Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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Ecke beim Kasino und schlug den kürzesten Weg zur Stadtmitte ein.

      „Wenn einer was ausrichtet,“ sagte André, „dann ist es Ebenezer. Bis Vetter Léon mit seiner Schwerfälligkeit und seiner Prinzipienreiterei ins Rollen gelangt, ist der Krieg womöglich schon aus.“

      Zu zwei und zwei folgten sie dem Unterleutnant, Geneviève neben dem Major, Helene neben Laroche. Helene legte im Weiterschreiten ihre Rechte leicht auf Laroches linke Hand. „Ich bin Ihnen so dankbar,“ sagte sie.

      Das Stadtbild war wieder ruhiger geworden. Hier in dem abgelegenen Teil hinter dem Sommergarten hatte man wohl überhaupt nicht viel vom Kriegslärm gemerkt. Den hitzigeren Pulsschlag der Stadt gewahrte man jetzt nur vor den Zeitungsausgaben.

      Durch die Abendstille hallten die Schritte der beiden Paare aus dem Pflaster. In das Schwadronieren des Majors mischte sich nur ganz von fern das Summen und Surren des Grossstadttreibens. Aber jäh zerriss plötzlich ein schriller Aufschrei das ungewisse Gesumme. Und es war, als ob sich Garben von lärmenden Hetzrufen daran schlössen.

      Laroche blieb stehen. Er war von neulich gewarnt. Ob man es wagen sollte, mit den Damen jetzt noch die Rue Nationale zu kreuzen, fragte er den Major. Der lachte. „Aber bitte — die kleinen Frauen müssen sich nur ganz eng an uns anklammern, ganz, ganz eng!“

      Das Geschrei war scheusslich. Eine schrille Frauenstimme, deren Weinen ins Kreischen überging. Und als anschwellender Unterton das Durcheinander einer hetzenden Volksmasse.

      Jetzt drängte sich der Trupp, der ein paar Dutzend Köpfe zählen mochte, aus der nächsten Seitenstrasse auf die Place Jussieu.

      „Sie haben eine Spionin!“ sagte der Major nach einem raschen Blick.

      Der Trupp schwankte nach rechts und nach links. Die Frauensperson wollte sich anscheinend befreien. Sie zerrte die Männer, die sie an beiden Armen gefasst hielten, in verzweifelter Anstrengung hin und her.

      Die beiden Paare mussten dicht an die Hauswand zurückweichen. Wild tobte der Trupp an ihnen vorbei. Die Gefangene war ohne Hut, ohne Jacke, ihre Sommerbluse war zerrissen.

      Kreideweiss ward Helenes Gesicht, nur mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei. Sie kannte die Unglückliche, die sie da vorbeischleppten. Es war eine junge Deutsche. Schneider hatte sie ihr einmal im Wandelgang des Theaters vorgestellt. Sie stammte aus Hannover und war hier als Erzieherin angestellt gewesen. Helene hatte sich um die junge Dame, die einem so ganz anderen Lebenskreis angehörte, nicht weiter kümmern können, die Reise war dann auch dazwischengekommen.

      Der Major hatte sich einen der jüngeren Burschen aus der spektakelnden Begleiterschar herausgelangt und sich Bericht erstatten lassen. In einem Geschäft am Boulevard war das ‚freulain‘ an ihrer Aussprache als Deutsche erkannt worden. Sie hatte es abgestritten, sollte ihre Papiere zeigen, hatte versucht, zu entfliehen, der Ladenbesitzer war hinter ihr hergestürmt, andere schlossen sich an, — nun brachte man sie zur nächsten Wache.

      „Kann man — ihr — nicht helfen?“ brachte Helene, schluckend vor Angst und Aufregung, hervor.

      „Still!“ flüsterte Geneviève ihr zu, fast scharf, unter einem erschrocken verweisenden Blick. Der Trupp war schon vorüber. Die unglückliche Deutsche hatte Helene auch nicht erkannt.

      „Nur nicht auf der Strasse je sich in Händel einmischen!“ sagte Laroche, die Stirn runzelnd. „Die Menge lässt sich nie belehren. Gehen wir weiter.“

      Helene versagten die Knie und die Sprache. Sie hängte bei Geneviève ein. Die Tränen steckten ihr in der Kehle. Was sollte aus ihr werden, wenn plötzlich einmal solcher Pöbel sich auf sie stürzte? Konnte Laroche sie schützen — wollte er dann es noch? Und André Ducat?

      Sie hörte nichts von der Unterhaltung der anderen. Die Angst steigerte sich in ihr krankhaft.

      Als sie an der Rue de Pas in den Strom der Rue Nationale gerieten, übertönte das Geschrei der Zeitungsausrufer alle anderen Geräusche. Dabei rief einer dem anderen den Inhalt der fettgedruckten Zeilen zu, die in Hast überflogen wurden. Im Nu hatten auch Ducat und Laroche die neueste Abendausgabe an sich gebracht. Im Laternenschein lasen sie; die beiden Damen mussten dicht an sie herantreten. Es waren die Pariser Telegramme vom 8. August. Ducat las laut, ab und zu abgelöst von Laroche. „Noch immer halten die tapferen Belgier die Forts von Lüttich — die Deutschen räumen die Stadt, erschöpft nach zweiundsiebzigstündigem Kampf — Belgier haben fünfzehn Fahnen, zwanzig Kanonen, mehrere tausend Gewehre erbeutet, zahlreiche Gefangene gemacht, darunter den Prinzen Georg von Preussen ...“

      „Ein Sohn vom Kaiser?“ fragte Geneviève funkelnden Auges. „Helene, weisst du?“

      „Nein, einen Prinzen Georg — gibt es wohl nicht unter den Söhnen des Kaisers.“ Helene sagte es atemlos, ihr Herz klopfte, sie fühlte noch immer dies innerliche Zittern.

      „Ein Neffe des Kaisers muss es sein,“ sagte Laroche, der weiter gelesen hatte.

      Und dann riss André Ducat aus dem Zusammenhang noch ein paar kurze Nachrichten heraus. „Die Demoralisation der Deutschen — deutsche Offensive bei Lüttich gebrochen — Verpflegungsmangel der Deutschen — die Deutschen bitten um Waffenstillstand, der abgeschlagen wird, — die Deutschen aus Mülhausen und Neubreisach geworfen ...“

      „Nicht übel — so eben noch vor dem Abendessen!“ sagte ein fremder Herr, der keine Zeitung mehr erhalten und als Kiebitz an der Vorlesung teilgenommen hatte. Er grüsste leicht, die anderen nickten. Und fröhlich vor sich hinsummend nahm der Major den Marsch wieder auf.

      Es waren nun nur noch ein paar hundert Schritt bis zur Mairie. Aber Helene schleppte sich nur mühsam weiter. Es war ihr, als habe ihr eine rohe Faust in die Kniekehlen geschlagen.

      Auch vor dem Rathaus mit den beiden überhohen Portalen drängte sich die Menge. Noch viel Stellungspflichtige, die mit ihren Frauen, Müttern, Kindern kamen, um die Unterstützung für die Zurückbleibenden in die Wege zu leiten.

      „Wieviel Jammer!“ sagte Geneviève.

      Laroches Augen blitzten. „Die Hand, die die Schuldigen züchtigen wird, hat sich schon hoch in den Himmel gehoben, um zerschmetternd zuzuschlagen,“ sagte er.

      „... Hallo, da ist ja unser Freund Drachman!“ rief Ducat.

      Die Luchsaugen des Unterleutnants hatten die Ankömmlinge auch schon entdeckt.

      Er zeigte sein weisses Gebiss für einen Augenblick, während er näherkam, machte dann aber die übliche Dienstmiene, als er seinem Chef berichtete.

      Ducat nahm sofort Helenes Hand, pätschelte sie und sagte:

      „Also, meine Liebe, die Sache ist längst perfekt. Die Urkunde ist schon vor drei Wochen von der Präfektur an die Mairie gegangen, sie liegt da aber noch ganz friedlich in der Aktenmappe des zweiten Botenmeisters — und mit dem windigen Herrn hat Ebenezer soeben im Estaminet ‚Zum grünen Sänger‘ einen Bock Tartarat getrunken.“

      „Herr Drachman — lieber Herr Drachman — es ist wahr —?!“ Helene war mit zwei hastigen Schritten auf ihn zugegangen. „Und warum hat der Mann so lange gezögert?“

      „Bureaukratismus! Und Herr Martin befand sich auf Reisen, sagt er. Und jetzt sei so viel zu tun gewesen. Aber ich habe ihm ein gutes Trinkgeld versprochen, und nun ist er Hals über Kopf nach dem Bureau.“

      Helene besprach sich rasch mit den Herren. „Ich werde ihm hundert Francs geben, nicht?“ Sie nestelte gleich in ihrem Täschchen, fand aber kein Gold.

      „Ich leg’ es aus,“ sagte Laroche und ging mit Drachman beiseite.

      „Wenn Ebenezer ihm mehr als hundert Sous gibt, lass’ ich mich frikassieren,“ sagte der Major verschmitzt lachend zu Geneviève.

      Im Hof der Mairie fand dann die Übergabe statt. Helene öffnete hastig, mit ungeschickt gewordener Hand Amtssiegel und Brief und las. Die Urkunde war vom 11. Juli datiert.

      „Ob George es schon weiss? Wie erreiche ich ihn nur? ... Ach, mir ist ja eine Zentnerlast vom Herzen