Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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der Mauer von Menschen konnten sie nichts sehen. Geneviève hüpfte lachend ein paarmal in die Höhe, um einen Blick über die Köpfe zu erhaschen. Aus einem Erdgeschossfenster rief da ein Mann dem Dreiblatt zu: „Im Hausflur steht eine Bank, Monsieur Laroche. Ich werde sie Ihnen durch meinen Jungen schicken.“

      „Danke! Danke! Ich hole sie selbst!“ Und Laroche kam gleich darauf, flott eine Bank über dem Haupt balancierend und die Melodie der Kapelle mitsummend, aus dem Hause zurück. Er kannte den Fremden nicht; es kam aber häufig vor, dass man ihn bei seinem Namen ansprach.

      Von ihrem erhöhten Standplatz aus übersahen sie bequem den Teil der Strasse bis zum Boulevard, aus dem der Anmarsch der Truppen erfolgte. Aber das waren nicht nur Soldaten, nein, Männer in Zivil, Knaben, Frauen, Kinder, Mädchen zogen aus beiden Seiten der Kolonne mit. Viele weinten. Viele lachten. Viele sangen. Aus den Reihen der Soldaten wurden Scherzworte in die Menge geworfen. Ein blondbärtiger Herr, den man allerdings leicht für einen Deutschen halten konnte, und der festgekeilt in der zweiten Reihe hinter einem Zigarettenverkäufer stand, hatte viel auszustehen. Einer spie sogar nach ihm. Er sei kein Deutscher, verwahrte sich der. „Was will der Uhrendieb?“ riefen sie. „Du, sag’ doch, Alboche!“ — „He, wo hat er seine Mobilisationsorder?“ — „Du, bald trinken wir in München einen Bock!“ So schob sich das weiter und weiter. Dichter Staub lag über allem. Es roch nach Leder und Schweiss und Zwiebeln. Dazwischen flatterten Wolken von Zigarettendampf. Der Blonde lachte nervös und teilte immerzu Zigaretten aus; er kaufte dem Jungen den ganzen Vorrat ab. Er sei Schweizer, versicherte er mehrmals. Aber er blieb während des ganzen Vorbeimarschs ein Angriffsziel. Helene klopfte das Herz, jedesmal, wenn es gegen den Blonden ging, musste sie an Schneider denken; und wieder überschlich sie eine heimliche Furcht vor diesem Volk, dem sie von Kind auf vertraut war, die Furcht, als sei es ihr in der Tiefe des Herzens doch immer noch fremd geblieben.

      Aus der Menge auf der anderen Seite der Strasse schrie einer mit fast komisch hell und hoch klingender Stimme: „Marcel, Marcel!“ Und in einer Gruppe von Soldaten hob einer das Gewehr hoch, auf dem ein grosser Rosenstrauss steckte. „Marcel, bring’ mir eine Pendule mit von den Alboches! Gib dir Müh’, dass du die findest, die sie meinem Grosspapa anno Siebzig gestohlen haben!“

      Darüber gab’s ein schallendes Gelächter. Am lautesten lachte der Blonde. Einer wiederholte es dem andern. In der einsinkenden Dämmerung und dem dicken Staub unterschied man nicht mehr die einzelnen Gestalten, nur noch die blaue, quirlende, rinnende, brandende Woge, auf der einzelne Reiter vorbeigetragen wurden, Blumen, Bänder, Gewehrläufe, da in die Luft zappelnde Kinderarme, Sommerhüte von Bräuten, Schwestern, Frauen ...

      Längst hörte man nichts mehr von der Musik. Aber mit dem neuen Bataillon, dessen Spitze eben um die Ecke bog, kam ein ganz neuer Eindruck. Kein Lärmen, kein Schreien in der Truppe; auch die Volksmenge horchte allmählich auf.

      „O, sie singen ‚Quinquin‘!“ sagte Geneviève, die in der Mitte auf der Bank stand. Und sie packte ihres Vaters und Helenens Arm und presste sie an sich. Es erschütterte sie geradezu, dass diese in den Krieg ziehenden erwachsenen Männer den wunderhübschen Einfall hatten, hier beim Vorbeimarsch am Denkmal von Desrousseau, dem Liller Volkssänger, dessen volkstümlichstes Lied anzustimmen, das Wiegenlied im Liller Platt, das wohl den meisten in der Kindheit von Mutter, Schwester, Tante oder Wärterin einmal vorgeträllert worden war. Und da es nun zu Sieg oder Tod ging, wirkte sie so herzlich, so sinnig, die alte liebe Kinderweise.

      „Dors, min p’tit quinquin, min p’tit pouchin, min gros rojin, Te m’f’ras du chagrin, si te u’dors point qu’à d’main!“

      Sie klatschten Beifall. Sie sangen hüben und drüben mit. Aber die Kehle ward ihnen eng dabei. Nun konnte auch Laroche nicht mehr an sich halten. Er schluchzte plötzlich auf. Aber gleich darauf lachte er, er zwang sich dazu, und dann stimmte er mit seiner schönen Stimme in das Kinderlied mit ein. Dazwischen gab’s wahre Beifallssalven, sobald eine am Denkmal vorbeiziehende Kompagnie gerade eine Strophe beendigt hatte. Und in das zärtlich-neckische Schlummerliedchen mischten sich schon wieder die Fanfaren der Kapelle, die dem letzten Bataillon voranzog.

      In Helene kämpften Angst und Rührung. Eine plötzliche Gorge um ihren Mann peinigte sie. Und irgend etwas trieb sie, Geneviève den Gefallen zu tun und dem blutjungen Fähnrich, der den letzten Zug führte, Kusshände zuzuwerfen. „Ja — muss man sie nicht liebhaben?“ sagte sie, nur um nicht zu schweigen.

      Geneviève schluchzte leise auf. „Rocher ist erst siebzehn Jahre!“

      „Ich freue mich, dass Sie das mit erleben, Helene,“ sagte Laroche. Zum erstenmal nannte er sie bei ihrem Vornamen. Und er küsste erst seine Tochter, dann sie je zweimal auf die Wangen, links und rechts vom Mund. Geneviève fuhr sich immer wieder über die Augen. Sie war ganz aufgelöst. Beim Küssen aber verloren sie das Gleichgewicht, und sie mussten schleunigst alle drei von der Bank hinunterspringen.

      Da lachten sie dann und zogen aus dem Umweg nach Hause.

      Helene wusste, dass Laroche sie lieb hatte. Es war eine seltsame Mischung von väterlicher Güte und manchmal heiss aufflammender Sinnlichkeit, die den Fünfzigjährigen ganz verwandeln konnte. Sie hatte damit gespielt, sie war es ja gewohnt, dass man ihr den Hof machte. Aber in dieser Stunde trieb sie ihre unbestimmte Angst, mehr als sonst aus sich herauszugehen, in Ton und in Blick, und sie liess es geschehen, dass er sie im Weitergehen zärtlich an sich drückte. Innerlich schalt sie wohl mit sich: das ist Feigheit. Aber so recht kam sie in dem Wechsel der Eindrücke und der Stimmungen gar nicht zur Besinnung über sich selbst. Nur dass sie einen Schutz brauchte, das wusste sie.

      In der Inkermanstrasse wurden sie im Flur, im Treppenhaus und in dem langen, schmalen, an den Wintergarten anstossenden Erdgeschosssaal, der nach der Strasse zu als Salon, jenseits der Samtportierenteilung als Speiseraum diente, stürmisch von der ganzen Familie Laroche empfangen. Alle sprachen sie zu gleicher Zeit. Das war eine Aufregung — aber eigentlich kam niemand zu Worte. Am wenigsten die Hausfrau, die darüber mit den Kindern zu schmollen begann.

      Helene hatte sich früher eine französische Familie ganz anders vorgestellt gehabt als die Laroches. Die „Apfelgesichter“ hatte sie sie genannt. Laroche selbst war ja als Franzose unverkennbar, auch Geneviève, aber von der blonden, dicklichen, gutmütigen Mama Laroche an bis zum kleinen Benjamin hätten sie alle ebensogut aus Pommern stammen können. Frau Laroche war übrigens sehr gekränkt, wenn man sie nicht für eine Vollblutfranzösin, sondern etwa für eine Flämin hielt. Eine ihrer Grossmütter war sogar Pariserin. Die jüngeren Töchter hatten eine fabelhafte Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Der Ehe waren acht Kinder entsprossen, sechs befanden sich noch am Leben. Die Lücke, die der Tod der zweiten und dritten Tochter gerissen hatte, zeigte sich zwischen Geneviève, die jetzt einundzwanzig Jahre alt war, und der fünfzehnjährigen Berthe. Louise zählte dreizehn, Fleurette elf, Madeleine zehn Jahre. Mit Benjamin, dem jetzt Neunjährigen, hatte der Segen sein Ende gefunden. Familien von so starker Kopfzahl bildeten auch hier in Lille eine Ausnahme, wenn freilich in Flandern das Zweikindersystem nicht so vorherrschte wie in Paris. Laroche konnte sich bei seinem grossen Reichtum den Luxus zahlreicher Erben gönnen. Die Einkünfte aus seinen Weingütern versprachen allen fünf Schwiegersöhnen gute Zeiten. Übrigens stammte auch Frau Laroche aus einer der reichsten Webereibesitzersfamilien des Dreistädtebezirks.

      Frau Laroche war ein bisschen weinerlich; sie liess sich gern bedauern, hatte ja auch meist über irgend etwas zu klagen. Sie machte ein Schmollmäulchen gerade wie Berthe und Madeleine. Und immer war es Geneviève, die ihr zusprach, sie beschwichtigte, weil sie wusste, dass der Vater die ewig kindliche Art von Mama nicht mehr recht vertrug.

      Die Heimgekommenen wollten von draussen erzählen, die Daheimgebliebenen hatten zu berichten, was an Neuigkeiten inzwischen ins Haus gelangt war. Es war nicht wenig.

      Berthe stürmte gleich aus Frau Helene zu, packte sie in ihrer drollig ungeschlachten Art an beiden Armen und rief: „O, — und Manon sucht Sie wie eine Stecknadel. Sie hat drüben bei Ihnen angerufen — bei uns — immer wieder. Manons Vetter André, der Herr Major, hat den Drachman hergeschickt — im Automobil aus Armentières. Ebenezer Drachman ist sein Unterleutnant, Sie wissen doch? Der kam direkt aus Paris. Und da hat er erzählt, er habe Monsieur Martin gesehen, denken Sie, und er sei