Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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Aber das ist ja entsetzlich!“

      „Ja, auf dem Bahnhof St. Lazare hat er ihn gesehen. O, da waren so furchtbar viel Deutsche, ja, und alle mussten sie ihre Koffer selber tragen, und sie würden nun in ein Konzentrationslager gebracht, alle!“

      Berthe sprach unglaublich schnell, sie haspelte ihre Sähe herunter, dass sie am Schluss immer ganz atemlos war.

      „Aber mein Mann ist doch kein Deutscher —!“

      „O, Sie müssen Drachman hören. Er wollte Monsieur Martin helfen, aber da wäre es ihm beinahe schlecht gegangen. O, eine solche Wut sei aus die Alboches. Und Monsieur Martin hätte immer gerufen: er sei naturalisiert, er sei französischer Bürger, und er lasse sich das nicht bieten! Hören Sie nur Drachman!“

      Geneviève war ihnen gefolgt. Mit ein paar Worten unterrichtete sie den Vater, der draussen noch vom Vorbeimarsch der Dreiundvierziger erzählte und vom Gesang des „Quinquin“. Bestürzt kam er ihr nach. Und nun drängten sich alle Apfelgesichter in den Wintergarten, und um den runden Kinderesstisch herum baute sich die ganze Familie aus. Es war inzwischen fast dunkel geworden, das helle Blond der Köpfe bildete einen schimmernden Kranz. Und die hellgrauen Augen mit dem Porzellanweiss blitzten. Benjamin war glücklich darüber, dass Geneviève ganz vergass, ihn zu Bett zu schicken. Geneviève tröstete die Freundin: es könne sich ja nur um ein Missverständnis handeln. Zunächst müsse man mit Drachman sprechen.

      Also liess sich Laroche mit dem alten Herrn Ducat verbinden. Die ganze Familie folgte über den Küchengang nach dem Billardzimmer, wo der Schreibtisch mit dem Fernsprecher stand.

      Laroches Miene während des Gesprächs, von dem man nicht viel verstand, weil er nur kurze Einwürfe machte, gefiel Helene nicht. Er schüttelte jetzt den Kopf. „Hmhmhm,“ machte er und zog die Brauen zusammen.

      Und da ging Helene hastig auf ihn zu und erfasste seine Rechte, die nervös mit der Bleifeder spielte, während er den Schallbecher am linken Ohr hielt. Sie streichelte sie ein paarmal, und dann legte sie sie an ihr Herz. „Solche Angst hab’ ich,“ flüsterte sie, „bitte, bitte, helfen Sie mir!“

      Er lächelte ihr zu und liess ihr seine Hand.

      „Drüben bei Dr. Goldschmid,“ sagte nun Mama Laroche wichtig, „haben sie ein paar Scheiben eingeschlagen, weil der deutsche Name am Schild steht, und da hat Dr. Goldschmid einen Zettel an die Haustür angeklebt: er sei Franzose und seine beiden Söhne stünden im Heer. O, sonst wär’ es ihm vielleicht schlimm ergangen.“

      „Warum erzählst du uns das!“ verwies Laroche seine Frau. Er war verstimmt, so oft seine Frau sich eine Blösse gab; aber durch seine kühl aburteilende Art machte er’s selbst gewöhnlich noch schlimmer. Da musste dann immer Geneviève ausgleichend eingreifen. Da der dicklichen Mama schon wieder die Tränen in den Augen standen, klopfte sie ihr die Wangen und küsste sie. „Gewiss, gewiss, Ma, du meinst es ja nur gut.“ Aber sie schob sie doch mit samt den jüngeren Geschwistern zur Tür und bat sie, dafür zu sorgen, dass Benjamin zu Bett käme, sie könnte sich heute nicht so drum kümmern. „Gelt, du verzeihst, Ma, dass ich eine so schlechte Vizemama bin.“

      Frau Laroche war schon wieder getröstet. „Ach, ein Goldkind bist du, Geneviève. Ist sie’s nicht, Berthe?“

      „Ja, — und ich muss zu Bette!“ schmollte Benjamin. „Immer wenn es am schönsten wird!“

      Darüber lachten sie dann alle durchs ganze Treppenhaus. Man hörte die Kleinsten noch aus dem obersten Stockwerk krähen.

      Geneviève hatte sich aufs Billard gesetzt und zog Helene zu sich herauf. „Zunächst bleibt sie bei uns. Nicht war, Papa? Ich schliefe hier keine Stunde ruhig, wenn ich wüsste, sie ist da drüben.“

      „Der alte Herr Ducat hat sich nicht gut geäussert?“ fragte Helene.

      „Nein.“ Laroche sagte es fast scharf. Ein bisschen Trotz zitterte auch in seinem Ton. Er konnte sehr temperamentvoll sein. „Und darin sah ich mal wieder den ganzen Ducat.“

      „Sprich doch, Papa.“

      „Er hält es für gerechtfertigt, dass Monsieur Martin mit abgeschoben wird. Da Monsieur Martin kein Franzose sei, habe er auch keinen Anspruch, als solcher angesehen und behandelt zu werden.“

      „Aber er ist es doch, er ist es doch!“ wandte Helene weinend ein.

      Geneviève strich über ihren Arm. „Ruhe, Ruhe, Papa wird schon helfen. Ein Gang zur Präfektur. Nicht wahr, Papa? Oder vielleicht nur zur Mairie. Dir tun sie schon den Gefallen, die Papiere nachzusehen, um nach Paris Nachricht geben zu können.“

      „Für Ducat wäre es eine Kleinigkeit ... Gewiegter alter Notar ... Mit aller Welt hat er amtlich zu tun.“

      Laroche ging ärgerlich um das Billard herum. Dann blieb er vor den beiden stehen, stützte sich auf ihre Knie, tätschelte sie und lachte.

      „Ja, was soll ich tun, wenn zwei so schöne Augenpaare mich anbetteln?“

      „Deine Augen sind viel schöner als unsere, Papa,“ sagte Geneviève. „Gelt, Helene, so oft hast du’s gesagt: wie es einem durchs Herz gehen kann, durch und durch, wenn Papa einen so ansieht.“

      „O ihr Schmeichler.“ Fast etwas abwesend sagte er’s. Dann raffte er sich auf und ging zur Tür.

      „Ist er nicht lieb?“ fragte Geneviève. „Geh’, Helene, nun hat er aber auch einen Kuss verdient.“

      Helene sprang ihm nach und umarmte ihn.

      „Hätten Sie Ducat den Kuss auch gegeben, wenn er bereit gewesen wäre, Ihnen zu helfen?“ forschte Laroche.

      „O, Vater Ducat!“ Helene lachte. „Er hat einen Bart wie ein Fusssack. Überhaupt ... Wie er nur zu der entzückenden Manon kommt?“

      „Vielleicht ist sie ihm allein gar nicht zu verdanken,“ sagte Laroche.

      Selten nur sagte er so Leichtfertiges. Geneviève drohte ihm. „Wenn so was nun die Kinder hörten, Papa! Oder Mama!“

      „Noch schlimmer, wenn es Ducat hörte!“ sagte Laroche.

      Helene atmete auf. Laroche war gutgelaunt — er würde ihr helfen.

      Es waren Tage voll beispielloser Erregung. Helene ward das Herzklopfen nicht mehr los. Sie wusste, dass nur die Aufnahme im Hause Laroche sie vor trübem Schicksal gerettet hatte. Fast stündlich brachten die Kinder oder die Mädchen oder Bekannte die wildesten Schreckensbotschaften ins Haus. Da waren in Wambrechies zwei junge Deutsche gefasst worden, die sich an den Eisenbahngleisen zu schaffen gemacht hatten, offenbar Spione. In Fives hatten drei deutsche Anarchisten Telegraphendrähte durchschnitten. Wo auf der Strasse Deutsche erkannt wurden, da fiel die aufgebrachte Menge über sie her. Einer hatte sich auf die Grand’ Place gewagt und unter die Menge gemischt, um die Nachrichten zu lesen, die an der Empfangshalle vom „Echo du Nord“ aushingen. Man hatte sich den jungen Burschen reihum gereicht. In jämmerlichem Zustand war er schliesslich durch die Markthalle seinen Verfolgern entschlüpft.

      Eine bestimmte Nachricht darüber, ob der Fall Martin auf der Präfektur schon geklärt war, konnte Laroche nicht erhalten. Die Mobilisation nahm alle Kräfte der Bureaus in Anspruch. Es herrschte in den Schreibstuben aller öffentlichen Ämter eine heillose Verwirrung. Die Mehrzahl der eingearbeiteten Beamten hatte sofort die Feder hinlegen müssen, um zu der Truppe abzureisen. Laroche wäre schliesslich, Helene zuliebe, selbst nach Paris gefahern. Aber mehrere Tage hindurch gab es für Zivilpersonen überhaupt keinen Eisenbahnverkehr, und die Verbindungen waren fürchterlich, man brauchte bis Paris einen ganzen Tag, alle Hauptlinien waren durch Truppentransporte besetzt. Auch Briefe bekam man nicht. Mehrmals am Tage schickte Helene eins der Kinder nach dem Boulevard hinüber, um beim Pförtner, bei der Köchin Nachfrage zu halten. Es war für sie aber nichts angekommen. Wo mochte George stecken, der Ärmste?

      Die Begegnung mit Drachman war auch nicht dazu angetan, sie zu trösten. Der Unterleutnant mochte ein tapferer Haudegen sein, ein Seelenkundiger war er nicht. Ebenezer Drachman hatte von der Pike auf gedient, er war nicht mehr