Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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gegen den Kaminspiegel und begann sich sofort Kinn und Wangen zu pudern. „Ah, und einen Duft verbreiten Sie, Manon, es ist wie eine süsse Woge von Sinnlichkeit und Religion. Man möchte zugleich küssen und anbeten.“

      Geneviève, die keine Leichtfertigkeiten dulden wollte, sagte: „Sie vergessen wieder einmal, dass Zeugen hier sind, Ducat.“

      Er puderte sich ruhig weiter. „Bewahre, Mademoiselle Geneviève, denen mache ich bloss den Mund wässerig.“

      „Uns? Mir auch? Ach, Ducat, Sie wissen doch gut genug, dass ich Sie nie leiden mochte.“

      „Einbildung, Mademoiselle. Sie sind ja viel zu intelligent, als dass Sie meine Vorzüge übersehen könnten.“ Er liess sich lachend von Manon mit einem Tuch die Finger abreiben, dann küsste er den Damen nacheinander die Hände. „Madame Martin — ja, was fangen wir nun an? Da sitzen Sie ohne Mann, wie unsere arme Manon, und müssen Abend für Abend in Ihr liebeleeres Strohwitwenbett ...“

      „André,“ rief Manon, „ich sage es Papa, wenn Sie sich nicht besser benehmen.“

      „Aber ich will doch das Beste. Ach, meine liebsten Freundinnen, wenn Sie wüssten, wie gut ich’s mit Ihnen meine. Sie stossen mich alle drei zurück. Warum? Geneviève freilich — ja, die will eben leider gleich geheiratet sein, die kennt noch nicht die höhere Lebenskunst. Ich mache es Ihnen nicht etwa zum Vorwurf, Fräulein Geneviève. Aber diese beiden entzückenden jungen Frauen — diese beiden ganz entzückenden jungen Strohwitwen ...“

      „Was für unverschämte Funkelaugen er machen kann!“ Manon lachte ihre kokette Tonleiter. „Helene, wir wollen so tun, als wären wir wahnsinnig verliebt in ihn. Er ist imstande und glaubt es.“

      Sie spielte mit ihrem Übermut, aber es lag doch eine gewisse Schwüle in ihrem Verkehr mit dem Vetter.

      Die lose Unterhaltung fand ihr Ende, da die Zofe berichtete, die Herren warteten unten auf den Tee.

      Léon Ducat verbreitete wie sein Haus eine feierliche Unbehaglichkeit um sich. Sein Ton war ernst, gewichtig, er sprach fast immer über Politik, seine Miene war düster. Er war gewohnt, überall als Hauptperson angesehen zu werden, hatte auch das Talent, sich durchzusetzen. Sie kannten schon seine Art. Eine Weile strich er gemessen seinen dunkeln Bart, der im Halbrund von einem Ohr zum anderen lief und das ganze mächtige Kinn freigab, allmählich wurden die Bewegungen heftiger, und dann warf er den Kopf zurück, so dass der Bart fast wagerecht in die Luft schnitt, und er begann zu reden, seltsam nervös mit der Rechten in die Luft fassend. So begann er seine berühmten Plaidoyers, so sprach er als Deputierter in den Versammlungen, so mitunter auch im Kreise von Bekannten, wenn ihm irgendeine Sache wert genug schien, sich dafür einzusetzen. Die Lider legten sich müde über die Augen, und ein Leidenszug durchgeistigte sein Gesicht. Opfer, Pflicht — das waren Lieblingsworte von ihm. Er stritt oft mit Laroche, der ihm nicht flammend genug in seinem Patriotismus war.

      „Die Würfel sind gefallen. Sagen Sie mir nichts über die Belgier. Sie erfüllen ihre Aufgabe, uns die Deutschen vom Halse zu halten, bis wir unseren Aufmarsch vollendet haben. Dann kommt die Katastrophe für diese Frevler an aller Kultur des Friedens und des Fortschritts. Es liegt ihnen schon in den Fingerspitzen. Wenn die Militärs in Barbarien drüben auch noch die Sklaven Guillaumes sind — das Volk lehnt sich bereits auf. Hier ist der ‚Figaro‘. Sie haben ihn noch nicht gelesen? Wie! Die Depesche aus Brüssel?“

      Die Herren standen am Billard; er breitete das Blatt darauf aus. Auch die Damen traten in Spannung dazu.

      Helene traute ihren Augen nicht, als sie die fast ein Viertel der Seite einnehmende Überschrift gewahrte: „Le Kaiser et le Kronprinz conspués à Berlin.“ Laroche las die Depesche vor. Einwandfreie Zeugen des Vorfalls, die soeben mit grossen Schwierigkeiten aus Berlin entkommen und in Brüssel angelangt waren, berichteten darüber. Unter den Linden hatten sich die stürmischsten Szenen abgespielt. „Nieder mit dem Kaiser! Nieder mit dem Kronprinzen!“ hatte die Menge geschrien.

      Der Notar begann seinen Bart zu streichen. „Der Anfang vom Ende ist da.“

      „Aber wie steht es mit Lüttich, Papa?“ fragte Manon. „Noch immer nichts Sicheres?“

      „Sie bombardieren Lüttich, die Boches, daran ist kein Zweifel. Aber die belgische Armee hat in Spaa zwei deutsche Ulanenregimenter vernichtet. Nicht schlecht als Vorspeise, wie? Die Wut der Belgier soll sehr gross sein, denn es steht zweifellos fest, dass die preussische Artillerie sich zu allererst immer die Ambulanzen als Ziel aussucht.“

      „Das ist ja abscheulich!“ rief Geneviève. Mit grossen Augen sahen die drei Damen den Sprecher an.

      „Der englische Vizekonsul hat mit dem Chefredakteur des ‚Echo‘ darüber gesprochen. Ins Abendblatt kommt ein fulminanter Artikel.“

      Laroche meinte unbehaglich: „James Walker war nie mein Mann. Er hat mich da gestern zu einer Sitzung eingeladen — die englische Kolonie bereitet eine Adresse vor an den Maire —, aber ich bin nicht hingegangen.“

      „Das ist unrecht, lieber Laroche.“

      „Ich bin bei jedem patriotischen Werk — aber es darf nicht nur aus Schimpfen bestehen. Jetzt folgen einander überall die Wutausbrüche gegen die Deutschen. Scheiben werden eingeschlagen, Läden erbrochen, Waren geraubt. Diese Art von Patriotismus schätze ich nicht. Ich bin gegen jede Begeisterung, die durch Polizei in Schranken gehalten werden muss. Dann lieber ein bisschen weniger Begeisterung. Das bezeichnet die Höhe unserer Kultur: dass jeder Mann im französischen Volke in dieser Zeit die Polizei über sich selber ausübt!“

      Manon bereitete den Tee, die Freundinnen halfen, es wurden Zigaretten geraucht, dazwischen kleine feine Kuchen geknabbert. André ass eine bestimmte Sorte von Makronen besonders gern, und alle Damen wussten es, grosse Schachteln davon waren ihm gleich in den allerersten Tagen der Mobilmachung von verschiedenen Seiten geschickt worden. „Von lauter glühenden Verehrerinnen natürlich,“ sagte er lustig neckend.

      „Sie haben uns nun noch gar nichts von draussen erzählt, André. Pa muss endlich mit seiner Politik aufhören. Und seht nur, Helene hat schon eine ganz weisse Nase. Sie fürchtet immer, sie könnte auch noch aufgegriffen werden. O, Helene, Süsse, lass dich auslachen. Du hast doch mit den grässlichen Boches nichts gemein.“

      Helene seufzte. „Mein Gott, so gereizt und planlos, wie jetzt überall die Menge ist ...!“

      „Ja, und André Ducats Regiment?“ sagte der Major. Er machte eine militärische Verbeugung gegen Helene. „Ich bitte, zu verfügen, Madame Martin. Sie rufen — ich komme. Sie wünschen — ich befehle — und viertausend Mann meines Regiments gehorchen und stehen zu Ihrem Schutz bereit.“

      „Nun wirst du doch sicher sein?“ meinte Geneviève. „Viertausend Mann!“

      „Und wenn Sie mich ganz allein rufen — ohne Regiment — können Sie sich gerade so geborgen fühlen.“

      „Ich würde auf das Regiment lieber doch nicht so ganz verzichten,“ sagte Helene lächelnd, schon ein bisschen sicherer geworden. Sie gab ihm aus plötzlichem Antrieb beide Hände. „Es ist lieb von Ihnen, dass Sie sich meiner annehmen wollen.“

      „In jeder Hinsicht. Auch als Ersatz für den guten George — natürlich nur so lange, bis er zurück ist.“

      „Kann der Mensch auch nur drei Minuten ernst bleiben?“ rief Manon und lachte.

      „Warum soll ich durchaus ernst sein? Dafür ist Vetter Léon da. Seht euch bloss seine Miene an. Der Prediger in der Wüste.“

      „Es stösst mich ab, André, in dieser Zeit leichtfertige Reden zu hören. Und auch den Damen muss ich ernste Vorhaltungen machen. Jawohl. Die Stunde fordert Opfer. Von jedem. Warum ist keine von den Damen beim Wohltätigkeitswerk tätig?“

      Laroche nahm sofort seine Tochter in Schutz. Geneviève — das wusste Helene zu bezeugen — war vom frühen Morgen an im nationalen Interesse beschäftigt. Sie hatte Laroches Listen für die Unterstützung von Frauen und Kindern begonnen, deren Ernährer ins Feld abmarschiert waren. In aller Stille, mit viel Gewissenhaftigkeit,