Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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im Monat leisten könne. Schließlich spare er ja für die Musical-Ausbildung.

      Nina hatte dafür Verständnis. Sie bewunderte, dass Lukas so genau wusste, was er ist seinem Leben anfangen wollte, während sie, die sogar zwei Jahre älter war als er, noch immer unschlüssig von einem Kurzzeitjob zum nächsten sprang. Als er ihr schließlich eröffnete, er werde die Musical-Ausbildung in Wien absolvieren, war sie regelrecht erleichtert – sie hatte die Wochenenden in Regen inzwischen mehr als nur satt.

      Das Ticket nach Wien war um etliches teurer. Nina sah bald, dass wöchentliche Zugfahrten für sie nicht zu finanzieren waren. So erhöhte sie ihre Anwesenheit im Callcenter auf sechs Stunden pro Tag, obwohl sie danach regelmäßig mit den Nerven am Ende war.

      Lukas verstand nicht, warum es ihr nicht gelang, zumindest bis Passau schwarzzufahren und dann erst beim österreichischen Schaffner ein Ticket zu lösen. Er selbst halte es immer so, versicherte er ihr. Ob sie sich nicht während der Kontrolle einfach auf der Toilette verstecken könne? Nina aber wurde schon schlecht vor Angst, wenn sie nur daran dachte, bei Zugfahrten mit regelmäßigen Kontrollen schwarzzufahren. Lieber nahm sie in Kauf, dass ihr Konto gelegentlich ins Minus rutschte. Als aus dem gelegentlichen Minus jedoch ein permanentes Minus wurde, das sich trotz ihrer Bemühungen nicht mehr zu füllen schien, zog sie die Notbremse und bat Lukas um das gemeinsame Finden einer Lösung.

      »Zieh doch zu mir nach Wien!«, lautete sein Vorschlag. »Ich vermiss dich sowieso unheimlich, es wäre echt mein allergrößter Wunsch, täglich mit dir zusammen zu sein.«

      Nina war zutiefst berührt. Noch keiner ihrer Ex-Freunde hatte mit ihr zusammenziehen wollen, selbst Heiko nicht, mit dem sie über drei Jahre zusammen gewesen war.

      Lass dir lieber Zeit mit dem Umzug, hatte Inga gewarnt. So gut kennt ihr euch doch noch gar nicht. – Außerdem: Lukas hat bisher nur bei seinen Eltern gewohnt. Das bedeutet: Pension Mama! Lass ihn erst ein bisschen alleine wohnen, damit er weiß, wie es ist, einen eigenen Haushalt zu führen. Nicht, dass dann alles an dir hängenbleibt. Doch Ninas Liebe zu Lukas war letztendlich stärker gewesen. Sie verkaufte die wenigen Möbel, die sie besaß, und übersiedelte nach Wien.

      Ich verstehe dich nicht, hatte Inga kopfschüttelnd kommentiert. Die Freundschaft hatte von diesem Zeitpunkt an einen leichten Knick erlitten. Als Nina schließlich in Wien war, hatten sie anfangs jede Woche telefoniert und in den ersten Monaten noch gelegentlich Mails ausgetauscht. Doch die Texte, die sie sich hin- und herschickten, wurden von Mal zu Mal dürftiger. Das letzte, was Nina von Inga gehört hatte, war, dass sie sich in einen kalifornischen Jazzmusiker verliebt hatte.

      Während sie jetzt verärgert Lukas’ Geschirr abspülte, dachte sie an Ingas Worte. Pension Mama? Sie wusch nicht nur das Geschirr, sondern putzte auch noch Dusche, Waschbecken und Küchenboden, weil ihr alles lieber war, als Margas schrilles Gelächter und ihre Kommentare aus nächster Nähe hören zu müssen. Drei Stunden später blitzte die Küche wie die Kulisse für einen Putzmittel-Werbespot; Nina taten alle Gelenke und Muskeln weh, an ihren Händen und Unterarmen hatte sie pickeligen roten Ausschlag als Reaktion auf das günstige Putzmittel, das sie stets im »Ein-Euro-Shop« ums Eck kauften, aber immerhin verabschiedeten sich Marga und Sonja nun und gingen endlich, endlich nach Hause.

      Die Türe war kaum hinter ihnen ins Schloss gefallen, als Lukas auf Nina zutrat und mit gerunzelter Stirn fragte: »Sag mal, was ist denn mit dir heute los? Du bist ja heute total überdreht! – Kriegst du deine Tage?«

      Nina musste sich beherrschen, um ihm nicht den Putzlappen um die Ohren zu schlagen, den sie noch immer in den Händen hielt. Doch statt ihm die Meinung zu sagen, ihn vielleicht auch wütend anzuschreien, traten ihr nur Tränen der Enttäuschung und Wut in die Augen. Die Erkenntnis, dass ihr ihre eigene Schwäche wieder einmal zum Verhängnis wurde, steigerte ihre innere Verzweiflung um ein Vielfaches. Schluchzend ging sie an Lukas vorbei in das verrauchte Wohnzimmer und warf sich weinend auf die Couch.

      Sie hatte das Leben, das sie führte, absolut satt. Noch nie war sie so unglücklich gewesen wie jetzt. Immer hatte sie die Zuversicht besessen, dass dunkle Lebensphasen nicht ewig andauern würden. Doch jetzt sah sie kein Licht. Ihr Leben würde für die nächsten Jahre so weitergehen. Sie würde bei LENOPHARM bis spät in die Nacht hinein arbeiten, Lukas würde auf seine Chance als Musical-Star warten, sie hätten immer zu wenig Geld und obendrein zu wenig Zeit füreinander. Und zudem musste sie auf ewig mit der Gewissheit leben, dass sie Sex mit einer Frau, die sie hasste, mehr genoss als Sex mit dem Mann, den sie liebte.

      Später lag sie neben Lukas im Bett und fand lange keinen Schlaf. Sie betrachtete im Halbdunkel der Wohnung sein friedliches, jugendliches Gesicht. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Bereits nach wenigen Minuten auf dem Couchbett war er eingeschlafen. Sie selbst wünschte sich in diesem Moment, die Uhr zurückdrehen zu können. Sie wollte auch wieder tief und fest schlafen können, am liebsten in Lukas’ Armen, und vor allem frei von den Gedanken an LENOPHARM, Fenolane, die über hundert Mails, die sie täglich bekam – und frei von Ellen McGill.

      Was zu Beginn der Woche noch Thema Nummer eins in allen Medien gewesen war, fand am Freitag derselben Woche allenfalls noch als Fünfzeiler in einigen Printausgaben Erwähnung. Die Fenolane war für Journalisten kein Thema mehr. Die jüngsten Anschläge im Irak, der mögliche Einsatz von Prinz Harry im Krisengebiet und die Diskussionen über die Umgestaltung des Schulwesens verdrängten das Verhütungsmittel aus den Schlagzeilen, und kein einziger Mitarbeiter von LENOPHARM war darüber unglücklich, am wenigsten natürlich Nina.

      Endlich konnte sie sich wieder all jenen Themen widmen, die in den vergangenen Tagen liegengeblieben waren. Eine ihrer größten Baustellen war die Gestaltung der neuen Website. Sie war verwundert gewesen, dass man ihr die Aufgabe übertrug, aber offenbar traute man einer Zeichnerin das nötige Geschick zu. Eine professionelle Webagentur würde ihren Entwurf dann technisch umsetzen. Bis zum Sommer wollte der Geschäftsführer eine komplette Überarbeitung des bestehenden Webauftritts.

      Auch wenn sie innerhalb der vom Konzern vorgegebenen Corporate-Identity-Richtlinien wenig Spielraum bei der Gestaltung der Website hatte, machte ihr die Konzeption dennoch mehr Spaß als das Verfassen von Pressemitteilungen zu diversen LENOPHARM-Produkten. Innerhalb der Vorgaben konnte sie mit graphischen Elementen arbeiten und konzipieren, wie User schnellstmöglich zu den richtigen Informationen gelangten.

      Je länger sie an der Neukonzeption arbeitete, desto mehr Freude machte ihr diese neue Aufgabe und desto mehr Ideen kamen ihr für die Detailgestaltung. Sie hatte ganz vergessen, auf die Uhr zu schauen, und war daher erstaunt, als Jasna Milic plötzlich mit Jacke und Tasche unter dem Arm vor ihr stand und sich ins Wochenende verabschiedete.

      »Länger als bis 15 Uhr arbeite ich heute wirklich nicht«, erklärte sie entschieden. »Nach dieser Horrorwoche haben wir uns nun wirklich etwas Entspannung verdient. – Dass du dieses Wochenende bloß zu Hause bleibst, Nina! Lass dich nicht von Ellen zum Arbeiten verleiten. Irgendwann ist Schluss.«

      »Ich hoffe, es entwickelt sich nicht wieder eine Krise«, bemerkte Nina skeptisch. »Sonst bleibt mir wohl keine Wahl.«

      »Positiv denken!« Jasna grinste. »Also, ich muss jetzt los. Ich habe noch einen Termin beim Frauenarzt.« Jasna winkte ihr zum Abschied kurz zu und verschwand.

      Kaum hatte sich Nina wieder in ihre Arbeit vertieft, klingelte das Telefon. Lilli Muster war am Apparat.

      »Ich rufe an, weil ich dich zu einer kleinen Arbeitsunterbrechung animieren soll.«

      Nina musste unwillkürlich lächeln. Lillis Stimme klang vergnügt und heiter und riss sie aus ihrem Arbeitstrott. Sie kannte Lilli noch nicht besonders gut, aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich bisher über den Weg gelaufen waren, hatte sie einen positiven Eindruck von ihr gewonnen. Sie verstanden sich und waren außerdem im gleichen Alter.

      »Ellen hat der ganzen Abteilung Eis spendiert«, fuhr Lilli nun fort. »Steht bereits bei Stephanie im Vorzimmer für uns bereit.«

      Nina schwieg. Sie war Ellen seit der Telefonkonferenz bewusst aus dem Weg gegangen, was offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Vorstellung, jetzt mit ihr ein Eis zu essen, behagte ihr nicht sonderlich.

      »Für