Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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noch ein paar nette Worte für sie fand: »Du siehst heute übrigens wirklich gut aus. Dein neues Kleid steht dir ausgezeichnet.« Sie beugte sich zu Nina hinüber und flüsterte ihr – für Hans unhörbar – ins Ohr: »Ein bisschen tief dekolletiert vielleicht für ein konservatives Unternehmen wie LENOPHARM, aber ich bin sicher, viele Männerherzen werden bei deinem Anblick heute höher schlagen.«

      Nina bedankte sich artig für Jasnas Kompliment, doch auf dem Weg ins Büro wuchs ihre Verunsicherung, was ihr Outfit betraf. Sie hatte sich das Kleid extra für diesen Event gekauft. Schließlich konnte sie weder in Jeans noch in ihrem schwarzen Alltagsrock erscheinen. Das Kleid war dunkelrot, am Busen gerafft, und betonte ihre schlanke Figur sehr vorteilhaft. Es war in der Tat recht tief dekolletiert, und noch an der Kasse hatte Nina Zweifel gehabt, ob es seriös genug für diesen Abend war. Lukas hatte sie jedoch ermutigt: »Zeig es diesen Pillenspießern mal richtig. Es muss ja nicht jede herumlaufen wie ihre eigene Oma.«

      Nina fand die drei losen Blätter auf Jasnas Schreibtisch und ging zum Kopierraum. Schon als sie die Türe aufstieß, leuchtete ihr ein Din A4-Blatt entgegen, das jemand am Kopierer befestigt hatte: – DEFEKT –.

      Nina seufzte. Auch das noch.

      Die Hausdruckerei im Parterre war verschlossen, also fuhr sie in den vierten Stock und steuerte den Kopierraum an. Zu ihrer Überraschung war die Türe verschlossen.

      Erst jetzt fiel es ihr wieder ein, dass der Raum über Nacht verschlossen gehalten werden sollte. So hatte es vor kurzem in einem Rundmail geheißen; auf dem Fax-Gerät im vierten Stock, der zugleich die Geschäftsführungsebene war, erfolge der Eingang vertraulicher Faxe.

      Wie sie unschlüssig im Gang stand und sich fragte, was Putzfrauen wohl mit Papieren zu Arzneimittelzulassungen oder Vertriebsvereinbarungen anfangen sollten, fiel ihr ein Lichtschein auf, der durch das Sichtfenster zum Gang aus Ellen McGills Büro drang. Sie schluckte.

      Sollte sie fragen, oder sollte sie nicht? Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich selbst. Sie wird dich nicht fressen.

      Trotzdem fühlte sie wieder jenes inzwischen schon zu vertraute Magendrücken, als sie zögernd Stephanies Vorzimmer durchquerte und an Ellens halb angelehnte Türe klopfte.

      »Come in.« Ellen verstaute gerade ihren Laptop in der Transporttasche. Sie war offensichtlich dabei, ihren Bürotag zu beenden.

      »Ich muss … ich … ich wollte eine Kopie machen«, begann Nina und ärgerte sich selbst darüber, dass sie ganze drei Anläufe brauchte, um diesen harmlosen Satz gegenüber Ellen McGill über die Lippen zu bringen. »Könnte ich kurz den Schlüssel zum Kopierraum bekommen?«

      Ellen sah auf.

      Einen Moment lang schien sich so etwas wie Erstaunen in ihren Gesichtszügen widerzuspiegeln, als sie Nina in ihrem festlichen Aufzug gewahr wurde. Doch Sekunden später war ihr Gesicht wieder zu einer undurchdringlichen Maske geworden. Sie öffnete eine kleine silberne Box, die wie ein kunstvolles Accessoire auf ihrem Schreibtisch platziert war. Mit dem Schlüssel in der Hand trat sie dicht an Nina heran – so dicht, dass Nina unwillkürlich zurückweichen wollte, doch seltsamerweise gehorchten ihr die Beine nicht. Es war, als würden ihre Füße am Boden kleben.

      Ellen hielt ihr den Schlüssel vor die Nase.

      Unsicher sah Nina auf. Ihre Augen trafen sich.

      Was für hübsche Augen sie hat. Katzenaugen. So geheimnisvoll und tief, dachte Nina verwirrt.

      »Take it«, sagte Ellen nun, und es klang wie ein Befehl.

      Schnell ergriff Nina den Schlüssel und ging.

      Eine knappe Stunde später kam Nina in ihrer Wohnung an. Sie stellte erleichtert fest, dass Lukas noch nicht von seinem Treffen mit den Freunden vom Musical zurück war. Sie hätte es nicht ertragen, ihm in dem Zustand, in dem sie sich befand, gegenüberzutreten.

      Ihr Make-up war verwischt; ihre Steckfrisur hatte sich aufgelöst. Die ganze Taxifahrt über hatte sie lautlos geweint. Der Taxifahrer hatte immer wieder beunruhigt in den Rückspiegel geschaut, aber keine Fragen gestellt. Nina war froh darüber. Was hätte sie sagen können?

      Sie wusste doch nicht einmal, was sie denken sollte!

      Warum hatte Ellen McGill das getan?

      So muss sich eine Frau nach einer Vergewaltigung fühlen, schoss es Nina durch den Kopf. Benutzt. Ausgeliefert. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als ihr klar war, dass der Vergleich hinkte. Ellen hatte sie letztendlich zum Höhepunkt gebracht. Es stand wohl kaum im Drehbuch einer potenziellen Vergewaltigung, dass das Opfer einen Orgasmus bekam.

      Ellen hatte sie geküsst, und sie hatte den Kuss erwidert. Auch das klang nicht nach Opferrolle. Ihre Tränen flossen, weil sie sich schuldig fühlte – schuldig, dass sie auf etwas eingestiegen war, von dem sie selbst nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Sie hätte schreien sollen, davon laufen können. Stattdessen war sie in Ellens Händen zu Wachs geworden und wollte nur noch eines: von ihr überall berührt werden.

      Nina weinte, weil ihre Welt in Aufruhr war, weil sie nicht wusste, warum sie so viel empfunden hatte, weil sie sich von Ellen McGill überrumpelt fühlte und weil es sie verletzt hatte, dass deren einziger Kommentar »Oh, shit!« gelautet hatte. Aber sie weinte auch, weil sie nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte. Wie würde sie dieser Frau je wieder gegenübertreten können?

      Nachdem sie sich ausgiebig ausgeweint hatte, dröhnte in ihrem Kopf ein innerer Presslufthammer. Im Badezimmerspiegel schaute sie ein übel verquollenes Gesicht an. Sie schlüpfte aus Kleid und Slip und stieg in die Duschkabine.

      Das warme Wasser lief über ihren Körper; sie seifte sich ein, um Ellen McGills Spuren abzuwaschen, so als wäre sie dadurch gebrandmarkt und beschmutzt, doch während sie die Hand zwischen ihre Beine gleiten ließ, erinnerte sie sich an das erregende Gefühl, das Ellens Berührung hervorgerufen hatte, und sie spürte, wie sich trotz des Wassers, das ihren Körper in Rinnsalen hinablief, schon wieder eine Nässe ganz anderer Art in ihrer Mitte bemerkbar machte.

      Eilig drehte sie die Dusche ab. Mit einem verzweifelten Schluchzer sprang sie heraus und wickelte sich in ein Handtuch und dann in den Morgenmantel.

      Als Lukas gegen Mitternacht von seinem Treffen zurückkam, fand er sie mit angewinkelten Knien und angespannten Gesichtszügen stocksteif auf dem Sofa sitzend vor. Sie sah aus, als hätte sie sich lange nicht von der Stelle bewegt.

      »Nina, du bist schon da? Ich dachte, heute steigt die ganz große Party bei den Pillendrehern?«

      Er wollte ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Lippen drücken, doch Nina drehte rasch ihr Gesicht zur Seite. Sein Kuss landete auf ihrer Wange.

      Irritiert sah er sie an.

      »Was hast du?«

      »Nichts.« Als er sie weiterhin skeptisch musterte, setzte sie hinzu: »Ich bin müde, und du riechst nach Rauch.«

      Er gab sich mit der Erklärung zufrieden.

      Sie saßen auf einer Holzbank und starrten auf den See. Die Frühlingssonne ließ das Wasser blitzen wie eine Platte glänzender Edelsteine.

      An diesem Sonntag hatten sie es endlich gemeinsam geschafft: mit dem Zug an den Neusiedler See zu fahren und dort einen Tag zu verbringen. Doch nun, da es soweit war, konnte sich Nina nicht darüber freuen. Sie war nur körperlich anwesend. Ihr Innerstes befand sich derzeit in einem undurchsichtigen Nirwana von Gedanken und Ängsten, die sich ausschließlich um Ellen McGill und das Erlebnis im Kopierraum drehten.

      Wenn ich es dem Personalchef melden würde, würde er mir sowieso nicht glauben, vermutete Nina. Niemand würde der immer so selbstbeherrschten Ellen etwas Derartiges zutrauen. Sie selbst dagegen würde als Lügnerin hingestellt werden. Und selbst wenn ihr geglaubt wurde – sie hatte sich doch nicht gewehrt! Ohne Zögern war sie auf Ellens Berührungen eingestiegen. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass Ellen die Lust, die sie dabei empfunden hatte, nicht verborgen geblieben war. Ja, eben darum hatte sie weitergemacht.

      Wie viele Kolleginnen hatte sie wohl schon in dieser