Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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kurz bevor wir uns trennten, nannte sie mir die Adresse des Ferienhauses hier in Norwegen. ‚Wenn du es schaffst, genügend Geld aufzutreiben und irgendwie dorthin zu kommen, dann kannst du dich dort so lange verstecken, wie du willst‘, hat sie gesagt.“ Jetzt endlich zündete Susanne die Zigarette an, die sie die ganze Zeit in den Fingern gehalten hatte. Sie tat einen Zug, sog den Rauch tief in die Lunge und stieß ihn dann in Richtung Decke. „Für mich war sie damit endgültig eine Heldin. Ein Status, den ich in ihren Augen in diesem Leben garantiert nicht mehr erreiche.“

      Jo kratzte sich am Kopf. „Was meinst du damit, du hast sie zu deinem Vorteil verraten?“

      „Ich habe sie ausspioniert. Ich dachte, ich bekäme so meine Freiheit zurück.“ Noch einmal zog Susanne an der Zigarette und fügte erklärend hinzu: „Eines Tages tauchte eine Anwältin in der Psychiatrie auf und sagte mir, dass ich nicht dortbleiben müsse. Egert, so hieß der Typ, dem ich die Scherbe in den Rücken rammte, würde die Anzeige gegen mich zurücknehmen, das Verfahren gegen mich würde eingestellt werden. Ich müsste dafür nur eine Kleinigkeit tun. Ich müsste mich mit Julia anfreunden und … ja, sie ausspionieren. Und ich habe mich darauf eingelassen.“

      Jo pfiff leise durch die Zähne.

      Susanne war nicht in der Lage, ihm in die Augen zu sehen. „Du kannst mich ruhig dafür verachten. Es kommt nicht mehr darauf an. Ich hasse mich selbst schon genug dafür. Aber ich sah darin eine echte Chance für mich. Eine Chance auf Freiheit. Ich dachte, wenn ich die nächsten Jahre in der Klapse bleiben muss, dann drehe ich wirklich noch durch. Deshalb habe ich es getan. Und ich konnte ja auch nicht ahnen, dass ich mit dem, was ich tue, am Ende …“

      „… die Meute scharfmache?“, vollendete Jo den Satz.

      Susanne sah auf. „Du weißt, worum es geht?“

      „Nein.“

      „Das glaube ich dir nicht. Sag mir, was du weißt, Jo. Bitte.“

      Jo schwieg, trank einen Schluck von der Instantbrühe.

      „Kanntest du Julias Vater?“, hakte Susanne nach.

      „Sven Wagner? Natürlich. Er hat das Ferienhaus 1980 gekauft und danach, wie ich schon sagte, jedes Jahr mit seiner Familie hier Urlaub gemacht. Dadurch lernten wir uns kennen.“

      „Was weißt du über ihn? Erzähl mir alles, bitte. An dem letzten Abend, den ich mit Julia verbrachte, sagte sie zu mir, dass ihr Vater umgebracht worden wäre und dass seine Mörder nun hinter ihr her wären. Aber das ging alles so verdammt schnell, dass ich ihr kaum folgen konnte.“

      „Ich kann dir nichts dazu sagen, Susanne.“

      „Warum wurde er umgebracht?“

      „Das kann ich dir wirklich nicht beantworten.“

      „Julia meinte in jener Nacht noch, dass sie vermutlich als Kind entführt worden wäre, aber sie würde sich kaum daran erinnern.“ Fragend sah Susanne Jo an. „Kann das möglich sein? Ich meine, kann es sein, dass ein Kind entführt wird, diese Entführung aber anschließend wieder vergisst?“

      Er hob die Schultern an. „Das käme wohl darauf an, wie traumatisch das Erlebnis war. Vielleicht ist es eine Art Selbstschutz der Seele, einfach zu verdrängen, was passiert ist. Aber immerhin, es würde passen.“

      „Was würde passen? Was meinst du?“

      „Wenn es diese Entführung tatsächlich gegeben hat, dann kann das nur 1985 passiert sein. Denn das war das einzige Jahr, in dem die Familie ihren Urlaub nicht hier verbracht hat. Und im Sommer danach waren sie alle nicht mehr dieselben.“ Mit einem Ruck erhob Jo sich vom Stuhl. „Wir sollten jetzt besser aufhören. Du siehst aus, als hätte dich eine Dampfwalze überrollt.“ Er wandte sich ab und schritt zur Tür.

      „Warte, Jo. Bitte.“

      Er drehte sich noch einmal zu ihr um.

      „Ich weiß, dass das jetzt nicht besonders glaubwürdig klingt, aber ich mag Julia wirklich. Sie ist ein guter Mensch und ich … habe seit meiner Flucht nichts mehr von ihr gehört. Weißt du, wo sie gerade steckt und wie es ihr geht?“

      Jo schüttelte den Kopf. „Ich hab seit Wochen nichts mehr von ihr gehört.“ Im flackernden Licht der Wohnzimmerlampe war der Ausdruck seiner Augen nicht zu erkennen. „Aber sie kommt klar. Um dich mache ich mir mehr Sorgen. Wir müssen uns überlegen, was wir weiter mit dir machen. Im Augenblick bist du hier sicher, aber vermutlich nicht mehr lange.“

      Damit verließ er das Zimmer, während Susanne auf der Couch sitzen blieb und die offene Tür anstarrte.

      Oktober 2008

      Die Leiche – oder was davon noch übrig war – lag auf einer blanken Stahlbahre. Einzelne verkohlte Fleischfetzen waren abgeblättert und besprenkelten das glänzende Metall. Die Augenhöhlen, in denen einst bestimmt leuchtende Augen saßen, waren nur noch leere Vertiefungen, und die Lippen waren bis auf die Knochen weggeschält.

      Doktor Norbert Fesser stand von Kopf bis Fuß verhüllt vor der Bahre: Kittel, Maske, Handschuhe, eine Kappe auf dem Haar.

      „Herr Doktor“, sagte Zander, „was haben Sie für uns?“

      „Einiges.“ Der Arzt zog sich die Maske von der unteren Gesichtshälfte. „Bei der Leiche handelt es sich definitiv um eine Frau. Auch wenn nur wenig von ihr übrig geblieben ist, so kann man doch erkennen, dass der Hüftknochen zu breit für einen Mann ist. Sie dürfte kaum älter als zwanzig Jahre alt gewesen sein und ungefähr eins siebzig bis ein fünfundsiebzig groß. Ach ja, und ihr wurde vor ihrem Tod physisch schwer zugesetzt.“

      „Was heißt das?“, fragte Julia. „Dass sie verprügelt wurde?“

      „Massiv verprügelt sogar. Unter anderem haben wir hier einen ausgeschlagenen Zahn, den Röntgenbildern zufolge außerdem zwei gebrochene Rippen, einen gebrochenen kleinen Finger und eine Nasenbeinfraktur. Und der Schädel … nun ja, sehen Sie selbst. Ein Schlag, der kräftig genug ist um die Schädeldrecke zu zerbrechen, erzeugt Risse, die aussehen wie Blitze am Himmel. Und genau das haben wir hier: Zickzacklinien, die nur durch einen schweren Schlag verursacht worden sein können, schwer genug, den Schädel stark zu verletzen, ohne ihn wirklich zu zerbrechen.“

      „Womit ist sie geschlagen worden?“, fragte Zander.

      „Zum größten Teil würde ich auf Fäuste tippen. Die Kopfverletzung dürfte von so etwas wie einem Baseballschläger stammen.“

      Einen Moment schwiegen alle drei. Die Schreie, die die Frau in ihren letzten Minuten von sich gegeben hatte, schienen von den Wänden widerzuhallen.

      „War sie schon tot, als sie angezündet wurde?“, fragte Julia dann.

      „Nein. Es ist allerdings anzunehmen, dass sie bereits bewusstlos war und nichts mehr mitbekam.“ Fesser streifte sich die Handschuhe von den Händen. „Und ich habe noch etwas für Sie: In der Asche wurden Metallknöpfe sowie Reste eines Reißverschlusses gefunden. Die Frau war demnach also nicht nackt, als das Verbrechen begangen wurde. Ein Sexualverbrechen können wir damit wohl ausschließen.“

      „Wenn wir von einem Mann als Täter ausgehen“, wandte Julia ein, „kann es sich trotzdem um etwas Sexuelles handeln.“

      „Wenn er sie nicht vergewaltigt hat, wo bleibt dann die Befriedigung?“, wollte Zander wissen.

      Sie hob die Schultern in die Höhe. „Er könnte masturbiert haben. Auf ihrem verbrannten Körper würden wir keine Spermaspuren mehr finden und am Tatort auch nicht.“

      Zander nickte und sah auf die Leiche. „Können Sie uns den Todeszeitpunkt nennen, Herr Doktor?“

      „Zwischen ein Uhr und drei Uhr in der Nacht von Samstag auf Sonntag.“

      Wieder schwiegen sie einen Moment.

      „Er schlägt sie mit bloßen Fäusten und einem Baseballschläger bis zur Ohnmacht“, sagte Zander dann. „Und als würde das noch nicht reichen, zündet er sie dann auch noch an. Womit ist eine solche