Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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offene Revolution gegen die Kriegspartei in Preussen ausgebrochen.“

      Geneviève wusste auch davon. „Die furchtbaren Blutopfer, die ihre Truppen jetzt in Belgien bringen. Und sie kommen und kommen nicht vom Fleck. Dabei haben sie schon ihre letzten Reserven eingezogen, sagt Papa. Sie sehen eben, dass sie von ihren gewissenlosen Führern ihrer Vernichtung entgegengepeitscht werden. Ist es da ein Wunder, dass sich das Volk endlich auflehnt?“

      Zum erstenmal zweifelte Helene an der Wahrheit solcher Meldungen. Sie kannte die eiserne deutsche Disziplin, es erschien ihr unmöglich, dass sie versagte. Sie hob die Schultern. „Ach, die Zeitungen!“ warf sie ein.

      „Aber, Helene!“ rief Geneviève. „Hier steht es doch, ein Augenzeuge berichtet! Und ist das alles denn nicht herrlich für uns?“

      Ein Klingelzeichen vor dem Hause. Benjamin sprang draussen vom Rad, schob es durch die rasch geöffnete Haustür und kam mit der Zeitung ins Speisezimmer. Die fetten Überschriften hatte er auf dem Rade überflogen. Über das Attentat auf den Kronprinzen fanden sich nur ein paar Zeilen in der Nummer. Die Meldung war auch nur unter Vorbehalt wiedergegeben. Aber eine grosse Schlacht war geschlagen bei Dinant.

      „Bei Dinant!“ Manon fuhr empor — sie legte das Kuchenstück hastig auf den Teller zurück und griff nach dem Zeitungsblatt. „Aber in Dinant — da ist ja Henri!“

      Und sie umringten Manon, lasen alle zugleich über ihre Schulter hinweg. Auch Berthe, Louise, Fleurette und Madeleine kamen herein, alle noch mit ihren Kuchen, an denen eifrig weiter geknabbert wurde.

      Die Nachrichten widersprachen einander. Geneviève las die amtliche Depesche: „Die Deutschen haben Dinant mit einer Gardekavalleriedivision, der 5. Kavalleriedivision, mehreren Bataillonen Infanterie und einer Maschinengewehrkompagnie angegriffen. Die französische Kavallerie schlug sie in regellose Flucht und warf sie aufs rechte Ufer zurück. Sie nahmen ihnen dabei Hunderte von Ulanenpferden ab.“

      „Gottlob,“ sagte Manon, „also sind gar keine belgischen Truppen dabei. Nein, wie man sich gleich ängstigt!“

      Die dem amtlichen Bericht folgende Schilderung stellte die Vorgänge ausführlicher dar. Danach hatte der Überfall der Deutschen mit einem furchtbaren Bombardement des schönen, stillen, im tiefen Schlafe ruhenden Städtchens begonnen. Die Einwohner hatten den Ort geräumt, auch die durch die Kanonade alarmierte Bevölkerung der umliegenden Dörfer war geflüchtet.

      Manon flog mehr, als dass sie ging, zum Telephon, um mit ihrem Vater zu sprechen. Der Notar hatte — der Himmel mochte wissen woher — natürlich wieder seine ganz besonderen Nachrichten.

      „Ja, die Schlacht ist den Franzosen günstig,“ erwiderte er, „indessen sehr mörderisch fürs dreiunddreissigste Regiment und die erste Division.“

      Das sagte Manon gar nichts. „Mir ist doch nur darum zu tun: ist Henri dabei oder ist er nicht dabei?“

      Léon Ducat hielt es immerhin noch für möglich, durch den Generalstab des ersten Armeekorps, in dem verschiedene höhere Offiziere ihm befreundet waren, Näheres zu erfahren. Vielleicht erlangte er morgen von der Präfektur aus telephonischen Anschluss an einen der Chefs.

      „Morgen, morgen!“ entrüstete sich Manon. „Nie wirst du etwas sofort tun, Pa! Ach, ich bin ja so unglücklich, so verlassen!“ Und unter Schluchzen hängte sie den Schallbecher an, ohne weiter hinzuhören. Aber sie beklagte sich dann bitter über ihren Vater bei den Freundinnen und Genevièves Mama. Wie ganz anders Papa Laroche! Die Blondköpfe freuten sich über das Lob, das ihrem Vater gespendet wurde; sie schwärmten ja alle für ihn.

      Da Helene sich drüben in ihrer Wohnung am Boulevard verschiedene Wäsche- und Toilettenstücke zusammensuchen wollte, es ihr aber zu unheimlich war, das fast leere Haus allein zu betreten, liess sie sich von den Freundinnen begleiten. Geneviève wurde von den beiden Damen in Tracht in die Mitte genommen, des Gleichgewichts halber. Unterwegs erwachte wieder der Lebensmut in Manon. Sie begegneten am Museumseingang Dr. Broussart, mit dem sie sofort in eine lebhafte Unterhaltung gerieten.

      Pierre Broussart war ein Neffe von Laroche, ein flotter, junger Herr, von dem man sich allerlei kleine Tollheiten mit Damen von der Bühne erzählte. Seine Praxis als Augenarzt war einträglich, er galt für sehr geschickt.

      „Aus dem Museum kommen Sie — statt aus einem Kriegslazarett?“ fragte Manon. „Erklären Sie! Das ist ja ungeheuerlich!“

      „Zunächst meine Huldigung der stilvollen Tracht der Damen. Wunderschön. Eine Stufe zum Himmelreich näher. Und Ihre Augen, schöne Frau Dedonker, wirken gleich noch einmal so blau. Wie ein Alpensee.“

      „Ertrinke nur nicht gleich darin, Vetter,“ warnte Geneviève.

      „Ja, meine liebe Geneviève, dass Onkel dich nicht auch barmherzige Schwester werden lässt, das ist doch geradezu unbarmherzig. Du würdest so bildhübsch aussehen. Das pikante Näschen und das hellblonde Haar — und darüber die weisse Flatterhaube!“

      „Aha, teurer Vetter, das soll heissen: nur aufs Aussehen kommt es bei den Roten-Kreuz-Damen an!“

      „Aber ich bitte Sie, meine Damen, das bisschen Pflegen ist so eine wunderhübsche Abwechslung jetzt, wo alle Herren im Felde sind. Und im ganzen ungefährlich — denn das Verbinden überlassen Sie hoffentlich den Fachleuten. Es sind ja so wahnsinnig viel überschüssige Kräfte vorhanden.“

      „Mir erzählte man das Gegenteil,“ sagte Helene, „überall fehle es an Lehrpersonal für die Helferinnen.“

      Er zuckte die Achsel. Nur ironisch hatte er’s gemeint. „Ich biete mich ja schon seit vierzehn Tagen an wie saures Bier und finde kein Unterkommen als Militärarzt. Meine Patienten sind in alle Winde zerstreut. Was tun? Um die Zeit totzuschlagen, habe ich wieder meine Goya-Studien aufgenommen. Bei Monsieur Théodore hier hängen ein paar ganz famose Bilder von ihm.“

      Manon zwinkerte mit den Augen. „Museumsstudien, die Sie allein treiben? Kopiert nicht die kleine Frau Gal im dritten Saal die pausbäckigen Engel?“

      „Gott, wie indiskret,“ sagte er und lachte.

      Manon lachte mit. „Das soll kein Vorwurf sein. Ich bin ja überhaupt nur ins Museum gekommen, wenn ich dort ein Rendezvous hatte.“

      „Du machst dich wieder ’mal schlechter, als du bist,“ sagte Geneviève.

      Pierre Broussart fuchtelte mit seinem Spazierstöckchen durch die Luft. „Es ist nicht mehr auszuhalten hier. Liest man die Zeitumg, wird man verrückt. Liest man sie nicht, wird man erst recht verrückt. Sobald ich ein Auto erwische, fahre ich nach Cambrai. Dort braucht man vielleicht schon eher einen Medizinmann, der etwas von der Sache versteht. Hier begnügt man sich vorläufig damit, Ärzte in schönen Uniformen spazieren zu schicken.“

      Manon hatte lebhaft ihre Hand auf seinen Arm gelegt. „Broussart, wenn Sie zur Front fahren, dann nehmen Sie mich mit.“

      „Cambrai ist nicht die Front, gottlob. Und was für ein Einfall ...! Übrigens ist es furchtbar schwer, jetzt ein Auto zu bekommen. Hat denn Ihr Vater keines mehr? Stütze des Staats und der Stadt?“

      „Pa ist einer der wenigen, denen man’s gelassen hat. Aber selbst mir hat er’s rundweg abgeschlagen, neulich, als ich nach Tirlemont wollte.“

      Er wiegte den Kopf. „Nach Belgien kommt man kaum mehr durch. Und wer weiss, ob’s geraten wäre. Für Damen schon gar.“

      „Haben Sie Nachricht?“ rief sie, gleich wieder aufgeregt. „Ach, Broussart, ich steh’ doch solche Todesängste aus um Henri.“

      „Ihr Mann ist noch in Tirlemont?“

      „Nein, eben nicht, in Dinant soll er sein.“

      Verdutzt blickte er auf, sah erst sie, dann ihre Begleiterinnen an.

      „Das wäre!“ stiess er aus. „Hoffentlich — ist er nicht dabei gewesen ...“ Er brach ab. Wieder glitt sein Blick wie fragend zu den beiden anderen.

      „Wobei?“

      „Mein