Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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sprach. Allerdings sagte er nicht viel. Er sagte nur: „Ich weiß nicht, wo sie ist. Und jetzt geh wieder.“

      Curt Grimm machte einen Schritt nach vorne, fasste nach dem Arm seines Sohnes und zischte: „Wie erbärmlich bist du eigentlich? Glaubst du, diese ganze Scharade wäre nicht zu durchschauen?“

      „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Lass mich los.“

      „Ich weiß, dass du ihr mit Geld geholfen hast. Vermutlich tust du das immer noch.“

      „Kannst du das beweisen?“

      „Ich weiß es. Ebenso wie ich weiß, dass deine Freundin Yvonne in den letzten Wochen verdächtig oft nach Skandinavien gereist ist.“

      „Yvonne schreibt Reiseführer. Sie ist immer irgendwo unterwegs. Und jetzt lass mich, verdammt noch mal, los.“

      „Hältst du mich wirklich für so dumm, die Zusammenhänge nicht zu erkennen?“

      „Lass mich los und verschwinde endlich.“

      Widerwillig zog Curt Grimm den Arm zurück. Dann wandte er sich um und trat zur Treppe. Dort drehte er sich allerdings noch einmal um. „Ich habe es der Polizei gesagt.“

      Jörg hob den Kopf. „Was hast du gesagt?“

      „Ich habe ihnen gesagt, wo sie nach Susanne suchen sollen. In Skandinavien.“

      „Skandinavien ist groß. Da können sie lange suchen.“

      „Das sind Zielfahnder, Jörg. Das sind keine dummen Männer. Das solltest du nicht denken.“

      Jörgs Haut begann am ganzen Körper gleichzeitig zu jucken. Die Worte entwichen ihm, ehe er es verhindern konnte: „Du verrätst deine eigene Tochter?“

      „Nein. Ich helfe ihr.“

      Damit stieg Curt Grimm die Treppe hinunter, während Jörg reglos in der Tür stehen blieb und sich fragte, ob sein Vater es tatsächlich fertiggebracht hatte, zur Polizei zu gehen und seine eigene Tochter zu verraten.

      Als in der nächsten Sekunde der Wind eines der gekippten Fenster im Inneren der Wohnung mit Wucht zuschlug, kam ihm die Erkenntnis, dass nichts und niemand ihn je davon hätte abhalten können.

      Norwegen

      Interessanterweise schneite es in Norwegen an diesem Morgen nicht. Es regnete wie aus Kübeln. Aber selbst das war in dem Land ein grandioses Schauspiel. Eine ungewöhnliche Üppigkeit sättigte die Luft, während sich die Regentropfen wie ein gigantisches Tier mit unzähligen Beinen auf der Meeresoberfläche bewegten. Susanne beobachtete es fasziniert und stellte sich dabei die Frage, ob die Menschen, die hier aufgewachsen waren, das alles ebenso intensiv wahrnahmen, wie sie selbst es tat. Ob sie rochen, was sie roch. Denn Norwegen roch anders als alles, was sie bisher kennengelernt hatte. Irgendjemand hatte es einmal als Land Gottes bezeichnet, als kleines Eden, und vielleicht war da ja tatsächlich etwas dran.

      Susanne blies in die Hände, um sie zu wärmen, blieb noch einen Moment ganz ruhig stehen, atmete tief ein und wieder aus.

       Der Regen tut dir nichts. Hier tut dir nichts und niemand etwas. Niemand weit und breit, der dich einfangen und zurück in die Psychiatrie stecken will.

      Wie um es sich selbst zu bestätigen, nickte sie einmal und schritt dann zum Haus zurück.

      Bei der Veranda angekommen, glaubte sie, etwas zu spüren. Eine Bewegung hinter sich. Sie wandte sich um, aber da war nichts.

      Sie setzte sich wieder in Bewegung und streckte die Hand aus, um die Terrassentür zu öffnen. Im Wohnzimmer angekommen, rieb sie sich die Arme. Draußen gab es jetzt ein Gewitter, ein Blitz zuckte, aber es war alles noch zu weit weg. So weit, dass sie den Donner nicht hören konnte. Dann ein weiterer Blitz über dem Meer, nur als weiches, warmes Licht wahrzunehmen. Trotzdem verlieh es dem verlassenen Küstenstreifen, den normalerweise nicht einmal die Touristen fanden – es sei denn durch einen großen Zufall –, etwas Gespenstisches.

      Irgendwo im Haus klapperte eine Tür. Susanne ging herum, um zu überprüfen, um welche Tür es sich handelte. Als sie dabei am Badezimmer vorbeikam, trat sie für einen Moment ein, um sich im Spiegel zu betrachten. Ihre bunten Haare klebten nass am Kopf, ihre Haut war blass, und ihre Lippen wirkten blutleer. Sie klatschte sich mit der Hand ins Gesicht, um ein bisschen mehr Farbe zu bekommen. Vergeblich.

      Schließlich gab sie es auf und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie das Powerbook aufschlug, das Yvonne ihr ein paar Wochen zuvor gebracht hatte.

      Immer noch konnte Susanne die Schlagzeilen, die es in Deutschland über sie gab, nicht fassen. Glücklicherweise gab es nicht allzu viele Fotos von ihr. Jene, die es gab, zeigten sie jedoch mit starrem Blick, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Womit die Medien nur allzu bereitwillig unterstrichen: Susanne Grimm war eine irre und gemeingefährliche Person. Ansonsten gab es lediglich ein paar vereinzelte Schulfotos und einige wenige, auf denen sie zusammen mit der Band gezeigt wurde, in der sie jahrelang Bass gespielt hatte.

      Susanne scrollte und fand einen Artikel, dessen Überschrift lautete: Schwere Körperverletzung bei Punkfestival!

      Da hatte doch tatsächlich irgendein findiger Reporter eine längst vergangene Geschichte wieder ans Tageslicht gezerrt, in der sie nach einem Auftritt mit ihrer Band in eine Schlägerei geraten war. Susanne erinnerte sich noch sehr gut an den Vorfall, obwohl es bestimmt schon acht Jahre her war. Sie hatten auf dem Festival gespielt. Der Auftritt war zu Ende gewesen, und sie hatte sich an einem der Bierstände etwas zu trinken holen wollen. Ein Betrunkener war an sie herangetreten, hatte einen Arm um sie gelegt und gefragt, ob sie ihm einen blasen wolle.

      Anstatt dem Typen sofort eine passende Antwort zu geben, hatte Susanne noch einmal nachgefragt: „Was hast du gerade gesagt?“

      „Obduanmeinerwurstlutschenwillst?“ Während er es nuschelte, versuchte er, sie anzutatschen, und fügte so etwas hinzu wie: „Geile Fotze.“

      Susanne war fest davon überzeugt, dass es keiner Frau dieser Welt gefallen hätte, von einem wildfremden Mann betatscht und dann auch noch Fotze genannt zu werden. Ihr auch nicht, weshalb sie dem Kerl ohne Ansatz ihr Knie zwischen die Beine rammte. Er sank stöhnend zusammen und hielt sich den Schritt.

      Und dann ging auch schon alles ganz schnell. Freunde des Betrunkenen kamen hinzu und wollten sich auf Susanne stürzen. Deren Freunde kamen hinzu, um ihr zu helfen, und in Sekundenschnelle entwickelte sich eine Massenschlägerei. Am Ende warf sich einer der Ordner auf Susanne und drückte sie auf den Boden, bis die Polizei kam.

      Das war nur eine von vielen veröffentlichen Geschichten, die – jede für sich – eigentlich nichts wirklich Großes waren, aber sie standen hier, in allen Details und für jeden zugänglich im Internet, und die Diagnose, die die Medien in Sachen Susanne stellten, variierten von aggressiv zu hochgefährlich, psychotisch oder schizophren. Durchgehend alle Zeitungen beschrieben sie als sehr intelligent – immerhin –, aber gleichzeitig auch als labil und äußerst gewaltbereit.

      Und als die Zeitungen dann auch noch herausfanden, dass Susanne lesbisch war, gab es kein Halten mehr. Sie schreckten nicht einmal davor zurück, längst vergessene Exfreundinnen aus ihren Löchern zu zerren und zu Kommentaren zu bewegen. Im günstigsten Falle blieb es bei Kommentaren. In ungünstigen Fällen kamen ganze Artikel dabei heraus, wie der folgende, dessen Überschrift lautete: Manchmal hatte ich regelrecht Angst vor ihr!

      In dem Artikel kam eine Exfreundin von Susanne zu Wort, Doris Serpikov, inzwischen eine mehr oder minder – mehr minder – erfolgreiche Modedesignerin, die berichtete, Susanne hätte sie während ihrer Beziehung bedroht und mehr als einmal in Angst und Schrecken versetzt.

      Susanne konnte es nicht fassen. Die Beziehung war ewig her, damals waren sie zwanzig Jahre alt gewesen. Sie waren verliebt und hatten eine wirklich gute Zeit. Nie, nicht ein einziges Mal, hatte sie Doris bedroht. Warum hätte sie das tun sollen? Und doch stand es hier schwarz auf weiß. Der Artikel nahm fast eine halbe Seite ein.

      Susanne überlegte. Wie lange waren sie und Doris zusammen gewesen? Vielleicht neun Monate.