Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
Скачать книгу
er unbedingt sehen wollte!

      Doch Ellen McGill machte eine Miene, die keinerlei Einwände duldete.

      Am Donnerstag wurde bekannt, dass Dorina Eisenfuss’ Ableben in keinem Zusammenhang mit ihrer Reroxin-Behandlung stand. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin, die aufgrund des Mediendrucks eine Obduktion zur Klärung der Todesumstände vornahm, ließen daran keinen Zweifel. Unterstützt von einer Gruppe Forscher und Antibiotika-Experten der LENOPHARM-Konzernzentrale, konnte am selben Tag noch eine Pressemitteilung verschickt werden, die die Mängel der in THE LANCET veröffentlichten Ergebnisse schonungslos aufdeckte und die Publikation massiv angriff. Man werde sich in den nächsten Monaten dennoch weiter mit der Studie auseinandersetzen, so lautete der letzte Satz der Pressemitteilung, denn die Patientensicherheit stehe für LENOPHARM schließlich an erster Stelle.

      Nina fühlte sich zu diesem Zeitpunkt bereits wie eine wandelnde Leiche: Sie wusste nicht mehr, mit wie vielen Journalisten sie inzwischen telefoniert hatte, wie sie jemals wieder durchschlafen sollte, ohne nachts von Alpträumen aus dem Schlaf gerissen zu werden, und ob ihr Nachname wirklich noch »Blume« und nicht »Reroxin« lautete. Während sie glaubte, im Reroxin-Strudel nach unten gerissen zu werden und zu ertrinken, schien diese Causa die normale Geschäftstätigkeit ihrer Kollegen nicht sonderlich zu beeinträchtigen. Besonders Ellen McGill wirkte jeden Tag wie aus dem Ei gepellt, ausgeschlafen und professionell wie eh und je, und Georg Waldmeister von der Medizin-Abteilung bemerkte trocken: »Irgendwann geht auch das vorbei.«

      Nina dagegen musste vor der Geschäftsführung boulevardeske Schlagzeilen wie »Hat LENOPHARM die Todeskapseln?« und »Reroxin macht alle hin« rechtfertigen. Der Inhalt der Artikel war gar nicht so negativ, wie die Schlagzeile vermuten ließ, aber der Geschäftsführer interessierte sich nur für die Überschrift, nicht für den Rest.

      Nach dem ersten Auftritt in seinem Büro war Nina vor Jasna Milic in Tränen ausgebrochen. Sie wusste nicht mehr, wer schlimmer war: der arrogante Geschäftsführer oder Ellen McGill. Jasna hatte sie getröstet und lapidar hinzugefügt: »Du musst dir um deinen Job keine Sorgen machen. Der jetzige Geschäftsführer ist sowieso nur eine Gallionsfigur. Die Entscheidungen trifft nach wie vor Michaelis.«

      Normalerweise hätte Nina nachgefragt, was genau sie damit meine, doch die Reroxin-Krise nahm sie zu stark in Anspruch, um sofort nachzuhaken.

      Punkt Mitternacht hatten sie das Licht gelöscht; ein paar Minuten später streckte Lukas die Hand nach Nina aus und zog sie an sich. Nina spürte sein Begehren, doch sie selbst fühlte sich nur müde und abgeschlagen. Sie ließ es zu, dass er ihren Busen streichelte, öffnete automatisch den Mund, als er sie küsste, und leistete erst schwachen Widerstand, als er sich schließlich auf sie legte.

      »Lukas – nein. Ich bin heute so müde.«

      »Aber Nina-Maus, schon wieder? Gestern wolltest du auch nicht. Es ist fast zwei Wochen her, dass wir das letzte Mal …«

      »Es tut mir leid«, unterbrach sie ihn leise und fühlte sich sofort schuldig. »Es ist nur so: Ich bin wirklich völlig erschöpft.«

      »Du wirst dort wirklich ausgenutzt, mein süßer Schatz«, bemerkte Lukas und begann Ninas T-Shirt nach oben zu schieben und ihre nackte Haut mit Küssen zu bedecken. »Das darfst du dir nicht gefallen lassen. Du musst dich wehren.« Er rutschte an ihr nach oben und begann, an ihrem Ohrläppchen zu knabbern. Nebenbei ließ er seine Hand zu ihren Brüsten gleiten.

      »Lukas … bitte … ich will das nicht mehr«, brach es aus Nina hervor.

      Lukas rutschte abrupt von ihr weg und starrte sie schockiert an. »Du willst nicht mehr mit mir schlafen?«

      Nina setzte sich auf und knipste die Stehlampe neben der Ausziehcouch an. »Nein, das meinte ich nicht«, beeilte sie sich zu sagen, obgleich sie in diesem Moment nicht sicher war, ob sie es nicht doch meinte. Sie hatte sich in letzter Zeit zunehmend lustlos gefühlt. Je erschöpfter sie wurde, desto weniger hatte ihr der Sex mit Lukas gefallen. »Ich will den Job nicht mehr! Ich halte das nicht länger aus. Ich ertrage weder die Arbeit noch diese McGill.«

      »Mensch, Nina, darüber haben wir doch schon tausendmal gesprochen«, erwiderte Lukas. Seine Stimme klang genervt. »Wir brauchen das Geld.«

      »Lukas, ich kann nicht mehr, ehrlich. Die letzte Woche war ein absoluter Horror für mich. Wir schaffen das schon finanziell. Ich werde mich anstrengen und wirklich versuchen, Aufträge zu bekommen. Ich werde mich bei allen möglichen Agenturen bewerben. Vielleicht kann ich ja auch für eine Zeitung schreiben.«

      »Nina, bitte, das hast du noch nie gemacht – für eine Zeitung schreiben. – Wo willst du dich denn bewerben? Bei der KRONE? Oder beim STANDARD?«

      »Ich weiß nicht. Irgendwo halt.« Nina fühlte sich komplett hilflos. »Vielleicht … kannst du nicht doch sehen, ob du einen Job findest? Vielleicht gibt es ja irgendetwas, wo du flexibel sein kannst. Oder von zu Hause aus arbeiten.«

      »Aber Nina! Die Diskussion hatten wir doch auch schon.« Lukas schob schmollend seine Unterlippe nach vorne. »Glaubst du wirklich, dass ich noch Zeit finde, irgendeinen Job zu machen – zusätzlich zu meiner Ausbildung? Nina, ich bin wirklich voll erledigt, wenn ich nach Hause komme. Ich weiß nicht, wie du dir meinen Alltag vorstellst, aber Tanz- und Gesangsunterricht sind nicht immer ein irres Vergnügen.«

      »LENOPHARM und Ellen McGill sind auch kein Vergnügen«, erwiderte Nina leise. Sie sah ihn flehend an. »Bitte, Lukas, verstehe mich doch. Lass uns eine Lösung finden. Morgen läuft meine einmonatige Probezeit aus; es ist die letzte Möglichkeit für mich, fristlos zu kündigen.«

      Lukas blickte sie verständnislos an. »Und dann willst du jetzt auf die Schnelle irgendeine unsinnige Entscheidung treffen, die du sicherlich bald bereust? Kündigen kannst du doch immer noch. Dann gibt es wenigstens während der Kündigungsfrist auch noch Kohle. – Nina, wir können uns echt nicht leisten, dass du deinen Job aufgibst! Wie sollen wir sonst die Wohnung halten?«

      »Bevor ich nach Wien kam, ging es doch auch. Da hast du zweimal die Woche bei Starbucks gearbeitet!«

      »Aber damals habe ich in der WG gewohnt, wenn du dich erinnerst. Da hat das monatliche Geld meiner Eltern auch gereicht. Du wolltest ja eine eigene Wohnung.«

      Was er sagte, war richtig: Nina hatte wirklich nicht vorgehabt, längerfristig mit Marga und zwei anderen Freunden aus der Musicalklasse in einer Wohnung in Wien-Meidling zu wohnen, in der sich das Altpapier von fünf Jahren im Vorraum türmte und in der man einen Slalom um leergetrunkene Weinflaschen machen musste, um über den engen Gang in die verschiedenen Zimmer zu gelangen. Lukas’ Zimmer war zudem klein und dunkel gewesen. Sie hatten dort zwei Monate gemeinsam gewohnt, dann hatte Nina es nicht mehr ausgehalten. Margas lange Haare in der Dusche, Tims Angewohnheit, beinahe jede Nacht ein anderes Mädchen in die Wohnung zu schleppen, und Lucillas notorische Weigerung, ab und zu auch einmal den Müll zu entleeren, hatten ihr das WG-Leben gründlich vermiest.

      »Ich wollte das auch«, bestätigte Nina. »Aber ich bin schon davon ausgegangen, dass auch du weiter arbeitest und wir die Sache gemeinsam finanzieren. Ich kann das nicht alleine tragen.«

      »Nein, Nina: Du willst es nicht alleine tragen.« Lukas schnitt ein beleidigtes Gesicht. »Dass du es kannst, hat sich ja nun gezeigt. Wenn dein nächstes Gehalt kommt, sind wir endlich schuldenfrei, stimmt’s?«

      Sie nickte, fühlte sich aber verletzt und betrogen. Irgendetwas lief hier ziemlich falsch, das war ihr klar, doch ihr fehlten die Worte und der Mut, es zu benennen. Vor allem liebte sie Lukas. Sie wollte keinen Streit.

      »Na, siehst du. Und diesen tollen Job willst du aufgeben, nur weil es dir im Moment ein bisschen zu stressig ist? – Also das kann ich wirklich nicht kapieren! Wie willst du ein Leben mit mir aufbauen, wenn du bei den kleinsten Problemen die Flinte ins Korn wirfst?«

      Nina schluckte trocken.

      »Schon gut«, meinte er und klang nun wieder versöhnlicher. »Aber das mit dem Stress wird sicher besser. Und am Wochenende kannst du dich mal richtig erholen. Wenn du willst, können wir ja zum Neusiedler See fahren. Er ist zwar nicht mehr gefroren, aber wir könnten uns dort einen netten