Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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wir ihr Gesicht rekonstruieren?“

      „Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, Frau Kommissarin.“ Der Arzt lächelte. „Wir können mit unseren Computern fast alles, auch kleine Wunder vollbringen. Meine Kollegen arbeiten bereits daran. Geben sie ihnen noch ein bisschen Zeit, dann haben wir ein Computerbild von ihrem Gesicht.“

      6. KAPITEL

      Kalte Angst

      Schwarzwald

      Als Julia gesagt hatte, dass es heftig werden würde, war das noch stark untertrieben. Selbst an einem schönen Tag mit idealen Bedingungen wäre die Strecke schon für einen trainierten Sportler eine kräftezehrende Angelegenheit gewesen. Sie beide waren weder Sportler, noch waren das hier ideale Bedingungen. Der Wind blies ihnen direkt ins Gesicht, sodass sie die Köpfe gesenkt halten mussten und zeitweise blind durch einen Wirbelsturm aus Hagelkörnern marschierten, die sich wie Glasscherben anfühlten, wenn sie auf das Gesicht prallten. Eva war sich sicher, ihre Nasenhaare bei jedem Atemzug knistern hören zu können. Gleichzeitig spürte sie, wie das Wasser in ihren Augen vor Kälte zähflüssig wurde. Sie verlor den Halt, fiel in den Schnee und landete schmerzhaft auf einer Baumwurzel. Julia zog sie wieder in die Höhe, und sie wankte weiter vorwärts, auf Messern, die in ihre Füße stachen. Zwar trug Eva Winterschuhe, aber selbst die waren für einen solchen Marsch nicht geeignet; das Wasser war längst bis zu ihren Füßen durchgedrungen. Gleichzeitig spürte sie, wie sich der Druck in ihren Ohren veränderte. Ihr war klar, dass sie nicht mehr sehr viel länger durchhalten würde. Und tatsächlich, schon kurz darauf zerrte der Marsch so sehr an ihren Kräften, dass sie anhalten musste, um Atem zu schöpfen. Julia legte einen Arm um ihre Hüften und schob sie weiter vorwärts.

      Dann, endlich, waren sie angekommen. Vor Erleichterung hätte Eva weinen mögen.

      Die Hütte lag unter einer glitzernden Schneeschicht, so blendend hell, dass sie blinzeln mussten – ein Pfefferkuchenhaus mit Zuckerguss. Unter anderen Umständen hätten sie den Anblick sicher genossen. In diesem Moment jedoch hatten sie beide keinen Blick dafür.

      Julia ließ Eva einen Moment los, drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ den Blick schweifen, ehe sie die letzten Meter hinter sich brachten.

      Endlich angekommen, begann Eva nach den Schlüsseln zu suchen, aber ihre Hände waren eiskalt und fast taub. Gleichzeitig spürte sie eine unglaubliche Kälte in der Lendengegend. Nur mit Mühe bekam sie die Hand in ihre Handtasche. Ihre steifen Finger schmerzten, als sie sie hineinzwang. Dann endlich hielt sie die Schlüssel in der Hand, und wenig später war die Tür offen. Sie stolperte hinein, hatte sofort die Couch im Auge, wollte sich nur noch daraufsinken lassen, einschlafen und nie wieder aufwachen. Aber im Inneren der Hütte war es inzwischen so kalt, dass sie sich zuerst zum Wandthermostat schleppen musste, um den Zeiger nach oben zu schieben, bis sie das beruhigende Surren der Luft aus den Heizungsschlitzen hörte. Dann nahm sie all ihre Kraft zusammen und wandte sich zu Julia um. „Sagst du mir jetzt bitte, was hier los ist? Was wollte der Typ im Dorf von mir? Aus welchem Loch bist du so plötzlich wieder gekrochen? Warum willst du nicht zur Polizei? Und woher wusstest du, dass ich diese Hütte gemietet habe?“

      Julia reagierte überhaupt nicht auf die vielen Fragen. Sie zog sich die Mütze vom Kopf und die Jacke aus und ließ beides einfach kraftlos auf den Boden fallen. Dann fragte sie: „Wo ist das Badezimmer?“

      „Julia!“

      „Wo ist das Badezimmer?“

      Wieder starrten sie sich einen Moment an.

      Durch Eva tobte ein Wirbelsturm aus Gefühlen, Gedanken und Ängsten. Sie wollte schreien, wild um sich schlagen, aber dann wurde sie sich ihrer eigenen Atmung bewusst. Ihr Klang schien den ganzen Raum auszufüllen, rau und hastig wie das Keuchen eines gehetzten Tiers. Sie versuchte, es unter Kontrolle zu bekommen, deutete auf eine Tür und sagte mit gepresster Stimme: „Da rein, ins Schlafzimmer, und dann rechts.“

      Sie beobachtete, wie Julia auf die Tür zuging. Kurz darauf war sie hinter ihr zugefallen.

      Im Badezimmer stützte Julia sich einen Moment lang mit beiden Händen am Waschbecken ab, ehe sie den Wasserhahn aufdrehte, was die alten Rohre unter der Hütte erbeben ließ, und sich mit heißem Wasser das Gesicht abspritzte.

      Als sie sich dann wieder aufrichtete, waren die Wände um sie herum mit einem Mal schwarz. Dann war es wieder da … Sie befand sich im Inneren eines Wagens und hatte einen staubigen Geschmack im Mund. Sie hatte Angst, wollte weinen, aber es ging nicht, sie war tief, ganz tief in sich selbst und reichte an keine Tränen heran … Dann starrte sie in ein weißes Gesicht wie hinter einer regennassen Glasscheibe …

      Dann kamen die Stimmen, gedämpft, als wären sie in einer Flasche verschlossen. Sie konnte sie deutlich hören und doch auch wieder nicht.

       Aber sie ist noch ein Kind! Was ist, wenn die Dosis zu hoch ist, wenn sie stirbt?“ – „Wann wirst du endlich lernen, mir zu vertrauen?“

      In der nächsten Sekunde, war alles wieder vorbei.

      Stille.

      Julia wartete noch einen Moment, dann richtete sie sich auf und schluckte mühsam. Galle war ihr in die Kehle gestiegen. Sie wartete noch einen weiteren Moment, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie zurück ins Wohnzimmer gehen konnte. Dort angekommen, sah sie ihre eigene Waffe auf sich gerichtet.

      „Gib sie mir, Eva.“

      Eva umklammerte die Waffe mit beiden Händen. „Ich werde sie nicht aus der Hand legen, ehe ich weiß, was hier gerade passiert!“

      „Das ist kein Spielzeug, okay? Du könntest mich damit umbringen.“

      „Stell dir vor, ich weiß, dass das kein Spielzeug ist. Ich habe gerade eben gesehen, wie du damit auf einen Menschen geschossen hast!“

      Ganz langsam streckte Julia die Hand aus. „Bitte, Eva, gib sie mir.“

      „Du hast überhaupt keine Ahnung, was für eine Scheißangst ich gerade habe, Julia!“ Eva hörte selbst, wie ihre Stimme immer lauter wurde. „Es ist gerade mal ein paar Monate her, da hast du mich in eine Sache hineingezogen, die ich fast nicht überlebt hätte. Und jetzt tauchst du schon wieder wie aus dem Nichts auf, und – was für ein Zufall! – schon wieder fliegen mir Kugeln um die Ohren!“

      „Gib sie mir, Eva.“

      „Ich will Antworten!“ Zitternd hob Eva die Waffe etwas an. Hektische rote Flecken zierten ihren Hals. „Und zwar sofort.“

      „Ich erklär dir ja alles“, sagte Julia ruhig. „Aber zuerst gibst du mir die Waffe und ziehst dir was anderes an, okay? Du kannst nicht länger in den nassen Klamotten bleiben. So holst du dir nur den sicheren Tod.“

      Eva sah an sich hinab. Sie war völlig durchnässt. Unter den Sohlen ihrer Schuhe hatte sich bereits eine Pfütze gebildet.

      „Bitte“, sagte Julia eindringlich.

      Nur langsam, ganz langsam reichte Eva ihr die Waffe. So als würde sich jede einzelne Sekunde bis zur Ewigkeit dehnen. Dann wandte sie sich ab und wankte in Richtung Badezimmer.

      7. KAPITEL

      Vorbei ist die Beschaulichkeit

      Weidling

      Es gab bestimmt nicht wenige Menschen, die behaupteten, in Weidling sei die Zeit stehen geblieben. Und ganz bestimmt wirkte der kleine Ort mitten im Schwarzwald auf viele auch tatsächlich wie im Mittelalter. Wer einmal, aus welchen Gründen auch immer, dort war, dem würden ganz spontan ganz viele Gründe einfallen, weshalb man besser woanders leben sollte. Da war zum einen die Entfernung zur Zivilisation, womit die nächste größere Stadt gemeint ist, die etwa fünfzehn Kilometer nordwestlich lag. Dazu kam, dass Weidling in einer Senke lag, Berge drängten sich um den Ort herum, es führte nur eine Straße hinein und die hörte an einer veralteten Telefonzelle am Dorfplatz auf. Es gab nur ungefähr ein Dutzend Häuser, ein paar Bauernhöfe, eine Kneipe und eine Apotheke. Immerhin, die gab es hier,