Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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sie genau auf Julias Brust. Leise fluchend hob sie ihre eigene Waffe noch einmal an und drückte ein zweites Mal ab. Dann packte sie Eva bei der Hand und zog sie mit sich.

      „Langsamer!“ Evas Herz raste. Schmerzhafte Adrenalinstöße rauschten nur so durch ihren Körper. Doch Julia hielt sie weiter fest an der Hand gepackt und zog sie unnachgiebig hinter sich her.

      „Julia …“

      „Noch nicht.“

      „Langsamer, ich …“

      „Noch nicht.“

      Sie bogen in einen Feldweg ein, der an einem gefrorenen Bach entlanglief, dann rannten sie auf Julias dunklen Volvo zu, der am Ende zwischen zwei Bäumen geparkt stand.

      Eva keuchte, rang nach Atem. „Wir müssen die Polizei …“

      „Nein.“ Julia stieg ein und öffnete die Beifahrertür. „Komm.“

      Doch Eva bewegte sich nicht. „Der Typ wollte mich gerade entführen, und du hast auf ihn geschossen! Wir müssen doch …“

      „Eva, bitte!“ Flehend sah Julia sie an. „Vertrau mir und steig ein. Bitte!“

      Endlich bewegte Eva sich. Sie saß noch nicht richtig im Wagen, als er auch schon gestartet wurde. Julia legte den ersten Gang ein und fuhr los.

      „Wohin fahren wir?“

      „Den Berg hinauf. Zu der Hütte, die du gemietet hast.“

      Eva sah auf. „Woher weißt du von der Hütte?“

      Keine Antwort.

      Links und rechts standen die Bäume viel zu dicht an der schmalen Straße. Der Motor hörte sich an, als fräße er sich Meter für Meter durch Schnee und Kälte. Sie gab mehr Gas, die Reifen verwandelten den Schnee zu Matsch, der gegen den Boden der Karosserie peitschte. Die Frontscheibe beschlug immer mehr, sodass sie das Fenster öffnen musste, was zur Folge hatte, dass Eva von Kopf bis Fuß zu zittern anfing. Den Mantel fest um den Leib geschlungen, schob sie Nase und Mund in den hochgeschlagenen Kragen und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen.

      Meter für Meter, Schneeflocke für Schneeflocke arbeitete sich der alte Volvo den Berg hinauf. Julia wischte mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Frontscheibe, was lediglich einen besseren Ausblick auf das dichte Schneetreiben ermöglichte.

      Eva bemühte sich, etwas jenseits der Motorhaube zu erkennen, und ertappte sich dabei, wie sie in jeder einzelnen der folgenden Haarnadelkurven den Atem anhielt. Vor lauter Anspannung begannen schon die Muskeln in ihrem Nacken zu brennen. Ebenso wie ihr der Schweiß unter der dicken Kleidung aus allen Poren drang.

      Und dann geschah es. Um weiter hinaufzukommen, musste Julia mehr Gas geben, gleichzeitig musste sie rechts einschlagen, um die nächste Haarnadelkurve zu nehmen. Die Vorderräder folgten auch tatsächlich dem Befehl des Lenkrades, nur der Wagen nicht. Das Heck brach aus.

      Der Wagen gab den Gesetzen der Physik nach und schlitterte zuerst seitlich den Berg hinunter, dann machte er eine weitere halbe Drehung und rutschte endgültig von der Straße.

      Groß und bedrohlich kamen die Bäume auf die Windschutzscheibe zu, Eva nahm es nur verschwommen wahr, die Konturen liefen förmlich ineinander. Dafür waren die Geräusche umso klarer: das Zerplatzen der Windschutzscheibe; das Knacken von Ästen und das Reißen von Metall. Es war alles klar und deutlich zu hören, in dem Moment, in dem der Wagen frontal gegen einen Baum krachte.

      Wenn es für die Stille der nächsten Sekunden überhaupt eine Metapher gab, dann nur die, dass sie wie eine Mauer war, die sie beide vollkommen umschloss.

      Fünf, zehn, fünfzehn Sekunden, dann beugte Julia sich zu Eva hinüber, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und fragte: „Alles okay?“

      Eva war benommen, aber sie hatte die Augen geöffnet und atmete. Und nirgendwo war Blut zu sehen. Immerhin.

      „Alles okay?“, fragte Julia noch einmal. „Eva! Rede mit mir!“

      „Ja, ich … glaube schon.“

      Erleichtert atmete Julia auf, stieg aus dem Wagen und eilte einmal um ihn herum. „Shit! Shitshitshit!“ Mit Wucht trat sie gegen den linken Vorderreifen, der platt war wie eine Flunder, kam dann zur Fahrertür zurück, beugte sich in den Wagen und holte einen Rucksack vom Rücksitz. „Wir müssen laufen.“

      „Was?“

      „Wir müssen den Rest der Strecke laufen.“

      „Nein.“ In Evas Magen rumorte es. Sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. „Ich denk ja nicht dran. Julia, du hast gerade einen Menschen …“

      „Wir haben keine Zeit zu diskutieren, okay? Der Typ war ein Killer. Er hätte dich ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht. Und ich glaube nicht, dass er alleine war. Also bitte, Eva, komm jetzt. Komm!“

      Einen Moment starrten sie sich in die Augen, dann endlich bewegte sich Eva aus dem Wagen. Sie machte ein paar unsichere Schritte auf dem vereisten Boden, blinzelte und blieb gleich wieder stehen. „Meine Tasche.“ So schnell sie konnte eilte sie zum Wagen zurück, öffnete die Beifahrertür und beugte sich hinein. Ein paar Sekunden suchte sie nach ihrer Handtasche, ehe sie sie erleichtert unter dem Beifahrersitz hervorzog.

      „Bist du jetzt endlich so weit?“, fragte Julia ungeduldig.

      Eva nickte und kam zu ihr zurück.

      „Prima. Dann lass meine Hand jetzt nicht los. Was jetzt kommt, wird heftig werden.“

      5. KAPITEL

      Jo Holmen

      Norwegen

      Als Susanne wieder zu sich kam, befand sie sich in einem altmodischen Wohnzimmer; das immerhin war leicht zu erkennen, aber der Kopf über ihr verschwamm, weil sie noch nicht ganz bei sich war.

      „Ah, du bist wach“, sagte eine Männerstimme in gebrochenem Deutsch.

      „Das ist gut. Du siehst ganz schön mitgenommen aus, Susanne.“

      Er kannte ihren Namen! Woher kannte er ihren Namen?

      Susanne gab sich alle Mühe, konzentrierte sich und wartete darauf, dass sie endlich wieder scharf sehen konnte. Als es ihr schließlich gelang, stellte sie fest, dass der Mann über sechzig sein musste, hellblondes Haar hatte und einen ebenso hellblonden Backenbart. Aus seinen Ohren wuchsen Haare, und er lächelte freundlich.

      Sie wollte etwas sagen, aber ihr Hals war zu trocken, und das Sprechen fiel ihr schwer. Schließlich schaffte sie es, zu fragen: „Wer sind Sie?“

      „Mein Name ist Jo. Du bist durch ein geschlossenes Fenster gesprungen und ziemlich gestürzt. Ich hatte schon Angst, du könntest schwer verletzt sein. Aber du hast nur ein paar kleine Schnitte und Schürfwunden. Hattest ganz schön Glück, das hätte auch anders enden können. Kannst du dich an den Sturz erinnern?“

      Konnte Susanne sich überhaupt an etwas erinnern? Irgendjemand hatte sie gewarnt. Ja, das wusste sie noch ganz sicher. Es war Jörg gewesen. Dann hatte sie einen Polizisten mit einem Stuhl niedergeschlagen, und … danach befand sich in ihrem Kopf nur noch ein schwarzes Loch.

      Der Mann mit dem Namen Jo lächelte aufmunternd. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du bist in Sicherheit.“

      Susanne hatte daran ihre Zweifel. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, um sich einen Eindruck darüber zu verschaffen, wo sie war. Es schien sich um ein ganz normales Wohnzimmer zu handeln. Ein Schrank, eine Couch, ein Sessel, ein Tisch, ein alter Fernseher. Unauffällig bewegte sie die Beine, um zu überprüfen, ob sie vielleicht fixiert waren. Aber nein, sie war nicht gefesselt. Vielleicht war dieser Jo ja doch nur ein ganz normaler, anständiger Norweger, der ihr einfach helfen wollte. Vielleicht kam sie noch einmal davon. Vielleicht sollte sie aber auch versuchen, aufzustehen und auf ein Neues wegzulaufen.

      Allerdings nicht, solange er zwischen ihr und der Tür stand.