Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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geartete Ausgabe seines Chefs. Schwarz das Haar, schwarz der Schnurrbart, schwarz die funkelnden Augen. Guter Futterzustand, ein mächtiges, kerngesundes, weisses Gebiss, die Haut an Kinn und Wangen immer bläulich, auch schon beim Heraustreten aus dem Barbierladen. Bei André Ducat ging das alles ins lebemännisch Smarte. Aber was ihm allenthalben Erfolge eintrug, war gewiss auch das skrupellose Draufgängertum.

      Helene gegenüber glaubte Drachman durch möglichst realistische Schilderung der Vorgänge beim Abtransport der Deutschen aus Paris sich ein Verdienst zu schaffen. Die Verzweiflung der eleganten Herren und Damen, die ihre Koffer selber schleppen mussten, hatte auf ihn den stärksten Eindruck gemacht. Tröstend meinte er: Herr Martin sei ja französischer Staatsangehöriger, also werde er bald freigelassen werden müssen, auch wenn er vorläufig wirklich in eins der Konzentrationslager der Normandie, der Bretagne oder der Pyrenäen verschleppt werden sollte.

      Auf die Strasse wagte sich Helene nun doch nicht mehr. Auch nicht in die Fabrik oder zum Neubau. Übrigens stand ja an beiden Plätzen alle Arbeit still. Die Kriegserklärungen jagten einander, die ersten Nachrichten vom Kriegsschauplatz liefen ein, und es kam dann in der Stadt immer zu aufgeregten Szenen, von denen die Hausgenossen durch die Mädchen erfuhren, die es von der Haustür brachten. Die Botschaft von der Ermordung Jaurès’ ging verhältnismässig spurlos vorüber. Die Sozialistenpartei der Stadt hatte überall grosse Plakate angeschlagen: „Ruhe, Genossen, Ruhe!“ Die Seele der Stadt war jetzt die Zeitungsausgabe an der Grand’ Place. Hunderte, Tausende kamen da zusammen.

      Von der russisch-deutschen Grenze brachte das „Echo“ die Kunde, dass die Deutschen mordend, sengend und brennend über das wehrlose russische Bauernvolk herfielen. In diesen Tagen kam die Bezeichnung „Barbaren“ für Helenens frühere Landsleute auf. Sie schämte sich da ihrer Abstammung. Sie ahnte ja nichts von der Kunst der Verleumdung, die die käufliche Presse so meisterhaft handhabte. Noch schlimmer waren die Meldungen aus Belgien. Manon Dedonker verging vor Sorge. Ihr Mann war nicht gekommen; er hatte in Belgien Zurückbleiben müssen, da er der Bürgergarde angehörte. Der Völkerrechtsbruch der Deutschen, ihr grausames Vorgehen gegen die Belgier wurde in allen Häusern voll Entrüstung besprochen. Helene konnte nichts als schweigen. Ost fragte sie sich, ob denn derlei Schandtaten möglich seien. In ihrem Herzen regte sich etwas, das dem widerstritt. Aber ihr Verstand sah die Beweise schwarz auf weiss gedruckt. Und sie stand — wie alle hier — unter dem Bann der Zeitung.

      Da brachte Geneviève eines Vormittags die Nachricht: eben, als sie mit der Köchin aus der Markthalle trat, war sie dem Major Ducat begegnet, und der hatte ihr so wundervolle Dinge erzählt von der Stimmung an der Front ... Ein paar Leichtverwundete hatten da allerhand ergötzliche Geschichten mitgebracht ... „Ja, und denkt nur, das Regiment, das er führen soll, wird die Dreiundvierziger ablösen. Es kommt hierher, auf die Zitadelle! Manon weiss natürlich schon! Komm’, Helene, wir wollen sie gleich einmal anrufen!“

      André Ducat war früher aktiver Offizier gewesen. Seine masslose Verschwendung, sein Leichtsinn im Spiel und in Liebesabenteuern hatten ihm eine grössere Laufbahn unmöglich gemacht. Fast fünf Jahre war er aus der Front gewesen. Wovon er damals in Paris gelebt hatte, wusste kein Mensch. Durch eine grosse Erbschaft, die ihm wie ein Wunder in den Schoss fiel, sah er sich dann plötzlich imstande, seine alten Schulden abzutragen. Dass er dies zu allererst auch wirklich tat, das ward ihm hoch angerechnet. Seitdem lebte er wieder in Saus und Braus und war der Liebling von aller Welt. Es war nur ein Territorialregiment, das man ihm jetzt übertragen hatte. Durch die lange Pause war er mit seinen vierundvierzig Jahren erst knapp Major. Es hätte ihm aber wohl kaum gepasst, Dienst in einer Truppe zu tun, wo er um ein, zwei Rangstufen unter denen stand, die mit ihm zusammen Fähnrich gewesen waren.

      Manon telephonierte: Vetter André sei den Tag über dienstlich beschäftigt, müsse auch im Kasino mit seinen Herren frühstücken, aber zum Tee habe er sich angesagt, und sie erwarte natürlich Geneviève und Helene dazu. Und ob nicht Laroche auch mitkommen wolle, lasse ihr Vater fragen. André bringe eine Fülle glänzender Nachrichten von draussen.

      Das ward dann das erste fröhliche Ereignis für sie alle seit Kriegsausbruch, dieser Teebesuch am Boulevard Vauban.

      Der Notar Léon Ducat besass am Boulevard, dicht bei der Zitadellenbrücke, eines der prunkvollsten Häuser der Stadt. Es war schon mehr ein Palais, wuchtig in gelbem Sandstein hingelagert mit zwölf Fenstern Breite. Im Erdgeschoss bildete ein Wintergarten die Mitte der Strassenfront. Durch die mächtigen Spiegelscheiben sah man von draussen den hochstrebenden Palmenwald mit den blendend weissen Marmorbildwerken. Abends brannte dort verschwenderisch das elektrische Licht. Ducat liess seinen Reichtum gerne sehen. Das Grundstück dehnte sich mit dem Garten bis zur nächsten Strasse aus. Hinten lagen die Garage, der grosse Stall, die Remise.

      In den weiten Empfangssälen des Erdgeschosses fühlte sich niemand heimisch. Am wenigsten Manon. Sie hatte einmal behauptet, bloss aus Furcht vor den entsetzlich grossen und kalten Räumen im Hause ihres Vaters habe sie Henri Dedonker geheiratet. Sonst hätte sie sehr gern noch ein paar Mädchenjahre vertanzt und durchflirtet. Sie hatte es als junge Frau ihrem Vater zur Bedingung gemacht, dass sie das obere Stockwerk nach ihrem Geschmack einrichten dürfe, wenigstens die Zimmer, die sie bewohnen wollte, wenn sie zu Besuch kam. Durch Einbauten, durch Gobelins, durch Teilung hatte sie zunächst einmal versucht, die unbehaglich grossen Abmessungen ihres Schlafzimmers zu überwinden. Links und rechts hatte sie bis an das mitten in den saalartigen Raum gerückte, mächtige Himmelbett Tapetenwände heranbauen lassen, in denen sich kleine Türen befanden. Auf den anderen drei Seiten wurde das Bett von schweren Gobelins abgeschlossen. Die beiden im Hintergrund zusammenstossenden kammerartigen Abschnitte enthielten ihre Toilettentische, ihre Kleiderschränke. Spiegel hingen neben Spiegeln. Helene hatte so etwas Drolliges nie zuvor gesehen. Unpraktisch blieb die Einrichtung übrigens immer noch, denn zum Bad musste Manon über den breiten Treppengang. Das Bad war gleich dem Vestibül ganz in weissem Marmor gehalten. „Es friert einen, wenn man den kalten Marmor nur ansieht,“ sagte Manon. „Drum bade ich auch immer so heiss.“

      Als die Freundinnen kamen, sass Manon auf dem unpraktischen Halbdiwan, der schon immer ihre Verzweiflung war, trotzdem er aus einem Schloss des fünfzehnten Ludwig stammte. Sie liess sich von ihrer belgischen Zofe die Fingernägel auf einem Samtpolster bearbeiten.

      „Ich bin jetzt so wunderbar faul,“ sagte sie lächelnd, „und ich fürchte, ich habe schon wieder zwei Pfund zugenommen.“

      Manon neigte wirklich etwas zur Fülle. Gegenwärtig befand sie sich in der reifsten Entfaltung ihrer Schönheit. Das dunkelblonde Haar, die grossen, blauen Augen, die samtne Haut, die Gepflegtheit des Körpers, die raffinierte Kunst, sich anzuziehen, alles sprach mit. Sie war in allem Französin, vor allem in ihrer Gabe, amüsant zu sein. Ihre Gestalt war aber für eine Pariserin zu junonisch, zu plastisch. Sie wäre so gern ganz gertenschlank gewesen, wie es jetzt Mode war. Gleich Geneviève beneidete sie Helene um ihre schlanke Figur.

      Sie hatten einander alle drei so unendlich viel mitzuteilen. Was war doch dieser Krieg für eine aufregende Sache. Aber vom Krieg sprachen sie dann gar nicht, Manon konnte nun einmal bei keinem ernsten Thema bleiben. Immer wusste sie kleine Liebesgeschichtchen von Bekannten — Eheirrungen und andere Liebesabenteuer im Sommerbade — und von Toiletten, Juwelen, Spitzen hatte sie zu erzählen — und die kleine belgische Zofe musste hin und her huschen und Schachteln bringen, Kästchen öffnen, und selbst die ernste Geneviève bekam rote Backen. Sie lehnten gerade alle drei am grossen Mitteltisch, beugten sich tief über, stützten die Ellbogen auf und betrachteten eingehend die neue Perlenreihe, die Manon von ihrem Mann im Mai zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte — als das zweite Hausmädchen den Major meldete.

      Er war in seiner kecken Art auch gleich hinter dem Mädchen her die Treppe emporgesprungen und in die Tür getreten.

      „O, bitte, bitte, ich habe hier Onkelrechte!“ verteidigte er sein Eindringen lachend.

      Sie waren mit etwas gemachtem Aufschrei aufgefahren, in unwillkürlicher Pensionserinnerung, und Geneviève eilte ans Himmelbett und liess die schweren, gefütterten Seidenvorhänge zusammenfallen.

      „Sogar das Allerheiligste hätte offen bleiben dürfen, Mademoiselle, es wäre mir in keiner Weise unangenehm gewesen, ich bin nicht heikel.“