Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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Helene, helft mir doch!“

      Zu dritt drangen sie in ihn. Es war ihm peinlich. „Ich weiss doch selbst nichts Genaueres. Ein Autofahrer vom Kriegslazarett des ersten Korps war vorhin im Fénelon und erzählte Mordgeschichten. Die Deutschen hätten ein Blutbad angerichtet in Dinant. Ja — dreihundert Zivilisten an die Mauer gestellt und zusammengeschossen.“

      „Barmherziger Himmel!“ Manon erfasste beschwörend seine Hände. „Wo ist der Mann?“

      „Jetzt gewiss längst wieder aus der Stadt heraus. Er brachte Bestellungen für die Korpsstabsapotheke. Mehr wusste er auch wohl selbst nicht. Hat es bloss so vom Hörensagen. Man weiss ja, wie das entstellt und übertrieben wird ... Also sie hätten zum Vorwand genommen, die Boches, dass von Zivilisten aus den Häusern auf sie geschossen worden sei. Der Führer der Ulanen, ein echter Hunne, sei keiner Bitte, keiner Vorstellung, keiner Beschwörung zugängig gewesen ... Auf dem Platz zwischen der Maasbrücke und der Kirche seien sie zusammengetrieben worden ...“

      Manon schluchzte. „Ach, das ist ja so entsetzlich, so entsetzlich ...!“

      Vorübergehende blieben stehen. Eine einfache Frau, die Geneviève Laroche kannte, wagte sich näher heran und fragte, was geschehen sei. Geneviève gab Auskunft.

      Dann bildeten sich bald Gruppen in der Umgebung, in denen die ungeheuerliche Schandtat der Boches immer und immer wieder erzählt wurde.

      Die Freundinnen beschlossen, Manon sofort nach Hause zu begleiten. Und Broussart schloss sich an. Wenigstens bis zur Zitadellenbrücke wollte er mitkommen.

      Das waren dann ein paar zermürbende Stunden des Wartens. Ducat war nicht zu Hause, die Frau des Concierge konnte auch nicht sagen, wo er anzutreffen sein würde.

      Die Abendblätter brachten noch nichts über das Blutbad von Dinant. Aber über andere Greueltaten der Deutschen berichteten sie. Die deutschen Truppen waren nach den einstimmigen Berichten der Pariser Blätter nicht nur moralisch vollkommen heruntergekommen, sondern es fehlte ihnen auch bereits an der allernotwendigsten Verpflegung. Vom Hunger gemartert, führten sie bestialische Verbrechen aus. In mehreren deutschen Städten herrschte der Pöbel — die Revolution war ausgebrochen. Nicht nur Elsässer und Lothringer liefen zu den Franzosen über, sondern auch die Angehörigen vieler anderer deutscher Stämme.

      „Es wird für Deutschland eine Katastrophe kommen, wie die Weltgeschichte sie nie zuvor gesehen hat,“ sagte der Notar. Er war aus einer Abendsitzung sehr angeregt nach Hause gekommen, zerwühlte und glättete seinen Umhängebart, und auch sein bleiches Gesicht, das sonst so maskenhaft unbewegliche, zeigte Leben. Er fühlte sich in seinem Fahrwasser, wenn er mit grossen, tönenden Worten anklagen konnte. Das war auch der starke Erfolg seiner Verteidigungsreden vor dem Tribunal, dass er sich weniger seines Klienten annahm, als vielmehr dessen Gegner vor die Schranken forderte und mit diesem furchtbar ins Gericht ging.

      Heute war Deutschland der Angeklagte — personifiziert durch „le Kaiser“. Und Ducat besass eine solche Fülle von Anklagematerial, dass Helene schauderte. Sie hatte sich um politische Dinge ja nie gekümmert. Nach ihren persönlichen Erfahrungen mit deutschen Pensionsfreundinnen und deren Umgangskreis fand sie die deutsche Gesellschaft spiessbürgerlich und kleinlich. Ihre Beziehungen und ihre Sympathien hatten sich darum schon frühzeitig Manon und Geneviève zugeneigt. Und sie hätte George Martin wohl kaum geheiratet, wenn er in irgendeiner deutschen Kleinstadt ansässig gewesen wäre. Georges Urteil über seine frühere Heimat war noch absprechender als das ihre. Er hatte sich ja auch mehr in der Welt umgesehen als sie. Über den preussischen Militarismus hatte er sich oft genug lustig gemacht. Hier freilich ward er nicht mit Spott abgetan. Léon Ducat stellte ihn als die furchtbare Ursache der Zerschmetterung aller Kultur hin. Es konnte keinen Kulturfortschritt mehr geben, solange die gebildete Welt vor den eisenstarrenden Drohungen Wilhelms zurückschreckte. „Jetzt werden wir Deutschlands Militarismus zerschmettern — und auf Jahrhunderte hinaus werden wir glückliche Menschengeschlechter schaffen, denen die Segnungen der Kultur unseres aufgeklärten Volkes zugute kommen werden.“

      Manon hatten die politischen Reden schon wieder viel zu lange gedauert. Sie verging vor Ungeduld. Ihre schönen blauen Augen füllten sich immer wieder mit Tränen. Sie wusste so viel liebe, gute Züge von Henri zu erzählen. Ach, und wenn doch nur ein Mann da wäre, mit dem man sich aussprechen könnte! „Warum hast du Broussart nicht mit heraufgebracht, Geneviève? Und hat denn André gar nichts mehr von sich hören lassen? Man weiss auch nicht, wo sein Regiment hingekommen ist? Es hiess doch, sie bleiben als Besatzung hier?“

      Die Freundinnen waren schon im Begriff aufzubrechen, als Broussart sich am Telephon meldete.

      „Er hat Näheres erfahren!“ rief Manon aufgeregt ins Zimmer hinein.

      Eilig kamen Geneviève und Helene ihr nach. Auch der Notar folgte.

      Und da gab es nun ein kurzes, erschütterndes Gespräch. Broussart hatte durch einen besonderen Zufall Verbindung mit einem bekannten Oberstabsarzt bekommen, der ihm über verschiedene Punkte hatte Auskunft geben können. Es war Dumoulin, den Manon Dedonker ja auch kannte. Er hatte Henri Dedonker, der im Auto nach Dinant fuhr, kurz vor dem Maasübergang getroffen. Das war vorgestern gewesen. Dedonker hatte ihm gesagt, er sei als Adjutant seiner Sektion der Garde civique zur Information bei General Puys unterwegs. Es war also leider anzunehmen, dass er in der Nacht, in der der Überfall stattgefunden, in Dinant geweilt hatte. Die neuesten Berichte über den Massenmord, den die Deutschen in Dinant begangen hatten, lauteten so abscheuerregend, dass es ihm unmöglich war, alles wiederzugeben. Ein paar Tage lang mochte Manon noch immerhin hoffen — aber es war vielleicht noch klüger, unter diesen grausamen Verhältnissen lieber das Schlimmste anzunehmen.

      „Das heisst also — dass sie mir — Henri — erschossen haben?“

      „Ich fürchte es.“

      „O du barmherziger Gott und Vater im Himmel! Mein Henri! Mein armer guter Henri! Und wir hatten uns gar nicht so recht Adieu gesagt!“

      Mit Tränen in den Augen, von Mitleid verzehrt, verabschiedeten sich endlich die beiden Freundinnen. Und Helene fühlte, wie ein heisser Zorn gegen ihr ehemaliges Vaterland in ihr aufstieg. Zum erstenmal hatte sie unmittelbar unter der Barbarei des Krieges zu leiden. Das war keine Zeitungsnachricht, die von Greueln irgendwo und gegen irgendwen erzählte. Das traf die, die ihr am nächsten standen, und sie schämte sich der Regungen, die noch vor kurzem zu entschuldigen suchten, was unverzeihlich war.

      Die „Greueltaten der Deutschen“ füllten einen Hauptteil der Zeitungen. Sie bildeten den Mittelpunkt aller Gespräche. Deutsche beschossen die mit dem Roten Kreuz kenntlich gemachten Sanitätskolonnen und Feldlazarette der Franzosen und Belgier, sie plünderten und raubten, sie vergewaltigten Frauen und Mädchen, sie folterten ihre Gefangenen ...

      Am furchtbarsten wirkte auf Helene ein Bild, das eine Pariser Zeitschrift brachte. Es war nach einer in Belgien aufgenommenen Photographie hergestellt. Ein vierjähriges Kind, ein Mädchen, dem die Ärmchen abgehackt waren. „Ein deutscher Sieg!“ stand darunter.

      Helene weinte, das Herz drehte sich ihr im Leibe um. War denn alles, was es an Roheit und dumpfen, tierischen Trieben in den untersten Schichten des deutschen Volkes gab, an die Oberfläche gelangt und beherrschte nun die ganze Soldateska?

      Sie zitterte um das Schicksal ihres Mannes. Rechnete man ihn zu den Deutschen, so mass man ihm auch Mitschuld an all diesen Greueln bei. Und dann wehe ihm! War der Hass der Franzosen denn nicht zu verstehen?

      In ihren neuen Pariser Kostümen, mit ihrer von Manon wie von Geneviève so bewunderten Pariserinnenfigur wäre sie nirgends Gefahr gelaufen, für eine Deutsche angesehn zu werden. Immerhin war es ihr eine Genugtuung, die Helferinnentracht zu tragen. Es war ja nicht die Gefahr allein, der es auszuweichen galt, — jetzt ergriff sie schon etwas wie Scham darüber, dass sie selbst einmal Deutsche gewesen war.

      Musste nicht ein tiefer Riss durch das deutsche Volk gehen, der die wirklich Gebildeten von der durch den Militarismus irregeleiteten Masse schied?

      Der Hass in der Bevölkerung auf alles, was deutsch war, stieg von Tag zu Tag. Als das „Echo“ die Kunde von dem gewaltigen Sieg der Serben bei