Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
Скачать книгу
wie er sich diese Aufgabe gedacht hatte. Da die städtische Unterstützung nicht ausreichen konnte, wollte er die allerschlimmsten, allerdringlichsten Fälle heraussuchen, für die etwas Besonderes geschehen musste. Er hatte von sich aus zunächst einmal fünfzigtausend Francs dafür ausgeworfen, und er hoffte, dass mit der Zeit auch die reichen Bürger der Stadt sich durch Spenden beteiligen würden.

      „Sicher, sicher,“ sagte der Notar. „Denn der Plan ist gut, ist hochherzig.“ Aber es fiel Ducat nicht ein, auch nur tausend Francs selbst zu zeichnen. Immer hörte er an Laroche vorbei.

      André hatte für die wohltätigen Damen nur Spott. In Armentières hatte er sie in den Schulen und Werkstätten beobachtet, wie sie die Monturen auf Festigkeit der Nähte und der Knöpfe durchsahen. „Eine einzige gelernte Arbeiterin leistet mehr als ein Dutzend von diesen verwöhnten, feinfingerigen Damen. Und nun erst in der Krankenpflege — o mein Himmel! In gesundem Zustand sich den holden Wesen in die Hände zu liefern ist schon gefährlich — aber man denke: hilflos, als Verwundeter, ihnen preisgegeben zu sein!“

      Der ernste Vetter nahm nie für voll, was der Major sagte. Aber auch Laroche erklärte den Dilettantismus, der sich jetzt plötzlich auf allen Gebieten breit machte, für bedenklich. „Was für Pflänzchen hier ins Rote Kreuz eingetreten sind — Sie sollten den Transport gesehen haben, Ducat, der heute früh von Roubaix abging! Und die Stimmung unter den Ärzten ist wenig schön. Mein Neffe, der Pierre, wollte sich freiwillig melden. Bei einem Militärlazarett anzukommen, ist aber ganz ausgeschlossen. Es gibt dort zu viel Käppis mit rotsamtenen, goldbetressten Streifen. Und solche Zerfahrenheit herrscht da. Krankenwärter laufen fort; Chefärzte sitzen in den Kaffeehäusern herum.“

      „Laroche — aber ich bitte Sie ...“ Entsetzt strich der Notar seinen Bart, immer heftiger, immer heftiger.

      „Ich finde es nicht nett, dass wir uns wegen dieser Geschichten in die Haare geraten,“ lenkte André ein. „Ich für mein Teil freue mich jedenfalls aufrichtig darüber, dass keine unserer holden Freundinnen Chlorschwester geworden ist.“

      Endlich drang Andrés lustigerer Ton durch. Manon reizte ihn immer wieder. Es war alles, was er sagte, gewagt, aber er hatte eine so keck erfrischende, trotz seiner Jahre manchmal bubenhaft drollige Art, dass man ihm nicht gram sein konnte.

      Laroche hatte den Hausherrn beiseite genommen. Ihm müsse es doch eine Kleinigkeit sein, droben auf der Präfektur durchzusetzen, dass endlich einmal der Fall Martin klargestellt würde. Er selbst konnte bei diesem verknöcherten Bureaukratismus, auf den er dort allenthalben stiess, nichts durchsetzen.

      Der Notar strich seinen Bart und machte ein sehr, sehr ernstes Gesicht. Gefälligkeiten von ihm zu erreichen, hielt schwer. Fast stets gab es da Prinzipien, hinter denen er sich verschanzte. Auch in dieser Angelegenheit hielt er im Interesse von Laroches Schützling ein Eingreifen nicht einmal für ratsam.

      „Sehen Sie, mein Freund, in dem Augenblick, in dem sich ergibt, dass die Naturalisierung bei Kriegsausbruch noch nicht ausgesprochen war, in dem Augenblick verliert auch Madame Martin den Anspruch darauf, als Französin gelten zu können.“

      Helene hatte sich aus der lustigen Gruppe halb losgelöst. „Herr Ducat,“ sagte sie, schon wieder von innerlichem Zittern erfasst, „Sie würden mich am Ende also gar — ausliefern wollen?“

      „Es ist ja bloss akademisch gesprochen. Aber falls sich ergeben sollte, dass Sie Deutsche sind, — ja, mein Gott, dann wäre es doch für uns unmöglich, weiter mit Ihnen zu verkehren.“

      „Wäre ich denn dann ein anderer Mensch? Bin und bleibe ich nicht die, als die Sie mich alle kennen? Manon, Geneviève — helft mir doch!“

      „Ach, Süsse,“ rief Manon und nahm sie um den Hals, „lass dir doch von Pa keine Furcht machen!“

      „Im einzelnen Falle wird einem Menschen von feinerem Empfinden manches hart ankommen. Aber es gibt Pflichten gegen Frankreich,“ sagte Herr Léon Ducat mit ernstem Nachdruck, „die niemand leicht nehmen sollte.“

      „Pa, du übertreibst immer gleich alles so furchtbar.“

      „Ich habe Herrn Laroche nur erklärt, weshalb ich es für empfehlenswert halte, die Herbeiführung der Sicherheit nicht zu beschleunigen.“

      „Aber ich leide unter dieser Unsicherheit!“ rief Helene. Die Tränen traten ihr in die Augen.

      „Léon, ist es die Möglichkeit?“ warf der Major ein. „Du kannst einer Bitte aus diesen himmlischen Augen, aus diesem zum Kuss geschaffenen Munde widerstehen? Ja, bist du denn von Stein, Vetter?“

      Der Notar hob die Achsel. „Gut, gut. Ich werde also morgen mit dem Präfekten sprechen, ihn bitten, das betreffende Ressort anzuweisen, dass es mir einen Beamten zur Verfügung stellt, um die Akten ausfindig zu machen.“

      „Warum nicht heute?“ bat Geneviève. „Lieber Herr Ducat, unsere Helene schläft dann vielleicht schon besser.“

      Ein kurzes Schweigen. Ducat strich seinen Bart. „Vielleicht aber auch — nicht mehr bei Ihnen,“ sagte er halblaut.

      „Wieso nicht mehr bei uns?“

      „Alle Angehörigen des feindlichen Auslands, die jetzt noch in Frankreich weilen, müssen in den Konzentrationslagern untergebracht werden. Ausnahmen gibt es da nicht.“

      „Und Sie meinen — Helene —?“

      Er machte eine bedauernde Bewegung.

      Geneviève fasste Manon unter den Arm. „So. Also das sage ich dir, Manon: deinem Papa kündige ich hiermit die Freundschaft.“

      Der Major fand die ganze Auseinandersetzung peinlich und überflüssig. Aber er stellte fest, dass Helene die Tränen reizend standen. Leise sagte er zu Geneviève: „Wir wollen uns drücken. Vetter Léon hat heute wieder seinen Prinzipienteufel in sich. Dann ist er ungeniessbar. Ich begleite Sie. Ja, wollen Sie mich mitnehmen?“

      „Es dunkelt schon, Ducat, da darf man sich nicht mehr an Ihrer Seite zeigen.“

      „Habe ich einen so schlechten Ruf hier?“

      „Sie nicht. Nur die Damen, mit denen Sie gehen.“

      „O, wie boshaft ... Aber, Fräulein Geneviève, glauben Sie denn, ich würde nicht viel lieber immer mit Ihnen gehen als mit Fifi oder Lou oder Laurette?“

      Geneviève lachte. „Wenn nur das zeitraubende Heiraten nicht dazu gehörte!“

      Sie entschieden sich alle fast im selben Augenblick zum Aufbruch. Manon war sehr betrübt. Sie bestand darauf, dass André rasch noch einen seiner Kuchen ass, bevor er ging. Seufzend sah sie die Gäste scheiden. Wenn wenigstens eins von ihnen zu Tisch geblieben wäre. Sie langweilte sich über die Massen in der Gesellschaft ihres Vaters.

      Noch in der Marmorhalle draussen trieb André seine Spässe. Er zeigte den Damen einen neuen Tango. Helene, die in all diesen internationalen Künsten erfahren war, sollte durchaus seine Partnerin sein. Aber sie lehnte lebhaft ab; sie kannte die Art des Majors zu tanzen nur zu gut. Manon rief übermütig hinunter: „Wenn Sie zu Tisch bleiben, André, dürfen Sie mir ihn hernach beibringen.“

      „Ich möchte mich zerreissen,“ sagte der Major. „Zu Tisch muss ich ins Kasino — und hernach ...“

      „Wir wollen gar nicht hören, wo Sie hernach sein werden!“ schnitt ihm Geneviève das Wort ab. Sie hielt sich die Ohren zu.

      Lachend gelangten sie auf die Strasse.

      Sie waren noch nicht bis zum Boulevard de la Liberté gelangt, als André seinen Schatten gewahrte: Ebenezer Drachmen stand neben dem Eingang zum Café an der Ecke. Er war immer gerade da, wo der Major ihn brauchte. Das war kein grosses Wunder, denn Drachmen lebte nur dafür, sich für seinen Chef in Bereitschaft zu halten. Es kam ihm gar nicht darauf an, ein paar Stunden unnütz irgendwo zu warten. Hatte Ducat keine Verwendung für ihn — nun, so trollte er sich wieder.

      Jetzt rief ihn der Major mit seinem leisen Spitzbubenpfiff an. Sofort war Ebenezer Drachman an seiner Seite. Helene hörte