Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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      „Vier Tage hat die Schlacht gedauert!“ rief er schon von weitem, die Zeitung schwingend. „Hundertfünfzigtausend Österreicher von den Serben geschlagen. Sie sind über die Drina geflohen. Neunzehntausend Tote und fünfundzwanzigtausend Gefangene!“

      „Ah, über die Drina, denkt nur, über die Drina!“ rief Berthe begeistert.

      „Was ist das — die Drina?“ fragte Fleurette. „Ist es dasselbe wie der Rhein?“

      Niemand wusste es zu sagen. Helene mochte die Auskunft nicht geben; sie wollte mit ihrer Wissenschaft hier auf offener Strasse nicht auffallen.

      „Hoch die Serben!“ rief Benjamin. Und es fanden sich mehrere Vorübergehende, die einstimmten.

      Den Blondköpfen war es ein grosses, festliches Erlebnis.

      Aber gegen Abend brachte Geneviève eine weniger rosige Botschaft. Es hiess, die Deutschen hätten Brüssel besetzt. Sie wollte durch Manon Näheres erfahren, aber die Fernsprechleitungen schienen sämtlich unterbrochen. Geneviève hielt die Ungewissheit nicht aus. „Gehen wir zu Madame Luthin,“ schlug sie der Freundin vor, „ich muss mein Kostüm anprobieren — und Madame Luthin hat ja immer die neuesten Nachrichten!“

      In dem eleganten Empfangszimmer am Boulevard de la Liberté trafen sie auch Manon. Sie probierte eine Trauertoilette an. Madame Luthin und drei junge Mädchen waren um sie bemüht. Manon hatte ihnen die Geschichte von der Hinmordung ihres Gatten soeben erzählt — ihre Augen waren vom Weinen noch stark gerötet.

      „O wie entsetzlich! O diese Hunnen!“ riefen die Frauen alle durcheinander.

      Manon drehte sich vor dem mächtigen Spiegel. „Ich habe mir gleich geschworen: nun bleibe ich Witwe für mein ganzes Leben. Wer so etwas Furchtbares erlebt hat ... Hier ist noch eine hässliche Falte, liebe Madame Luthin ... Frankreich macht eine grosse Zeit durch, sagt Papa. Unsere Opfer bringen den Triumph, den die ganze Kulturwelt erhofft ... Nicht zuviel Schmelzperlen, liebe Madame Luthin, das wirkt doch zu alt. Ich persönlich mache mir gar nichts mehr daraus, wie ich aussehe. Aber schlanker bin ich doch geworden? ... Ach, Helene, Geneviève, ihr seid da!“

      Sie waren zur Besprechung des grossen Ereignisses noch gar nicht gekommen, als eine der Gehilfinnen von der Schneiderstube hereineilte und die Nachricht brachte: in der Rue Solferino würden die Läden der Deutschen gestürmt. Seit Kriegsausbruch waren die deutschen Geschäfte sämtlich geschlossen, aber die über die Greueltaten der Boches aufs äusserste gereizte Menge hatte jetzt die Türen und Fenster erbrochen. Ein furchtbarer Spektakel herrschte, und ein Deutscher, der sich bis heute in einem der Magazine versteckt gehalten hatte, war bei seiner Festnahme fast zum Krüppel geschlagen worden. Die Nachricht, dass die Deutschen in Brüssel einmarschiert seien, hatte sich mit Windeseile verbreitet. Die Erbitterung stieg von Stunde zu Stunde.

      „Zeitungen gibt es heut abend auch nicht mehr,“ wusste Madame Luthin ihren Kundinnen zu berichten. „Die Verbindung ist nach allen Seiten abgeschnitten. Man kann nicht mehr Eisenbahn fahren, nicht mehr telegraphieren, nicht mehr telephonieren. Wir sind jetzt wie auf einer Insel.“

      Helene wartete die ganze Zeit schon in fieberhafter Unruhe auf die Rückkehr ihres Mannes, wenigstens auf ein Lebenszeichen von ihm; wieder schien die Hoffnung nun hinausgerückt.

      „Was liegt nur vor?“ fragte sie fast weinend.

      „Militärische Massnahmen,“ sagte die Schneiderin achselzuckend. „Eine andere Antwort bekommt man ja nie, wenn man hier auf einem Amt vorspricht. Dieser Bureaukratismus, dieses Wichtigtun! Ich habe kostbare Stoffe in Paris gekauft und kann sie nicht hereinbekommen. Das sei nun alles gleichgültig. Und was für ein enormer Schaden unsereinem damit geschieht, danach fragt niemand.“

      Andere Kundinnen kamen. Manon wurde von bekannten Damen auf ihre Trauer angesprochen. Immer wieder gab es Umarmungen und die üblichen beiden Küsse links und rechts aus die Wangen. Manon schwelgte ein wenig in der Rolle der trauernden Witwe. Sie bemühte sich auch ernst und würdig zu wirken, um im Einklang mit ihrem düsteren Gewand zu bleiben. Aber ihre Lebhaftigkeit brachte doch immer wieder eine frischere Note, die den Grundton störte.

      Ein kleiner Zwischenfall regte sie besonders auf. Im zweiten Salon probierte eine junge Dame mit auffallend tizianblondem Haar ein Trauerkostüm an. „Ist das nicht die rote Lou?“ fragte sie, die Augen leicht zusammenkneifend. „Die von André?!“

      Geneviève entsann sich, es war eine frühere Liebschaft von André Ducat. Er hatte sich im vorigen Herbst auf Rennen und auch im Theater mit ihr gezeigt. Im Frühjahr aber war sie öfters mit einem blutjungen Fabrikbesitzerssohn aus Roubaix gesehen worden. Madame Luthin musste Auskunft geben. Ja, es stimmte, Mademoiselle Louison trauerte um den jungen Bertrand; er sei vor einigen Tagen gefallen.

      „Aber das ist nun anmassend,“ sagte Manon, „dass sie sich gleich in Trauer stürzen wird. Das dürften wir richtigen Witwen uns eigentlich nicht gefallen lassen.“

      Madame Luthin wiegte den Kopf. „O, die Trauer von Mademoiselle Louison ist wirklich echt und tief. Man sollte sie dem armen Wesen lassen, sie war ihm auch so treu. Vom Mai bis zum Kriegsausbruch war sie immer, immer mit ihm. Und wunderbare Perlen hat sie von Bertrand bekommen.“

      „Bertrand — das ist doch die Leinenfabrik aus dem Wege nach Tourcoing?“ fragte Geneviève.

      „Massloser Reichtum. Und jetzt ist überhaupt kein Erbe mehr da. Der Älteste ist doch vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben. Bertrands Mama hat Mademoiselle Louison am Sonntag draussen bei sich empfangen. Ja — um von ihrem Sohn zu hören. Sie hat es mir vorhin erzählt. Ach, es muss erschütternd gewesen sein.“

      Manon hatte an dem eigenen Trauergewand gar nicht mehr die rechte Befriedigung, da nun diese illegitime Freundin es sich ebenso aneignen wollte wie sie als Witwe. Sie besprachen den Fall dann noch eingehend aus der Strasse weiter. Geneviève entsann sich, dass Manon in solchen Dingen früher viel weitherziger geurteilt hatte. Bertrand hatte die rote Lou sogar öfters in den „Cercle de Commerce“ zum Abendessen mitgebracht, wenn Damen der Klubmitglieder anwesend waren. Niemand hatte daran Anstoss genommen. „Das war ja immer die Angst,“ sagte Geneviève lächelnd, „es wollte niemand für philiströs gelten. ‚In Paris ist das auch nicht anders,‘ hiess es. Ja, und dann war es gleich sanktioniert.“

      Vor dem Hause hielt das Auto des Notars. In der ganzen Stadt gab er nur wenige hervorragende Persönlichkeiten, denen man es gelassen hatte. Ducat wachte eifersüchtig darüber, dass mit dem Benzin hausgehalten wurde. Da er augenblicklich in Dünkirchen weilte, es hiess, in wichtigen politischen Angelegenheiten, so machte sich Manon die Freiheit zunutze und erledigte ihre Besorgungen nicht anders als im Auto. Helene nahm die Gelegenheit wahr. Längst wollte sie sich einmal nach der Fabrik umsehen, auch nach dem Neubau. Der Strassenbahn hatte sie sich aber nie anvertrauen mögen, und die Wege waren ziemlich weit. Ob Manon es wagen wollte, sie hinzufahren? Damen in bürgerlicher Kleidung, die das ihnen von einem Bekannten zur Verfügung gestellte Auto gelegentlich benutzt hallen, waren unterwegs angehalten und nach einem Ausweis gefragt worden. Aber da sie beide in Schwesterntracht steckten und das Auto von Ducat vorsichtshalber mit dem Roten Kreuz versehen war, so erschien es Manon nicht weiter gefährlich.

      Den Einwand des Schofförs wies Manon lachend ab: „Wenn Sie nicht folgsam sind, Antoine,“ sagte sie, „dann müssen Sie unweigerlich in die Front. Sie wissen, Sie haben’s nur mir zu verdanken, dass Sie vom Herrn reklamiert worden sind.“

      Der kleine Schwarzäugige nahm darauf schweigend auf dem Führersitz Platz und kurbelte an.

      Aber Geneviève wollte doch nicht mitkommen, das ging gegen ihre Grundsätze.

      Je mehr man sich dem Tor von Valenciennes näherte, desto trister wurde die Gegend. In dem ganzen früher so betriebsamen Fabrikviertel arbeitete nur noch ein kleiner Teil der Anwesen. Und auch auf diesen hatte man den Betrieb einschränken müssen; überall herrschte Leutenot.

      Über das ganze Stadtviertel, von einem gewaltigen Giebel her, leuchtete das kalkweisse Band, auf dem in mannshohen, blauen, rotschattierten Buchstaben die Firma stand: George Martin. Das Hauptgebäude der Martinschen Fabrik