Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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ähnliche Inhalte, und so war sie noch immer mit deren Durchsicht beschäftigt, als Jasna Milic ins Büro kam und mit beschwingter Stimme einen wunderschönen guten Morgen wünschte.

      Nina war froh, Jasna als Kollegin zu haben. Sie mochte ihre offene Art und die Fröhlichkeit, die sie ausstrahlte. Jasna wirkte auf Nina immer so, als käme sie frisch aus einem traumhaften Urlaub. Jasna war groß, wirkte etwas grobschlächtig und war nicht das, was auf den ersten Blick als Schönheit betrachtet wurde, doch für Nina zählte allein die positive Energie, die sie ausstrahlte.

      Schon am ersten Tag hatte Nina einen Anflug von Panik verspürt, als sie sich erstmals tiefer mit LENOPHARM und seinen Produkten auseinandersetzen musste. Kontrazeptiva, Antiinfektiva, Antidepressiva – die Begriffe flogen ihr um die Ohren wie Sandkörner im Wirbelsturm. Und diese Wörter, für Nina im Augenblick nichts anderes als leere Begriffshülsen, waren identisch mit den Aufgabengebieten, die sie künftig durch PR-Arbeit unterstützen sollte.

      Am ersten Tag hatte sie Jasna gefragt, was denn Kontrazeptiva seien.

      Jasna hatte geschockt darauf reagiert. »Was, das weißt du nicht? Hast du noch nie die Gebrauchsinformation zu deiner Pille gelesen? Orale Kontrazeptiva, das ist im Grunde nichts anderes als orale Verhütung, also die Pille.«

      »Ich vertrage die Pille nicht«, hatte Nina zugegeben. »Wir nehmen ein Kondom oder verhüten natürlich.«

      Jasna hatte herzhaft gelacht und ihr erklärt, es handele sich hierbei um nichts anderes als um einen Oberbegriff für die verschiedenen Anti-Baby-Pillen am Markt.

      Nina war froh, dass Jasna sich in allem gut auskannte, denn so konnte sie ihr zu all ihren Fragen unkompliziert und rasch die richtigen Antworten liefern und sie durch den steinigen Alltag bei LENOPHARM lenken. Jasna war seit fast zehn Jahren bei der Firma beschäftigt. Bis vor Kurzem hatte sie die Öffentlichkeitsarbeit für Ninas Bereiche zusätzlich zu ihren jetzigen PR-Agenten, die die OTC-Sparte von LENOPHARM betrafen, betreut. Doch das sei auf Dauer zu viel geworden, gab sie gegenüber Nina zu. Daher habe man die Aufgabengebiete getrennt und eine Unterstützung fürs Pressebüro ausgeschrieben.

      »Wir haben schon drei Monate gesucht«, erzählte Jasna, »und über 200 Bewerbungen gesichtet.«

      Nina fragte sich, warum bei 200 Bewerbern die Wahl ausgerechnet auf sie gefallen war, die nicht wusste, was Kontrazeptiva sind und die erst von Jasna erfuhr, dass OTC für »over the counter« stand und es sich dabei um Medikamente handelte, die in der Apotheke ohne ärztliches Rezept zu kaufen waren.

      Auch heute erwies sich Jasna wieder als geduldige und einfühlsame Helferin. Noch ehe sie ihren eigenen Computer anschaltete, sah sie mit Nina den Maileingang durch. Und plötzlich lösten sich die Rätsel hinter den Mails: Die CI-Richtlinien für die Produkt-Website fanden sich in einem 80-seitigen Skript, das auf dem PC abgespeichert war. Den stilistischen »Gegencheck« des Textes, der als Advertorial in einem Fachmagazin platziert werden sollte, machten sie und Jasna gemeinsam, und Nina speicherte für sich ab, worauf es bei dieser Art von Text ankam.

      Die Anfrage mit dem Text zum Thema »Antiinfektiva und Patientencompliance« wies Jasna ab mit den Worten: »Da soll er sich an seine Agentur wenden; das Marketing hat Geld genug. Texte für Fachmedien sind nicht unsere Aufgabe. Wir machen PR für Laienmedien.«

      Mit Laienmedien meinte sie Tageszeitungen, Magazine, Illustrierte und den Rundfunk. Für Nina bekam der Job allmählich Kontur. Und trotzdem fragte sie sich zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit, weshalb unter 200 Bewerbungen ausgerechnet sie diese Stelle erhalten hatte. Es war die klassische Fehlbesetzung.

      Ihre Verzweiflung stieg, als sie bis zehn Uhr gerade mal zwanzig Mailanfragen beantwortet hatte, während Jasna ihr nicht nur zur Hand gegangen war, sondern nebenbei auch noch zwei Pressetexte verfasst und einen davon auch schon verschickt hatte.

      »Das wird schon«, meinte Jasna aufmunternd. »Aller Anfang ist schwer. – So, und jetzt machst du sowieso mal ein bisschen Pause, weil du nämlich jetzt deinen Vorstellungstermin bei Ellen McGill hast. Wird wirklich allerhöchste Zeit, dass ihr euch kennenlernt, schließlich wirst du mit ihr am engsten zusammenarbeiten.«

      Ellen McGill – der Name war in ihrer Gegenwart schon öfter gefallen; Nina hatte auch gesehen, dass sie bei manchen Mails, die die verschiedenen Produktmanager an sie geschickt hatten, einkopiert war. Bisher hatte sie dieser Dame keine Beachtung geschenkt. Dass sie deren engste Mitarbeiterin sein würde, war ihr neu.

      »Ellen ist die Marketing- und Vertriebsleiterin der Pharma-Abteilung«, erklärte Jasna hilfsbereit, als sie die Verwirrung in Ninas Gesicht bemerkte. »Und Pharma umfasst deine drei Aufgabengebiete: Antiinfektiva, Antidepressiva und Kontrazeptiva. Ellen ist also die Chefin von Peter Weidenreich, Eva Gutenberg und Kathrin Hanelka, den jeweiligen Abteilungsleitern, und den Produktmanagern, die unter ihnen arbeiten. Du kannst dich sicher an Peter und Kathrin erinnern – mit den beiden waren wir doch gestern in der Kantine.«

      So viele Namen, so viele Strukturen … Nina verband mit sämtlichen Namen, die ihr genannt worden waren, im Moment kein Gesicht. Bei LENOPHARM in Wien arbeiteten derzeit 160 Mitarbeiter. Das konnte lustig werden.

      Während sie auf dem Weg in das obere Stockwerk waren, beschäftige Nina bangen Herzens nur ein einziger Gedanke.

      »Ist Ellen McGill Engländerin?«

      »Nein, Amerikanerin.« Jasna ahnte nichts von den Ängsten, die ihre Begleiterin quälten. »Sie ist vor sieben Jahren zu LENOPHARM nach Österreich gekommen.«

      »Spricht Sie Deutsch?«

      »Sie spricht lieber Englisch, aber sie kann auch sehr gut Deutsch. – Hallo, Stephanie, hier sind wir …«

      Jasna und sie hatten ein Büro betreten, das offensichtlich das Vorzimmer eines größeren Büros darstellte. Inmitten von zahlreichen Pflanzen saß eine kleine, mollige Frau mittleren Alters und schaute sie freundlich an.

      »Das ist Stephanie Müller, Ellens Sekretärin und leidenschaftliche Hobby-Botanikerin, wie du siehst. – Stephanie, das ist Nina Blume. Sie hat jetzt einen Termin mit Ellen.«

      Stephanie streckte Nina die Hand entgegen und begrüßte sie mit den Worten, dass sie gerne »du« sagen könne. Dann meine sie mit Bedauern: »Tut mir leid – Ellen ist noch nicht da; sie ist noch in einer Sitzung. Aber ihr könnt gerne einstweilen in ihrem Büro Platz nehmen; sie müsste jeden Augenblick kommen.«

      Ellens Büro war größer als Ninas gesamte Wohnung. Die Büromöbel eindeutig Designerstücke, maßangefertigt, mit geschwungenen Glasplatten und kunstvoll gedrechselten Aluminiumstützen. Keinerlei Pflanzen. Statt eines Besprechungstisches eine Sofaecke aus weißem Leder und ein großer Beistelltisch aus schwarz lackiertem Holz. Über dem Schreibtisch hing ein aus kleinen Steinen zusammengesetzter Wandschmuck – Ying und Yang. Gut und Böse. Am Fensterbrett ragte eine schlanke Skulptur aus Stein und Holz auf.

      Auf dem Schreibtisch befanden sich lediglich Laptop, Monitor und das Telefon. Es lagen keine Unterlagen herum, nichts verriet, dass hier gearbeitet wurde.

      Dominiert wurde das Büro, das so hochwertig und sichtlich bewusst eingerichtet worden war, von einem überdimensionalen Gemälde an der Wand gegenüber dem Schreibtisch. Das Motiv zeigte unverkennbar eine stark vergrößerte Nachbildung von Edward Munchs berühmtem Gemälde »Der Schrei«. Der Unterschied war lediglich, dass es auf dieser Nachbildung eine gesichtslose nackte Frau war, die schrie.

      »Was denkst du?« Jasna war Ninas Blick gefolgt.

      Nina zögerte mit der Antwort, gab sich dann aber einen Ruck. »Es muss traurig machen, fortwährend auf so ein entsetzliches Bild zu starren. Immer diese Verzweiflung im Blick – ich könnte das nicht ertragen.«

      »Ellen liebt dieses Bild«, erwiderte Jasna. »Ein Freund von ihr ist Künstler und hat das gemalt.«

      Nina zuckte mit den Schultern. »Na ja … jedem das Seine.«

      Stephanie servierte unaufgefordert Kaffee. Augenblicke später ging die Türe erneut auf, und Ellen McGill betrat das Zimmer.

      »Sorry, sorry, sorry. I am too