätte ihr geglaubt.

      Lilli lächelte Nina zuversichtlich an. »Ich bin ganz sicher, in einem halben Jahr denkst du anders über Ellen.«

      »Vielleicht«, sagte Nina. »Ich muss jetzt noch etwas arbeiten. Danke für das Eis.«

      Als sie oben im Büro war, fiel es ihr schwer, sich auf die neue Website zu konzentrieren. Immer wieder glitten ihre Gedanken zu Ellen McGill. Je mehr sie über sie erfuhr, desto widersprüchlicher wurde sie für sie, und desto mehr zerbrach sie sich darüber den Kopf. Wer war diese Frau? Was ging in ihr vor? Warum hat sie das ausgerechnet mit mir getan, fragte sich Nina wie schon so oft zuvor. War ich zufällig zur rechten Zeit am richtigen Ort? Wenn Lilli Muster im Kopierraum gestanden hätte, wäre es dann mit ihr passiert? Und was hätte Lilli getan? Alles akzeptiert und mindestens so genossen wie sie selbst?

      Nina schüttelte den Kopf. Unmöglich. Lilli war selbstsicher und eloquent, sie war beliebt in der Firma und setzte Grenzen; wahrscheinlich wäre sie sowieso nie in diese Situation gekommen. Es musste wohl an ihrer eigenen elenden Unsicherheit liegen. Sie rief in Ellen dieses widersprüchliche Verhalten hervor, das anscheinend niemand sonst an ihr bemerkt hatte.

      Am Dienstag noch machte sie sie quasi zur Schnecke wegen ihres schlechten Englisch, und heute lud sie sie zum Eis ein. Was war das für eine Logik? Nina hielt es trotzdem für angebracht, sich zu der Einladung zu verhalten. So schickte sie ein Mail mit einem einzigen Wort in der Betreffzeile an Ellen McGill: Danke.

      Binnen einer Minute kam die Lesebestätigung – und eine Rückantwort: Danke – für was?

      Für das Eis, schrieb sie ohne zu Überlegen zurück.

      Lesebestätigung sowie Reaktion folgten prompt. Ellen hatte nur drei Zeichen in die Betreffzeile getippt: einen Strich-Punkt, ein großes O und eine nach links geöffnete Klammer – ein augenzwinkerndes Smiley.

      Nina wurde die Doppeldeutigkeit ihres Dankes erst jetzt bewusst. Die Tatsache,