„Konnten Spermaspuren sichergestellt werden?“, wollte Zander wissen.
„Nein, leider nicht.“ Der Arzt blätterte. „Dafür fanden sich Spuren eines Barbiturates in ihrem Blut. Wer immer der armen Frau das angetan hat, hat sie mit einer Droge außer Gefecht gesetzt. Vermutlich Ketamin. Ich nehme an, Sie möchten eine Kopie des Berichtes, Herr Kommissar?“
Zander nickte. „Sicher tauchen noch weitere Fragen meinerseits auf, aber für den Augenblick danke ich Ihnen.“ Er wandte sich ab und betrat das Krankenzimmer.
Die erste Amtshandlung, die er dann beging, war es, die Frau von den Plastikbändern zu befreien, mit denen ihre Handgelenke am Bettgestell fixiert waren.
Die Miene des jungen Kollegen neben ihm sprach Bände. „Das sollten Sie nicht tun, Herr Kommissar. Sie wird ausflippen, wenn sie zu sich kommt.“
„Ich werde im Bericht festhalten, dass Sie mich gewarnt haben“, bemerkte Zander.
„Es ist Vorschrift. Wir kriegen das immer wieder gepredigt. Sie wird versuchen, sich die Infusionsnadel rauszuziehen, wenn …“
„Wenn sie gefesselt aufwacht, dreht sie erst recht durch.“ Zander deutete auf die kreisförmigen Schnitte an den Handgelenken der jungen Frau, die von festgezurrten Drähten zu stammen schienen. „Sie war weiß Gott genug gefesselt.“ Damit zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. „Ich bleibe hier. Sie sind abgelöst. Verschwinden Sie.“
Der junge Kollege nickte widerwillig und verließ das Zimmer, während Zander an ihrem Bett sitzen blieb und zusah, wie sie atmete.
Zur gleichen Zeit saß ein Mann namens Matthias Bartholomäus nur wenige Kilometer entfernt an seinem Küchentisch und starrte auf die Notizen vor sich. Er wusste, dass dies die letzten Minuten seines Lebens waren.
Eiskalte Minuten.
Er wandte den Kopf und starrte nach draußen ins weiße Nichts. Vor seinen Augen spielte sich ein Film ab – ein Film dessen, was er getan hatte.
„Was in dem Keller passiert, bleibt in dem Keller“, murmelte er.
Aber nein, aus Falsch konnte auch Richtig werden. Nichts war absolut. Zügig las er noch einmal den codierten Text, den er gerade geschrieben hatte. Er hatte sich die Verschlüsselung vor ein paar Monaten ausgedacht. Auf diese Weise konnte er seine Gedanken aufschreiben, ohne zu befürchten, dass es jemand las, der es nicht lesen sollte. Bereits als Teenager hatte er sich solche Codierungen ausgedacht. Doch die einfache Übersetzung des Alphabets war im Laufe der Jahre immer ausgefeilter geworden. Längst hatte er noch Zahlen und geometrische Figuren in das Ziffernsystem eingebaut. Er bezweifelte, dass es vielen Leuten gelingen würde, diesen Code zu knacken – aber das war auch nicht nötig. Es sollte nur die richtige Person an die Informationen gelangen. Für den Fall der Fälle nannte er keine Namen, schrieb nur Initialen auf. Man konnte sie herausfinden, wenn man sich ein wenig Mühe gab.
Bartholomäus hoffte darauf, dass die Polizei sich Mühe geben würde, wenn es so weit war.
Er sah noch einmal aus dem Fenster.
Welche Strafe würde er wohl bekommen?
Er würde es schon sehr bald wissen.
Das Warten hatte bald ein Ende.
3. KAPITEL
Verrat und Zusammenhalt
Hannover
Auch für Jörg Grimm hatte an diesem Morgen zuerst nichts darauf hingedeutet, dass der Tag anders werden würde als die anderen, sah man davon ab, dass es in der Nacht angefangen hatte zu schneien und immer noch schneite. Immer mehr Schneeflocken fielen vom Himmel und legten sich auf die dicke Schicht, die bereits die Straßen, die Rasenflächen, die Spielplätze, die ganze Stadt Hannover bedeckte.
Jörg hatte sich gerade fertig angezogen und war auf dem Weg ins Büro, als es an der Wohnungstür klingelte. Sein erster Gedanke war, dass seine Freundin Yvonne ihren Schlüssel vergessen hatte, aber dann fiel ihm ein, dass das ja gar nicht sein konnte, weil Yvonne überhaupt nicht in Deutschland war.
Widerwillig, weil er eigentlich gar keine Zeit hatte, schritt Jörg zur Wohnungstür, und als er öffnete, schlug ihm ein Schwall kalter Luft entgegen. Ob das nun an der Kälte vor der Tür lag oder an der Gestalt seines Vaters, der davorstand, darüber konnte er nur spekulieren, auf jeden Fall verhieß sein Auftauchen nichts Gutes. Jörg verspürte sofort eine bekannte Gänsehaut auf den Armen, einen Stich im Magen und seinen schnellen Puls. Er sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass du hier auftauchen würdest.“
Curt Grimm, etwas über sechzig, mit silbergrauen, perfekt frisierten Haaren und Augen von kühlem Grau, antwortete: „Hast du das gedacht oder gehofft?“
Jörg blieb in der Tür stehen. „Ich muss zur Arbeit.“
„Es ist Samstag.“
„Ich habe viel zu tun. Also bitte, fass dich kurz.“
„Ich will, dass du mir sagst, wo Susanne steckt.“
Als Jörg nichts darauf antwortete, fügte sein Vater hinzu: „Man hatte mich zu Anfang ihres Verschwindens darauf hingewiesen, dass du ihr vielleicht helfen würdest. Aber ich habe ihnen versichert, so dumm wärst du nicht. Ich habe gesagt, er wird keiner Frau, die aus der geschlossenen Psychiatrie ausgebrochen ist, dabei helfen, sich vor der Polizei zu verstecken. Auch nicht, wenn sie seine Schwester ist. So dumm ist er nicht. Habe ich mich getäuscht, Jörg? Habe ich mich wirklich so getäuscht?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Sie ist jetzt seit fast fünf Monaten verschwunden, und sie ist verdammt noch mal krank. Die Ärzte sagen, sie braucht dringend Medikamente. Wenn sie die nicht bekommt, kann niemand einschätzen, was passiert. Sie muss unverzüglich zurück in die Klinik.“
„Wo du sie los bist, meinst du?“
„Hast du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe? Sie braucht Hilfe.“
„Ich bitte dich, Vater“, fuhr Jörg auf. „Du hast dich doch noch nie für das interessiert, was Susanne braucht. Warum jetzt auf einmal?“
„Wir sind immer noch eine Familie.“
„Eine Familie? Lüg doch nicht. Dir geht es nicht um die Familie, dir geht es allein um dich und um deinen guten Ruf als Chefarzt.“ Jörg verschränkte die Arme vor der Brust. „Wo immer Susanne auch sein mag, ich wünsche ihr, dass sie eine faire zweite Chance bekommt. Ohne dich und deine verlogene Heuchelei.“
„Es wird keine zweite Chance für sie geben“, zischte sein Vater. „Sie war schon von Anfang an völlig neben der Spur. Wir haben wirklich alles versucht, aber es ist nie etwas dabei herausgekommen. Sie ist jetzt dreißig Jahre alt und schaffte es nicht einmal, einen vernünftigen Job zu bekommen, und das, obwohl sie zwei Sprachen studiert hat. Stattdessen färbte sie sich die Haare bunt und spielte in irgendwelchen lächerlichen Punkbands. Sie hat nur Ärger gemacht, so lange, bis sie schließlich im Irrenhaus landete. Nenn mir einen Grund, warum ich der Welt nicht helfen sollte, sich von ihr zu befreien und sie wieder dahin zurückzubringen, wo sie hingehört?“
Jörgs Blick wurde dunkel. „Du bist ein Ekel. Das warst du schon immer, und das wirst du immer bleiben.“
„Ach ja? Habt ihr nicht immer alles bekommen, was ihr wolltet?“
„Und zu welchem Preis? Wenn wir geweint haben, waren wir erbärmlich, wenn wir zugestimmt haben, waren wir Schwächlinge. Haben wir nicht so funktioniert wie du es wolltest, dann waren wir undankbare, respektlose Schnorrer.“ Jörg machte eine kurze Pause. „Susanne hat immerhin versucht, sich gegen dich zu wehren, ganz im Gegensatz zu mir, und jetzt sagst du, dass sie nur Ärger gemacht hat und dass du sehen willst, wie sie wieder in der geschlossenen Psychiatrie verschwindet. Sie kann überhaupt nicht gewinnen. Wir haben bis