Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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an das, was passiert war. Sie hatte ihre eigene Lust befriedigt und rechnete gewiss damit, dass Nina aus Scham über den Vorfall schweigen würde.

      Und darin hatte Ellen leider recht, dachte sie bitter. Sie wünschte in diesem Moment nichts mehr, als jemand anderer zu sein – eine selbstbewusste, starke Nina, die nicht der Spielball anderer Leute war. Eine Nina, die nicht zögerte, sich zu wehren und für ihre eigenen Interessen einzutreten, wenn etwas gegen ihren Willen geschah. Die ihre tausenderlei Ängste und Unsicherheiten ablegen konnte: Dass sie auf andere Leute nicht positiv genug wirkte; dass sie sich irgendwie falsch verhielt; dass sie bei irgendetwas Fehler machte; dass Lukas sie verlassen könne – und vieles mehr. Ich bin das prädestinierte Opfer, sagte sie sich nun am See. Deshalb hat Ellen mich ausgewählt.

      »Nina, du sitzt seit einer Stunde auf dieser Bank und sagst kein Wort«, beklagte sich Lukas, der zwischendurch alleine zum Bootssteg gegangen war, dort altes Brot an Enten verfüttert hatte und eben wieder zurückkehrte. »Was ist denn los?«

      Sie sah ihn an. Tränen glitzerten in ihren Augen.

      »Ich möchte nicht mehr bei LENOPHARM arbeiten«, kam es ihr unwillkürlich über die Lippen.

      Sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Nicht das schon wieder! Müssen wir diese Debatte regelmäßig führen? Ich dachte, du hast dich mittlerweile daran gewohnt.«

      »Es ist schrecklich dort«, sagte sie und starrte wieder auf den See. Würde Lukas sie je verstehen, ohne dass sie ihm von dem Vorfall erzählte? Sie konnte ihm doch nichts erzählen, denn was sollte sie ihm sagen? Es war so grauenhaft, Lukas, so entsetzlich, dass ich einen Orgasmus bekam – etwas, was mit dir zusammen leider noch nie geklappt hat?

      »Wenn es so entsetzlich ist, verstehe ich nicht, warum du so viel Zeit dort verbringst«, kommentierte er sarkastisch. »Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft du am Wochenende dort bist. Es kann doch gar nicht sein, dass es so viel Arbeit gibt.«

      Sie presste die Lippen zusammen. Ihre Augen suchten das Segelboot, das inzwischen nur noch ein kleiner Fleck am Horizont war, und sie wünschte sich an Bord – weg, frei, ohne Sorgen, nur sie, die Ruhe und das Wasser.

      Nach einer Weile sagte sie in die Stille, die zwischen ihnen entstanden war: »Ich werde andere Arbeit suchen.«

      »Das bisschen an Ersparnissen ist aber so gut wie weg«, konterte er unwillig. »Zumal wir doch jetzt diese Waschmaschine gekauft haben.«

      Sie riss den Kopf nach oben und schaute ihn mit großen Augen an. »Wir haben was?«

      »Na, diese Waschmaschine gekauft!«, erklärte er wie selbstverständlich. »Nächsten Mittwoch wird sie geliefert. Mensch, Nina, wir hatten doch darüber gesprochen, dass wir es satt haben, ewig im Waschsalon zu waschen.«

      Nina erinnerte sich dunkel an das Gespräch. Allerdings war es darum gegangen, dass sie Lukas darum gebeten hatte, künftig häufiger den Gang zum Waschsalon zu übernehmen. Schließlich hatte Lukas dazu weit mehr Zeit – vorausgesetzt, er würde nicht bis zehn Uhr früh schlafen. Er hatte daraufhin gekränkt erwidert, dass er nun einmal mindestens acht Stunden Schlaf brauche, und dass alles doch viel einfacher wäre, wenn sie eine eigene Waschmaschine besäßen. Jetzt, wo etwas Erspartes vorhanden war, sollte das ja wohl kein Problem mehr sein.

      Nina hatte ein ausweichendes »Hm« geantwortet, aber eindeutig kein Ja. Es war wirklich nicht ihr Plan gewesen, ihr erstes Erspartes in eine Waschmaschine zu investieren.

      »Das hast du nicht mit mir abgesprochen«, warf sie ihm nun vor.

      »Ach, Nina, mach jetzt doch bitte kein Drama daraus.« Er kräuselte ärgerlich die Stirn. »Diese Waschmaschine ist eine Investition in die Zukunft! Wir brauchen ja nicht jedes Jahr eine. So ein Ding schafft man sich einmal an, und das war’s für Ewigkeiten.«

      Nina erwiderte nichts. Sie fragte sich stattdessen, ob es gut gewesen war, ein gemeinsames Konto anzulegen. Es war seine Idee gewesen, nicht ihre. Er hatte sie mit dem Argument überzeugt, dass sie dann nur einmal Kontoführungsspesen bezahlen mussten. Da er bereits ein Konto bei einer österreichischen Bank hatte, sie aber neu nach Wien gezogen war, hatten sie seine Kontonummer beibehalten und Lukas hatte ihr eine Vollmacht erteilt. Bisher war ihr das nie als ein Problem erschienen – sie hatten ja sowieso nur winzige Summen übrig, falls sie überhaupt im Plus lagen. Jetzt aber stimmte sie dieser Punkt nachdenklich.

      »Willst du jetzt den ganzen Tag auf das Wasser starren, oder gehen wir auch mal gemeinsam spazieren?«, unterbrach Lukas ihr Grübeln.

      Nina erhob sich mit einem unterdrückten Seufzer. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann meinte sie unvermittelt: »Lukas, ich will Ellen McGill nicht wiedersehen. Das ist der Grund, weshalb ich nicht dort bleiben kann. Ich muss kündigen, versteh das bitte!«

      »Also, echt!« Lukas fuhr sich quer durchs Haar – eine Geste, die Nina an ihm nur dann auffiel, wenn er äußerst ärgerlich war. Das kam selten vor, denn gewöhnlich war er ein ruhiger Mensch – ein Grund, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Nun schaute er sie kopfschüttelnd an. »Weißt du eigentlich, dass du seit Wochen nur noch ein Thema hast? Ellen McGill, Ellen McGill!« Er äffte ihre Stimme nach. »Ich komme mir schon langsam vor, als würde ich eine Dreierbeziehung führen! Es vergeht kein Tag, an dem du nicht erzählst, was für schlimme Dinge sie dir angetan hat, wie böse sie geschaut hat, wie sie dich wieder herablassend behandelt hat. Das geht mir auf den Geist, Nina! Du bist total abhängig von den Launen einer komischen Frau, die offensichtlich voller Probleme steckt und sie an dir auslässt. Und weißt du, warum sie das tut, Nina? Weil du dich verhältst wie ein geprügelter Hund, der nur auf Schläge wartet. Wenn du mal beißt, Nina, würde sie sich zusammenreißen!«

      Als er die Tränen sah, die ihr über das Gesicht zu laufen begannen, hielt er inne und atmete tief durch. Er trat dicht an sie heran und legte sanft den Arm um sie.

      »Nina-Maus, es tut mir leid«, flüsterte er ihr schuldbewusst ins Ohr. »Ich wollte dich nicht verletzen. Aber ich finde echt, dass dir diese Frau wichtiger geworden ist, als sie es sein sollte. Es bedrückt mich doch auch, wenn ich sehe, wie sie dir zusetzt. Aber du musst einfach cooler werden und lernen, damit umzugehen. – Weißt du was?« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sah sie mit freudig blitzenden Augen an. »Wenn ich erst mal Musical-Star bin, verdiene ich Geld in rauen Mengen, und du musst nie mehr arbeiten gehen!«

      Nina lehnte sich stumm an ihn. Sie wusste, dass jedes weitere Wort zu noch größerem Unverständnis von seiner Seite geführt hätte. Wie sollte er sie auch verstehen, wenn sie nicht einmal sich selbst verstand?

      Als am Montag der Wecker klingelte, fühlte sich Nina wie gerädert. Sie hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Stunde um Stunde hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt und gegrübelt, wie sie sich einem Wiedersehen mit Ellen McGill entziehen konnte, ohne zu kündigen. Sie war zu keiner zufriedenstellenden Lösung gekommen. Stattdessen ließ das, was im Kopierraum passiert war, sie nicht los. Und obgleich beim bloßen Gedanken an Ellens Berührung eine befremdende Hitze in ihr aufstieg, war es doch die Scham, die alles andere überwog.

      Nina schaltete den Wecker aus und beschloss, sich einen weiteren Tag zum Nachdenken zu gönnen. Sie würde sich krank melden – das gewährte einem peinlichen Wiedersehen zumindest Aufschub. Das schlechte Gewissen, das sie überfiel, versuchte sie sich auszureden. War sie nicht bisher keinen einzigen Tag krank gewesen? Hatte sie nicht mehrere Wochenenden ohne zusätzliche Bezahlung gearbeitet? Und, so unausgeschlafen wie sie war – galt Übermüdung nicht sowieso schon als Krankheit?

      Ihr Entschluss stand fest. Um Lukas nicht zu wecken, ging sie in die Küche, um von dort aus zu telefonieren. Sie suchte gerade den Namen von Brauers Sekretärin im Nummernspeicher, als ihr Handy zu läuten begann.

      Es war Jasna Milic. Ihre Stimme klang atemlos.

      »Morgen, Nina. Bist du schon im Büro?«

      »Nein, ich bin gerade aufgestanden, aber …« Sie wollte ergänzen, dass sie krank sei, doch Jasna kam ihr zuvor.

      »Du musst sofort ins Büro, Nina! Es gibt eine totale Krise. In allen Zeitungen steht es: Eine 18-Jährige