Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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Pille genommen. Dummerweise eine unserer Pillen – die Fenolane. Unsere Telefonzentrale notiert einstweilen die eingehenden Journalistenanrufe; Brauer ist dabei, eine Hotline für Patientinnen und Ärzte einrichten zu lassen. Wir treffen uns in zwanzig Minuten in Ellens Büro zur ersten Krisenbesprechung. Bitte beeile dich.«

      Nina glaubte, die Welt müsse versinken – und sie mit ihr.

      »Ich … ich … muss, ich … ich bin krank!«

      »Das geht nicht, Nina!« Jasna klang rein gar nicht mehr wie die sympathische Kollegin, die sie geduldig eingeschult hatte. »Wir haben hier eine Krise, es geht um dein Fachgebiet, ich bin nur netterweise schon zur Sitzung unterwegs, weil Ellen mich zusätzlich um Unterstützung gebeten hat. Ich sage es dir im Guten: Beweg deinen Hintern schnellstens ins Büro, oder du wirst sehen, was Ärger bedeutet! Ich bin nicht da, um deine Arbeit zu tun! Bei allem Verständnis, aber du hast mich schon am Mittwoch bei der Feier hängen gelassen!«

      So ist das also bei dir angekommen, schoss es Nina durch den Kopf. Dass ausgerechnet von Jasna dieser Vorwurf kam, traf sie schwer. Doch nun gab es nur den Weg ins Zentrum des Orkans.

      Jasna Milic, Georg Waldmeister von der Medizinabteilung, Lilli Muster, die junge Produktmanagerin von Fenolane, und sogar der Geschäftsführer saßen mit ernsten Gesichtern in Ellen McGills Besprechungsecke, als Nina mit entsetzlichem Magendrücken das Büro betrat. Ellen McGill stand an ihrem Schreibtisch und fischte ein Stück Papier aus dem Drucker. Nina vermied es, sie anzusehen.

      »Endlich«, sagte Jasna bei ihrem Eintreten anstelle eines »Guten Morgen«. Auch die anderen Anwesenden schienen den Morgen alles andere als gut zu finden. Als Nina auf dem Schreibtisch die Titelseiten der dort ausgebreiteten Tageszeitungen sah, wusste sie, warum. Die Geschichte des 18-jährigen Schlaganfall-Opfers schmückte das Deckblatt jeder Zeitung.

      Ellen kam an den Tisch zurück und schwenkte den Ausdruck. »Das ist ORF online. Fenolane ist hier im Titel. Es wird nicht lange dauern, und wir werden von den Medien zerrissen.«

      Plötzlich schien sie Nina gewahr zu werden, die noch immer unschlüssig am Tisch stand. Die Couch war mit Jasna, Waldmeister und Lilli Palmer besetzt; den freien Polsterstuhl hatte Nina als Ellens Platz erkannt.

      »Please, sit down.«

      Erst als sie ihren Satz mit Nachdruck wiederholte, kam Nina der Aufforderung nach. Mit offensichtlichem Unbehagen nahm sie zur Kenntnis, dass Ellen unmittelbar hinter ihr stehen blieb. Stockend berichtete sie auf Englisch, dass Kathrin Hanelka, die Leiterin der Kontrazeptiva-Abteilung, bereits den Außendienst und die wichtigsten Gynäkologen informierte. Waldmeister ergänzte, er habe die Gesundheitsbehörde bereits vor der Sitzung verständigt, und letztendlich sei dieser Fall nur durch die mangelnde Sorgfalt des behandelnden Gynäkologen zu Stande gekommen, der das Thrombose-Risiko nicht abgecheckt habe.

      Ellen McGill schnitt ihm das Wort ab. Das sei für die Medien völlig unerheblich; sie sähen nur eine 18-Jährige, die gelähmt im Rollstuhl sitzt, und die Pille Fenolane, die das verursacht habe.

      Jetzt läutete Ellens Festnetztelefon. Mit wenigen Sätzen war sie bei ihrem Schreibtisch und hob ab. Ihre Miene wirkte noch ernster, als sie zurück zur Gruppe kam.

      »Das war die Telefonzentrale. Inzwischen hat es noch mehr Journalistenanrufe gegeben, alle zu Fenolane. Es ist auch ein privater Radiosender darunter. Wir müssen reagieren.«

      Jasna Milic erhob sich seufzend. »Ich werde die Journalisten erst einmal beruhigen und alle Fragen aufnehmen. Nina kann ja inzwischen ein allgemeines Statement für die Presse formulieren, das wir noch am Vormittag verteilen. Ich nehme an, da müsste ihr jemand als Informant zur Hand gehen. Machst du das, Lilli?«

      Die Produktionsmanagerin verneinte. »Ich muss die Leute vom Notfall-Callcenter auf die Patientenanfragen einschulen.«

      Ninas Magen krampfte sich zusammen. Auch das noch. Sie ahnte bereits, was ihr jetzt bevorstand.

      »Dann macht das Ellen selbst, nehme ich an«, stellte Waldmeister auch schon trocken fest. Wenige Minuten später war Nina mit Ellen alleine.

      Sie verharrte in panischer Erstarrung auf dem Sessel und wagte kaum zu atmen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Was würde sie nun erwarten?

      Es dauerte, bis sie sich bewusst wurde, dass sie nicht die einzige im Raum war, die sich nicht rührte. Ellen stand noch immer hinter ihr und gab keinen einzigen Laut von sich. Dennoch war sie es, die das Schweigen durchbrach.

      »Ich werde eine kleine Einschulung geben«, sagte sie. Ihre Stimme klang blechern. »Über Thrombosen. Ist das okay?«

      Ellen fragte sie, ob ihr eine Einschulung genehm war? Nina wusste nicht, was für sie ein größerer Faktor der Verunsicherung war: Ellens schroffer Befehlston von früher oder die jetzige, gänzlich unerwartete Frage.

      »Ja, danke«, antwortete sie steif und merkte, dass ihre Stimme genauso blechern klang wie Ellens.

      »Möchten Sie Kaffee?«

      Noch so eine freundliche Frage. Ninas Verunsicherung wuchs. Gleichzeitig registrierte sie, dass Ellen sie beharrlich siezte. Wie brachte man das nach einem Orgasmus im Kopierraum fertig?

      »Ja, das … wäre nett.«

      Zu ihrem Erstaunen kümmerte sich Ellen persönlich um den Kaffee. Minutenlang war Nina alleine. Sie sah zu der Munch-Nachbildung und betrachtete das Gemälde aufmerksam. Sie fand das Motiv immer noch entsetzlich. Wieso wollte Ellen freiwillig auf eine vor Verzweiflung schreiende Frau starren, wenn sie von ihrem Notebook aufsah?

      Ellen kam mit einem Tablett zurück, das sie auf den Tisch abstellte. Neben Ninas Kaffee stand eine Kanne Tee. Nina nahm dankbar ihre Tasse entgegen. Sie war froh, sich auf das Kaffeetrinken konzentrieren zu können. Als Ellen sich einschenkte, bemerkte Nina mit Verwunderung, dass deren Hand zitterte. Offenbar war sie nicht als einzige im Raum nervös und angespannt. Die Erkenntnis überraschte sie. War Ellen doch nicht die routinierte Verführerin, für die sie sie gehalten hatte? Oder hatte sie lediglich Angst davor, dass Nina Meldung beim Personalbüro machen und sie wegen eines sexuellen Übergriffes vor Gericht bringen würde?

      Schließlich nahm Ellen mit einem Stapel Unterlagen auf dem Sofa Platz und begann, in einfachen Sätzen über die Entstehung von Thrombosen und den Wirkmechanismus der Pille zu reden. Irgendwann schaffte es Nina, das, was ihr Ellen erklärte, auch geistig aufzunehmen und anschließend beim Verfassen der Pressemitteilung zu verarbeiten. Ellens Korrekturen und Anmerkungen blieben auch diesmal nicht aus, doch wurden sie in einem weit angenehmeren Tonfall vorgetragen als bisher üblich.

      Nina verließ das Büro zusammen mit Jasna erst gegen 22.00 Uhr. Den ganzen Tag über hatten sie Journalisten mit Informationen versorgt und Anfragen beantwortet, Jasna hatte zusätzlich mehrere Radiointerviews gegeben.

      »Manchmal hasse ich diesen Job«, sagte Jasna, als sie vor dem LENOPHARM-Gebäude standen. Die Luft war frisch, aber nicht kalt, der Himmel sternenklar. Nina wurde zum ersten Mal in diesem Jahr bewusst, dass wirklich Frühling war. Selbst am Wochenende, als sie am Neusiedler See und damit mitten in der Natur gewesen waren, hatte sich dieses Frühlingsgefühl nicht bei ihr eingestellt. Für sie war alles grau gewesen, so sehr war sie in ihren Gedanken und Ängsten verhaftet gewesen.

      »Wenn noch mehrere Tage wie dieser folgen würden, würde ich den Job hinschmeißen«, fuhr Jasna fort. »Es ist ein unglaublicher Stress.«

      Nina war überrascht, das zu hören. Sie hatte bisher immer gefunden, Jasna bewältige sämtliche Stresssituationen spielerisch.

      »Wie ging es dir heute mit Ellen?«

      Nina zuckte unwillkürlich zusammen. Warum fragte Jasna danach? Ahnte sie etwas?

      Sie schluckte trocken. »Sie war heute sehr hilfsbereit«, erwiderte sie schließlich wahrheitsgemäß.

      »Sie ist immer sehr hilfsbereit«, meinte Jasna. »Ich weiß, du hast hin und wieder Schwierigkeiten mit ihr. Aber glaube mir, wenn du sie erst besser kennst, wirst du sehen, dass sie ein liebenswürdiger Mensch ist. Sie arbeitet nur zuviel, das ist alles.«

      Nina