Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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Sie stellte sich Jasnas geschocktes Gesicht vor, wenn sie davon erführe.

      »Es tut mir leid, Nina, wenn ich heute so ungehalten zu dir war«, begann Jasna nun. »Ich weiß wirklich, dass der Job nicht leicht ist für dich. Du hast, wenn wir ehrlich sind, nicht viel Erfahrung im PR-Bereich. Texte schreiben kannst du wunderbar, keine Frage … den Rest musst du dir noch erarbeiten. Ich finde, du machst das für den Anfang gar nicht so schlecht. Du wirst sehen, in einem Jahr bewältigst du den Job mit links.«

      Das zarte Lob kam für Nina gänzlich unerwartet, doch wirklich freuen konnte sie sich nicht. Der Schrecken über Jasnas harschen Morgenappell steckte ihr noch tief in den Knochen und dass sie kein PR-Profi war, wusste sie selbst. Weshalb sie trotzdem von Michaelis eingestellt worden war, hatte sie sich in den letzten Wochen sehr oft gefragt. Je mehr sie über ihn erfuhr, desto unwahrscheinlicher schien es ihr, dass sie diese Entscheidung bloßer Sympathie verdankte. Michaelis war einer der Hauptaktionäre bei LENOPHARM und hatte die österreichische Landesgesellschaft mehrere Jahre als Geschäftsführer geleitet. Zuvor war er für die Firma in Südafrika, Australien, den USA und Kanada führend tätig gewesen. Hinter seinem stets freundlichen und lockeren Lächeln verbarg sich ein knallharter Geschäftsmann, der genau wusste, was er wollte. Michaelis war Unternehmer, ein Mann, der Umsatzvorgaben dirigiert hatte und in wirtschaftlichen Kennzahlen dachte. Als sie Michaelis vor einiger Zeit im Dialog mit dem Geschäftsführer erlebte, wirkte der Geschäftsführer neben ihm wie ein eingeschüchterter Schuljunge.

      »Warum hat er noch so viel mitzureden, wenn er doch in Pension ist?«, hatte Nina danach gefragt.

      »Es fällt ihm wahrscheinlich schwer, Abschied vom Geschäftsleben zu nehmen«, hatte Jasna schulterzuckend geantwortet. »Außerdem hat er als einer der Großaktionäre ein berechtigtes Interesse, dass die Umsätze passen.«

      Und dann stellt er eine Kinderbuchautorin ein, dachte sich Nina auch jetzt wieder, als sie sich an das Gespräch erinnerte. Das passt doch nicht ins Bild.

      »Ich muss dir noch etwas sagen, Nina.« Jasna wurde sehr ernst. »Du bist die erste, die es erfährt – nach Brauer, dem musste ich das ja melden. Ich bin schwanger.«

      Nina sah Jasna erstaunt an. Vergebens suchte sie ein Zeichen der Freude in deren Gesicht. »Wünschst du dir das Kind nicht?«, fragte sie vorsichtig.

      Jasna zuckte mit den Schultern.

      »Es war nicht geplant. Mirko und ich wollten keine weiteren Kinder. Außerdem handelt es sich nicht um ein Kind. Ich bekomme Zwillinge.«

      »Oh!«

      »Aber ich werde nicht abtreiben«, sagte Jasna. Nina hatte den Eindruck, dass sie nicht mehr zu ihr sprach, sondern zu sich selbst. »Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe.«

      »Will dein Mann das etwa?«

      Jasna lachte. Es klang bitter. »Mirko lässt mich das ganz allein entscheiden. Er tut so, als würde ihn das alles nichts angehen, verstehst du?«

      Nina verstand das durchaus nicht. Was war das für ein Mann, der keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen wollte und seine Frau in dieser Situation allein ließ?

      »Meine Schwiegermutter macht Terror«, klärte Jasna sie auf. »Für sie ist es ein Drama, wenn ich zu Hause bleiben muss, weil Mirko dann Alleinverdiener ist. Und das bedeutet, dass er kein Geld mehr nach unten schicken kann.«

      Mit »unten« meinte Jasna Kroatien, wie Nina aus früheren Gesprächen wusste. Während Jasnas Familie schon frühzeitig emigriert war und sie die ganze Schullaufbahn und Ausbildung in Wien durchlaufen hatte, war ihr Mann Mirko erst während des Jugoslawien-Krieges nach Österreich geflohen. Er hatte wie Jasna in Wien Medizin studiert, im Gegensatz zu ihr das Studium aber nicht abgebrochen und arbeitete nun im AKH, dem Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, als Chirurg.

      »Und deine Schwiegermutter verlangt deshalb, dass du abtreibst? Damit ihr beide Geld nach Hause bringt und dein Mann ihr weiterhin etwas davon schicken kann?«

      »Sie verlangt nicht wortwörtlich, dass ich abtreibe«, stellte Jasna klar. »Sie will bloß nicht, dass unser zweites Einkommen wegfällt, das ist alles.«

      »Warum müsst ihr sie denn überhaupt unterstützen – ich verstehe das nicht ganz.«

      »Das kannst du auch nicht verstehen, Nina, weil du die Umstände nicht kennst. Du siehst Kroatien nur so, wie es alle im Urlaub sehen: ein schönes Land mit tollen Stränden und einer Wirtschaft, die tendenziell im Aufschwung ist. Aber vom Aufschwung profitieren nur wenige. Und gerade, was den Tourismus oder die Immobilienbranche betrifft, bleibt nicht viel Geld im Land. Es gibt Inseln, die gehören gar nicht mehr zu Kroatien, wenn man es genau nimmt. Die meisten Grundstücke sind in österreichischer oder deutscher Hand. Während des Krieges haben fremde Investoren gekauft, soviel sie konnten – weil sie dachten, dass der Krieg in absehbarer Zeit ein Ende hat. Und unsere Leute waren bereit, all ihren Besitz zu verkaufen – in der Annahme, dass der Krieg noch ewig dauern wird. Sie brauchten das Geld, um ins Ausland zu flüchten oder ihre Kinder zu unterstützen, die bereits ins Ausland geflüchtet waren. Die Eltern meines Mannes haben es genauso gehalten. Ohne ihre Hilfe hätte Mirko nicht Arzt werden können. Jetzt sind sie alt und arm, und natürlich erwarten sie Unterstützung. Ohne Mirkos finanzielle Hilfe sinkt ihr Lebensstandard drastisch.«

      Nina versuchte einzuordnen, was sie gerade erfahren hatte. Noch nie war ihr ernsthaft in den Sinn gekommen, dass es in anderen Familien ganz anders laufen könnte als in ihrer eigenen. Weder ihr Vater noch ihre Mutter Clara hatten je ein regelmäßiges Einkommen gehabt. Nina konnte sich sowohl an die zahlreichen Gänge zum Arbeitsamt, bei denen sie ihre Mutter begleitet hatte, als auch an das Schlange Stehen bei der Sozialbehörde erinnern. Sie können mir hier doch sowieso keinen Job vermitteln, hatte Clara selbstbewusst den wechselnden Beratern erklärt. Ich bin freischaffende Künstlerin. Obwohl sie sich damit selbst zur potentiellen Arbeitslosenhilfe-Empfängerin deklassierte, hatte sie es immer wieder geschafft, ihre jeweiligen Berater geschickt um den Finger zu wickeln und die ihr angebotenen Jobs mit dubiosen Ausreden auszuschlagen. Nina hatte sie dafür stets bewundert, doch mit zunehmendem Alter waren ihr die Besuche beim Sozialamt immer peinlicher geworden.

      »Vielleicht kannst du ja gleich nach der Geburt wieder arbeiten gehen«, schlug sie vor.

      Jasna schnaubte. »Du kannst mir glauben – nichts würde ich lieber tun als genau das. Aber wer, glaubst du, kümmert sich den ganzen Tag um drei Kinder, darunter auch noch Zwillinge? Kinderbetreuung ist nicht nur schwer zu bekommen, sondern auch teuer zu bezahlen. Wir müssten so viel Geld für die Kinderbetreuung zahlen, dass für meine Schwiegereltern wieder nichts übrig bliebe.«

      »Und wenn du dir die Betreuung mit Mirko teilst?«

      Diesmal lachte Jasna zu Ninas Erstaunen herzhaft. »Du kennst die Männer nicht! Mirko und auf Kinder aufpassen, das funktioniert nicht. Das würde er nie tun.«

      »Lukas schon«, kam es Nina über die Lippen, doch im selben Augenblick fragte sie sich bereits, ob dem wirklich so war. Würde Lukas freiwillig seine Musical-Ausbildung auf Eis legen und stattdessen ein Baby oder Kleinkind betreuen, damit sie arbeiten gehen konnte?

      »Na, dann hast du Glück mit deinem Lukas!«, stellte Jasna trocken fest. »Üblich ist das nicht, glaube mir. Aber lassen wir das Thema. Ich finde schon eine Lösung. Ich will dich nicht damit belasten. Du hast sicher eigene Probleme – jeder hat das.«

      Gedankenverloren ging Nina zur U-Bahn-Station. Auf einmal schienen ihr ihre eigenen Probleme winzig und unwichtig.

      Jasna hatte einen Mann, der ihr in schwierigen Situationen nicht zur Seite stand, und eine Schwiegermutter, der ihr Lebensstandard anscheinend wichtiger war als ihre Enkel.

      Und sie hatte lediglich mit einer Frau geschlafen, dabei im Grunde Spaß gehabt und heute feststellen können, dass sie entgegen ihren Erwartungen das erste Zusammentreffen nach diesem Ereignis ohne Nervenzusammenbruch überstanden hatte.

      Ellen McGill hatte offenbar so wenig Interesse wie sie, diesen Zwischenfall zu thematisieren. Das war eine Lösung, mit der sie zumindest versuchen konnte, in dieser Firma noch eine Zeit lang zu