Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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Frisuren in Unordnung gerieten.

      „Im Grunde habe ich den Kuss von Frau Martin verdient,“ sagte der Major, als er sich verabschiedete. „Sie müssen ihn mir gelegentlich wiedergeben, Fräulein Geneviève.“

      „Er weiss sich doch immer einen guten Abgang zu machen,“ sagte Geneviève, „wie der Bonvivant in den älteren Lustspielen.“

      „Dass es gerade wieder die älteren sein müssen, Fräulein Geneviève ...!“ rief er ihr noch zu.

      In fröhlicher Stimmung kehrten sie nach Hause zurück.

      Mama Laroche wartete schon ungeduldig. Sie nahm die Küchenangelegenheiten sehr wichtig. Es war höchste Zeit, dass die Fleischpastete, die es zum Abendessen geben sollte, vom Feuer kam, sonst verbrutzelte sie.

      Laroche berichtete von den grossen Siegen über die Deutschen. Eifrig fiel seine Frau ein: ja, nebenan hätten sie die Nachricht gebracht, dass der Deutsche Kaiser gefangen sei.

      „Ein Neffe von ihm, nur ein Neffe,“ sagte Laroche.

      „Schade. Aber jetzt zu Tische!“

      Es war ein sehr angeregter Abend. Nach dem Essen wurde noch musiziert. Berthe hatte ein vierhändiges Arrangement des Militärmarsches „Sambre et Meuse“ gekauft. Helene musste sich mit ans Klavier setzen. Sie spielten das Stück ziemlich fehlerfrei vom Blatt. Es lag etwas Zündendes in Melodie und Rhythmus. Laroche summte den melodischen Mittelsatz mit. Seine Stimme war wunderschön. Immer wieder wollten sie das Stück hören.

      Als Helene hernach oben in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel sass und ihr Haar für die Nacht zurechtmachte, ging ihr die Weise noch immer im Kopf herum. Die grausame Spannung, die sie all die Tage hindurch festgehalten hatte, war endlich, endlich von ihr genommen. Welch eine glückliche Wendung! Ja, es war ein Glück — trotzdem leider Mahnungen, die ihr geheimnisvolle Stimmen wie aus Urvätertagen zuzuraunen schienen. Hier war ihre Heimat, hier, wo sie mit George glücklich war. Als sie sich in die seidene Decke hüllte, erfüllte sie nur der Wunsch: so rasch als möglich ihm Nachricht zu geben, damit er aus seiner furchtbaren Lage befreit werde.

      Manon suchte an Helene gutzumachen, was ihr Vater in seiner oft unbegreiflichen Art verfehlt hatte. Täglich suchte sie die Freundinnen in der Inkermanstrasse auf, und dann gab es immer ein stürmisches Stündchen. Manon war nun einmal für Sensationen geschaffen. Die Unruhe über das Schweigen ihres Gatten äusserte sich anders als bei anderen Lillerinnen, die ihre Männer oder Brüder oder Söhne hatten ins Feld ziehen sehn. Die meisten von denen lebten still und zurückgezogen, fast ganz für sich. Das war Manon unmöglich. Sie brauchte Anregung, Zerstreuung, sie musste über das, was sie bewegte, sprechen. Ihre blauen Augen, die so puppenhaft strahlen konnten, zeigten jetzt manchmal Angst, wilde Erregung, Kummer, Schmerz. Sie beobachtete sich selbst im Spiegel und ward gerührt, wenn sie sah, wie sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten. Freilich konnte sie, war erst die Entladung vorbei, verblüffend schnell auch wieder ihre Tonleitern lachen.

      Die Stimmungen jagten bei ihr wie die Themen. Vom Kriegsschauplatz interessierten sie nur die dick gedruckten Nachrichten. Zu ihres Vaters Verzweiflung verwechselte sie aber meistens das Gehörte oder Gelesene. Oder sie berichtete ungeheuerlich entstellte Zahlen. Mama Laroche stiess häufig dazu, wenn die entzückende junge Frau, die so viel Leben ins Haus brachte, zu Besuch da war, und Helene und Geneviève hatten ihre stille, etwas diabolische Lust daran, dass die beiden sich durch die abenteuerlich entstellten Nachrichten aufpeitschten, die sie unkontrolliert übernommen hatten.

      Gut, dass der Hausherr nicht all das mitanhören musste. Laroche war flammender Patriot, tief innen von Frankreichs hoher Sendung erfüllt, aber ebenso weit entfernt von der phrasenreichen Oberflächlichkeit der Kaffeehauspolitiker wie von der hohlen Wichtigtuerei des eisigkalten Léon Ducat. Andere sprachen, hielten Reden, kritisierten, erwarteten von der Mitwelt Opfer und Taten — Laroche handelte selbst. Bei der Aufstellung seiner Listen half ihm treulich Geneviève nach wie vor. Und da sich auch Helene durchaus verdient machen wollte, so stand er ihr bei, als Helferin beim Roten Kreuz anzukommen. Sie konnte an dieser Stelle der guten Sache gewiss viel nützen, gerade weil ihr Wesen so sympathisch und schmiegsam war. Er brauchte Vertrauensleute, aber von Damen nur solche, die sich nicht scheuten, auch in die Wohnungen der Armen und der Ärmsten zu gehen. Helene konnte später Geneviève auf diesen Wegen begleiten. Zuverlässige, ernste Menschen mussten das sein; mit dem Dilettantismus der Wohltätigkeit hatte er schlechte Erfahrungen gemacht. Lächelnd hatte er daher Manons Antrag, mit bei ihm tätig zu sein, abgelehnt. „Sie würde es drei Tage mitmachen,“ sagte er zu Geneviève, „länger nicht.“

      Aber eines Morgens kam Manon doch in der Tracht der Helferinnen vom Roten Kreuz an. Und sie sah darin wunderhübsch aus. Die weisse Flatterhaube, die das Gesicht umrahmte, machte sie blass, fast ätherisch. Sie freute sich besonders darüber, wie schlank sie in der tiefblauen Tracht aussah.

      „Das macht der Kummer um Henri,“ sagte sie. „Und dann esse ich auch keinen Kuchen mehr.“

      Seit vier Tagen war Laroche auf Reisen, es hiess, er habe mit dem Präfekten, der in Dünkirchen weilte, eine wichtige Verhandlung. Helene hatte das bestimmte Versprechen von ihm, dass er beim Präfekten auch die Angelegenheit ihres Mannes zur Sprache bringen und erreichen werde, dass etwas Durchgreifendes geschah. Manons Ausbildung sollte erst in vierzehn Tagen beginnen, weil das Lehrpersonal fehlte. Bei ihrem Vater, in dem grossen, stillen, feierlichen Hause, hielt sie es nicht mehr aus. Er war auch gar so unzufrieden mit allem, was draussen in der Welt geschah. Trotzdem die Zeitungen Siegesbotschaften über Siegesbotschaften brachten: er hatte erwartet, dass die französische Armee noch viel schneller mit der deutschen fertig werde, sie über den Rhein zurückwerfen und den Siegesmarsch auf Berlin antreten werde.

      Da Helene täglich bis nachmittags fünf Uhr zu ihrer Ausbildung im Militärhospital weilte, richtete Manon ihre Besuche so ein, dass sie zum Tee zurechtkam. Jedesmal gab es da einen lustigen Kampf. Die Blondköpfe, die in dem nur durch die grosse Glastür getrennten Gartensalon vesperten, kamen immer wieder ins Speisezimmer zum Tisch der Grossen gerannt, um die kleinen Teekuchen auszutauschen oder neue zu erbitten — trotzdem Mama Laroche es ihnen so wehleidig bittend untersagte — und Manon, die eine gewiegte Kennerin aller Konditorwaren war, musste raten und bestimmen, ob hier Ingwer oder Mandel oder Rosencreme oder Orangeade drin war. Und so streng sie sich auch verschworen hatte, sie konnte doch nie der Versuchung widerstehen, selbst zu kosten. Aber wenn sie mitten im Knabbern all der Süssigkeiten war, kamen ihr plötzlich die Tränen, und sie beklagte ihr herbes Los: dass sie nun so verlassen in der Welt stand, nichts, gar nichts mehr von ihrem Manne hörte. Die letzte Nachricht war die, dass er sich in Dinant an der Maas befand. Mit welchem Auftrag, zu welchem Zweck, nichts hatte sie erfahren. Die Briefzensur war ja auch so scharf geworden. Man erzählte sich tolle Dinge über die Eigenmächtigkeit und Beschränktheit vieler Beamten. Statt den Bureaukratismus einzudämmen, schien der Krieg ihn noch gefördert zu haben.

      In die schwatzende, kuchenessende Tafelrunde brachte Helene, aus dem Hospital kommend, bleichen Angesichts die Nachricht, die sie sich draussen auf der Strasse zuriefen: der deutsche Kronprinz sei in Aachen das Opfer eines Attentats geworden. Benjamin musste rasch sein Zweirad nehmen und nach der Grand’ Place radeln, um die neueste Zeitung zu holen, oder eine Sonderausgabe, wenn eine erschienen war. Helene erinnerte sich, sie hatte ihren Mann oft über den Kronprinzen schelten hören: er halte zu der Gruppe der Scharfmacher; in den Finanz- und Handelskreisen, die überseeische Veziehungen pflegten, erfreue er sich nur geringer Beliebtheit. Aber ihr war doch immer das junge, offene Gesicht des Reitersmannes und die schlanke, ranke Gestalt des Sportsmannes sympathisch gewesen. Wie hässlich, wie unsinnig solch ein Krieg!

      „Dann ist der Krieg sicher bald aus,“ meinte Frau Laroche, eifrig kauend, „wenn der Kronprinz nicht mehr hetzen kann.“ Ein Weilchen politisierten sie. Die Sprache gegen die Deutschen war von Tag zu Tag schärfer geworden. Helene zeigte dieses Vorkommnis wieder, wie schwer es doch war, innerlich so völlig mit der Vergangenheit abzuschliessen.

      „Ich habe ihn nie von Angesicht zu Angesicht gesehen,“ sagte sie, „nur von den Bildern kenne ich ihn, aber wenn ich mir jetzt vorstellen soll, er sei in hinterlistiger Weise ermordet, so regt sich doch das Mitleid in mir. Ob es Anarchisten waren? Eine internationale