Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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die das Licht voll hereinfiel. Die älteren Baulichkeiten aber unterschieden sich in nichts von der Umgebung; hier gab es noch schindelgedeckte, halbverfallene Arbeiterhäuser, windschief gewordene, scheunenartige Werkstätten, Baracken ohne Licht und Luft. Armselige Gruppen waren es, an denen das Auto vorüberflitzte. Meist Frauen, Mädchen und Kinder. Sie trugen alle den wollenen Schal, waren barhäuptig, nachlässig gekleidet, nur auffallend schmuckes Schuhwerk war an den meisten zu bemerken.

      Der Concierge war jetzt das einzige sichtbare Lebewesen der Martinschen Fabrik. Als Helene an dem geschlossenen Eisentor die Klingel in Bewegung setzte, kam der hüstelnde Alte aus einem entfernten Fabrikhof herbei. Während sie warteten, sammelte sich ein beträchtlicher Kreis Neugieriger an. Frauen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten, zeigten dabei auch wohl auf die beiden Damen. Hernach stiessen ein paar Männer hinzu, böse Gestalten, die aus einem Estaminet aufgetaucht waren. Sie waren barhäuptig, kragenlos, hatten den dicken Wollschal um den Hals geschlungen, die Hände in den Hosentaschen und spuckten.

      Beiden Damen war es eine Erlösung, als sich endlich das Eisentor auftat und sie eintreten konnten.

      Der Concierge, ein einarmiger, schmalbrüstiger Fünfziger mit tiefen Augenringen, begann sogleich ein dickes Klagelied. Keiner der Herren vom Kontor habe sich mehr auf dem Grundstück blicken lassen, und er habe hier gesessen wie in einer verbarrikadierten Festung. Mit keinem Schritt habe er die Fabrik zu verlassen gewagt.

      „Solange ich hier bin, passiert nichts, das weiss ich, denn ich stehe gut mit den Leuten. Aber wehe, wenn der Platz hier unbesetzt bleibt. Madame, sie sagten draussen: das sei hier eine deutsche Fabrik. O, es hat schwer gehalten, es ihnen auszureden. Und heute mittag kam eine Rotte Burschen, die wollten herein, und da ich sie durch den Schalter abfertigte, da warfen sie mir dort in der Ecke die Scheiben ein. Ich bin ja so verlassen hier. Wo ist Herr Challier? Wo ist Herr Lemonnier? Wer ist verantwortlich für all die Maschinen, die hier stehen? Fertig verpackt zum Versand steht alles gepfercht voll in der Packhalle. Ich tue das Menschenmögliche. Aber jetzt habe ich drei Tage nur von Kaffee gelebt. Niemand sieht nach mir, niemand entlastet mich. Und wenn eine richtige Revolte kommt, dann braucht man hier ein Piket Gendarmerie — dann kann doch ich alter, verlassener Mann das Grundstück nicht verteidigen.“

      Helene fühlte, dass ihre Handflächen feucht wurden. Die Angst vor dem Ungeheuer Volk kroch wieder an ihr empor. Es war nicht auszudenken, was für ein Schaden entstand, wenn der Pöbel hier handgreiflich wurde, unter der Behauptung, das Anwesen sei deutsches Eigentum, die Fabrikgebäude stürmte. Millionenwerte lagen hier.

      Eifrig erklärte sie dem Alten, dass jetzt auch der letzte Zweifel beseitigt sei: sie habe alle erforderlichen Papiere, um nachzuweisen, dass ihr Mann französischer Bürger sei. Auch Manon ergriff das Wort. Sie hielt es unter allen Umständen für geboten, durch eine geeignete Aufschrift am Fabriktor darauf hinzuweisen, dass der Besitzer kein Deutscher sei, und zu diesem Zweck die zuständige Polizeistation um Schutz und Aufsicht zu ersuchen.

      „Ach, Manon, wenn du mir beiständest! Ich weiss ja gar nicht, wie ich dir danken soll!“

      Manon war der kleine Ausflug eine interessante Abwechslung. Sie verging daheim ja vor Langerweile. „Also zunächst zur Polizei!“

      „Ich fürchte mich beinahe, jetzt auf die Strasse zu treten. Hör’ nur, wie heftig sie draussen durcheinander reden.“

      „Soweit ich Antoine kenne, den schwarzäugigen kleinen Spitzbuben,“ sagte sie beschwichtigend, „hat der inzwischen da draussen schon Wunderdinge über unsere Persönlichkeiten erzählt. Danach stehen wir mindestens in innigster Beziehung zum Präfekten. Also nur keine Angst zeigen, das wäre das Verkehrteste.“

      Mit ihrem sicheren Auftreten erreichte Manon bei dem Wachtmeister an der Porte de Valenciennes auch wirklich alles, was sie wünschte. Der hustende und spuckende Beamte warf sich sogar den mit der Kapuze versehenen speckigen Umhang über die Schultern und kam mit zur Fabrik. Er blieb während der Fahrt aus dem Trittbrett stehen und erzählte den Damen wichtig von grossen Unternehmungen der als Krüppel oder Untaugliche zurückgebliebenen Arbeitslosen, gegen die man hier immerzu auf der Hut sein müsse. Und zwischen den Wällen, in den alten Kasematten der Befestigung treibe sich ein ganz verwegenes Gesindel herum. Man brauchte da nur einmal eine Razzia abzuhalten und gewänne gleich mit einem Schlage ein paar hundert Drückeberger, die man der Front zuführen könnte. Höflicher Weise hörten die Damen zu, beugten sich aber auf der ganzen Fahrt stark zur Seite, denn ein ununterbrochener Knoblauchduft zog mit dem Redestrom aus seinem Munde.

      Unter der neugierigen Anteilnahme einer inzwischen ziemlich stark angewachsenen Schar Männer, Weiber und Kinder stieg der Beamte dann auf einen Leiterstuhl, den der Concierge aus seiner Loge herbeischleppte, und malte mit Kreide in grossen, steifen Buchstaben an das Eisentor: „Achtung! Französisches Eigentum! Achtung!“

      Ein paar Mädchen, an die Antoine vorhin bereits Zigaretten ausgeteilt hatte, begannen Beifall zu klatschen. Andere fielen ein.

      „Voilà!“ sagte der Wachtmeister, stolz auf den Erfolg, und spuckte.

      Helene drückte dem Concierge, mit dem sie auf ein paar Augenblicke in der Loge verschwand, ein paar Goldstücke in die Hand. „Monsieur kommt in den allernächsten Tagen zurück. Es wird sich reichlich für Sie belohnt machen, dass Sie hier so gut ausgehalten haben. Jetzt haben Sie doch keine Sorge mehr?“

      Nein, er war fest überzeugt, dass das Eingreifen des Wachtmeisters noch wirksamer war, als wenn das Departement du Nord selbst ein Dekret über den Fall erlassen hätte. Mit ihm wollte sich’s ja keiner so leicht verderben.

      Erlöst atmete Helene auf, als sie wieder neben Manon im Auto sass.

      „Wenn doch dieser Krieg nur bald ein Ende hätte! Wie sinnlos das alles ist! Hast du gehört, Manon, bei Wegscheider und Kompagnie haben sie alles kurz und klein geschlagen! Das ist die chemische Fabrik, die an unser Fabrikgrundstück anstösst. Kostbare Chemikalien ausgegossen ... Was haben wir Privatleute mit dem dummen Krieg zu tun? ... Ach Manon, meine Nerven sind jetzt ganz herunter. Wie ich dich bewundere. Du hast doch viel Furchtbareres erlitten als ich und weisst dich so himmlisch zu fassen.“

      Manon lächelte matt. „Ach, weisst du, Helene, die Sicherheit jetzt ist nicht so furchtbar wie die Ungewissheit zuvor. Jetzt, wo ich mir sage, Henri ist tot, da habe ich mich in meiner Trauer wiedergefunden. Auch der Schmerz ist etwas Schönes! Ja, vielleicht ist etwas Nonnenhaftes über mich gekommen. Ja, wirklich, Liebste.“

      Liebkosend strich Helene über Manons schlanke Hände. „Ach, Manon, ich kann es nicht fassen. Wenn George von mir gerissen würde ... Nein, ich mag es nicht ausdenken. Was hab’ ich alles schon gelitten in diesen paar Wochen.“

      In den Aussenbezirken war die Stadt nur wenig belebt gewesen. Auf den Boulevards zeigten sich stärkere Ansammlungen. Es schien nun doch ein Extrablatt erschienen zu sein.

      „Wollen wir halten lassen?“ fragte Helene mit einer unwillkürlichen Bewegung nach dem Schofför.

      Manon winkte ihr ab. „Wozu? Es ist immer dasselbe. Die Wahrheit erfährt man ja doch nicht.“

      „Du glaubst nicht an das, was berichtet wird? Wirklich nicht?“

      „Ich musste immer Pa’s Erläuterungen mit anhören. Er duldet ja nicht, dass man zweifelt. Aber es gibt im Grunde keinen grösseren Pessimisten als ihn.“

      Als das Auto über den Platz St. Sauveur sauste, entschloss sich Manon, die Freundin noch zu Geneviève zu begleiten und Antoine dort zu entlassen. Vor dem Abendessen sollte sie die letzte Anprobe bei Madame Luthin haben. Sie hatte sich es nun einmal in den Kopf gesetzt, morgen zur Messe um neun Uhr in der Kirche St. Etienne in ihrer Trauertoilette zu erscheinen.

      Beim Öffnen der Haustür in der Rue Inkerman verriet ihnen gleich das lebhafte Schwatzen der Blondköpfe, dass Ausserordentliches geschehen war. Berthe stürzte ihnen als erste entgegen. „Papa ist da!“ rief sie. Und aus dem Billardzimmer rief es Fleurette. Madeleine, Louise und Benjamin knieten im kleinen Gartensaal und leerten die Autokoffer. Berthe erzählte gleich das Wichtigste: Papa hatte die Fahrt von Dünkirchen bis Paris im Auto zurückgelegt, und jetzt war ihm in Paris wieder ein Auto