Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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Berichten dieser Art war Susannes Name den regelmäßigen Zeitungslesern natürlich ein Begriff. Man untersuchte und überprüfte ihren persönlichen Hintergrund, veröffentlichte alles bis ins Detail, von der ersten harmlosen Prügelei in der Grundschule bis zur Behandlung in der geschlossenen Psychiatrie im letzten Sommer.

      Susanne zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie ein Interview mit Professor Doktor Ulrich Malwik entdeckte. Zwar erklärte er, er unterliege der Schweigepflicht und könne sich daher nicht zu einzelnen Patienten äußern, fügte aber dennoch hinzu, dass Susanne ein „sehr komplizierter Fall“ sei, der dringend nach einer qualifizierten Behandlung verlange. Er bedauere zutiefst, dass ein Mensch fast mit dem Leben bezahlt hätte – damit meinte er das Schwein Egert –, ebenso wie er zutiefst bedauere, dass Susanne die Flucht aus der Klinik gelungen sei. Es bliebe nun nur zu hoffen, dass bis zu ihrer Ergreifung nicht noch mehr Menschen in Gefahr gerieten.

      Susanne schüttelte den Kopf. Von Malwik hing damals ihre Zukunft ab; er sollte, nach endlosen Gesprächen und Untersuchungen, ein Gutachten über ihren Geisteszustand verfassen. Dieses Gutachten hätte dann über ihre weitere Zukunft entschieden, und nun konnte sie erahnen, wie diese Zukunft ausgesehen hätte. Der Psychiater nannte sie in dem Artikel eine „unruhige“ und „widerspenstige“ Patientin. Einen Menschen, der alle Autoritäten infrage stellte und seine Emotionen nicht im Griff hatte.

      Als Nächstes verfolgte Susanne die Charakterisierung ihres „Opfers“: Helmut Egert. Er wurde in einer Abendzeitung eingehend porträtiert, und der Leser musste bei der Lektüre zu der Überzeugung gelangen, dass hier ein ehrenwerter Mitbürger nur knapp dem Tod entkommen war. Das abgedruckte Foto zeigte ihn wohlwollend lächelnd. Nichts deutete darauf hin, dass man sich vor diesem Mann besser in Acht nehmen sollte. Man beschrieb ihn als geachteten Steuerzahler, der sogar ehrenamtlich in einem Tierheim arbeitete.

      Susanne verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln, welches ihr jedoch sofort wieder verging, als sie den Namen Lisa Vollrath las: die weibliche Hauptperson des Dramas; die Frau, die der ehrenwerte Mitbürger Egert hatte vergewaltigen wollen. Ihr widmete man vergleichsweise wenig Raum. Man schilderte sie als sympathische, zurückhaltende junge Frau, die sich nicht zu dem äußern wolle, was sich in jener Nacht im Hinterhof der Kneipe abgespielt habe.

      Ausgerechnet die Frau, die die ganze Geschichte hätte aufklären können, wollte sich nicht dazu äußern. Susanne atmete tief durch und schüttelte den Kopf.

      In dieser Sekunde klingelte das Handy, und sie zuckte zusammen. Jedoch nur für eine Sekunde, dann beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Niemand außer ihrem Bruder und Yvonne kannten die Nummer, also konnte es nur einer der beiden sein. Sie nahm das Gespräch an.

      „Susanne? Hörst du mich?“ Jörg schien völlig außer Atem. „Hör mir gut zu. Du musst mir gut zuhören. Du musst aus dem Haus verschwinden. Sofort.“

      Susanne hörte die Worte und spürte im selben Moment, wie etwas in ihr zusammenbrach. Ein Turm aus Hoffnungen, der im Bruchteil einer Sekunde einstürzte und nichts als Angst hinterließ. „Was ist passiert?“, fragte sie.

      Jörg antwortete nicht darauf. Stattdessen sagte er noch einmal: „Du musst aus dem Haus verschwinden. So schnell wie möglich. Hörst du mich? Du bist dort nicht mehr sicher. Pass gut auf dich auf.“

      Die ganze Welt schien sich mit einem Mal wie wild um Susanne herumzudrehen. Ihr Puls pochte in Brust und Armen. Wenn Jörg sagte, dass sie verschwinden musste, dann musste sie das tun. Und zwar sofort. Mit zitternden Knien durchquerte sie das Wohnzimmer und betrat die Küche. Ihre Tasche, die immer zur Abreise gepackt war, lag auf dem Fußboden unter dem Küchentisch. Sie eilte darauf zu und griff danach. Als sie sich wieder aufrichtete und umdrehte, sah sie in den Lauf einer Pistole.

      Susanne blieb das Herz stehen.

      Der Polizist stand genau vor ihr, vielleicht einen Meter entfernt. „Keine Bewegung.“ Er sagte es auf Norwegisch, aber es war dennoch nicht falsch zu verstehen.

      Susanne bewegte sich trotzdem. Sie wich zurück, stolperte und stieß gegen einen Stuhl.

      „Keine Bewegung“, sagte der Polizist noch einmal.

      Warum macht man die verrücktesten Dinge des Lebens? Weil man die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat.

      Allein aus diesem Grund griff Susanne, ohne noch einmal darüber nachzudenken, nach dem Stuhl hinter sich und schmetterte dem Polizisten das Möbelstück gegen den Kopf. Er fiel zur Seite, und sie taumelte rückwärts, weil der Schwung des Stuhles sie mitriss. Dann prallte der Mann auf dem Boden auf, und sie sprang durch das geschlossene Fenster.

      4. KAPITEL

      Was jetzt kommt, wird heftig werden

      Schwarzwald

      Nachdem sie die Apotheke wieder verlassen hatte, blieb Eva einen Moment stehen und benutzte ihren Inhalator, dann setzte sie sich erneut in Bewegung. Dicke Schneeflocken fingen sich in ihren hellroten Locken. Irgendwo bellte ein Hund, ansonsten war die Straße menschenleer.

      Endlich wieder bei ihrem Wagen angekommen, durchsuchte sie den Inhalt ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln, fand sie, schloss auf und hatte sich gerade hineingesetzt und die Tür zugeschlagen, als sie von außen wieder aufgerissen wurde. Im Türrahmen erschienen die Umrisse eines Mannes. „Raus aus dem Wagen! Sofort!“

      Starr vor Schreck, bewegte Eva sich überhaupt nicht.

      Bereits in der nächsten Sekunde griff eine Hand in den Wagen, die sie herausziehen wollte. Sie wich zurück, drückte sich so tief in den Sitz, dass der Mann sich zu ihr hineinbeugen musste, um sie mit einer Hand am Mantel zu packen. Mit der anderen Hand drückte er ihr etwas an den Kopf. „Komm raus oder ich knall dich gleich hier ab!“

      Eva spürte eine Waffe an der Stirn und immer mehr Eiseskälte in der Magengrube. „Wollen Sie Geld?“, fragte sie zitternd. „Ich habe etwa vierzig Euro …“

      „Kein Geld. Raus aus dem Wagen! Sofort!“

      Mit zittrigen Beinen stieg Eva aus. Ihr Herz hämmerte nur so gegen ihre Brust.

      „Du gehst jetzt mit mir zu dem Kastenwagen dort drüben“, sagte er. „Und zwar ohne einen Mucks. Ein Trick von dir und ich knall dich ab. Kapiert?“

      Eva bewegte sich trotzdem nicht. Denn wenn sie erst einmal in dem Kastenwagen war – das wusste sie instinktiv –, dann gab es keine Rettung mehr für sie.

      „Soll ich dich gleich hier umbringen?“, schrie er sie an. „Willst du das, ja?“ Er drückte den Lauf der Waffe genau zwischen ihre Augen. „Macht mir nichts aus! Macht mir gar nichts aus! Ich knall dich gleich jetzt und hier ab, du dämliche …“

      Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

      Obwohl sich das Folgende binnen weniger Sekunden abspielte, schien sich die Zeit mit einem Mal zu verlangsamen und dann fast zum Stillstand zu kommen: Etwas zischte an Eva vorbei, sie spürte es mehr, als dass sie es hörte, und der Mann schrie auf, was ein seltsames, krächzendes Geräusch war, das ihm in der Kehle stecken blieb. In der nächsten Sekunde – oder war es noch dieselbe? – blickte er mit ungläubigem Gesicht auf seine rechte Schulter und stellte fest, dass er blutete. Dann ließ er die Waffe fallen und kippte nach vorne. Noch im Fallen griff er nach Evas Mantel. Sie verlor den Halt und ging ebenfalls zu Boden. Sofort versuchte sie, wieder aufzustehen, rutschte aber mit den Schuhen im Schnee weg und kam erneut hart auf. Im nächsten Moment griff jemand unter ihre Schulter und zog sie mit Kraft nach oben. Eine Stimme zischte: „Wir müssen hier weg. Beeil dich. Komm.“

      Eva wandte den Kopf und erkannte eine Gestalt in dunkler Daunenjacke und mit dunkler Strickmütze auf dem Kopf. Immer noch im Nebel ihres eigenen Kopfes gefangen, stellte sie fest, dass die Gestalt Julia unglaublich ähnlich sah. Vielleicht mit ein paar Fältchen mehr um die Augen als noch bei ihrem letzten Zusammentreffen, aber sonst … Eine Doppelgängerin, dachte Eva, und schloss für einen kurzen Moment die Augen, was es hinter ihren Lidern heftig aufblitzen ließ. Schnell öffnete sie die Augen wieder, und in dem Moment realisierte sie, dass es tatsächlich Julia war.

      Eva