Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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ist Julia Wagners Ferienhaus, in dem du dich versteckt hast.“

      „Ja. Und weiter?“

      Jo seufzte leise. „Sie rief mich von Deutschland aus an, kurz bevor du vor ein paar Monaten hier aufgetaucht bist. Sie war nicht sicher, ob du tatsächlich kommen würdest, aber falls doch, meinte sie, ich solle ein Auge auf dich haben.“

      Susanne schluckte noch einmal. Das würde bedeuten, dass Jo und Julia sich kannten, und damit gehörte er zu den Guten. Das war prima – wenn es stimmte.

      „Warum ausgerechnet Sie?“, wollte sie wissen. „Ich meine, warum hat Julia ausgerechnet Sie darum gebeten?“

      „Ich bin dein Nachbar.“

      Nun ja, „Nachbar“ war in dieser Gegend relativ. Die einzelnen Häuser lagen Hunderte von Metern voneinander entfernt. Susanne wusste zwar immer, dass sie einen Nachbarn hatte, aber sie hatte sich nie die Mühe gemacht, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Vielleicht hätte sie das mal besser tun sollen.

      „Julia und ich kennen uns schon sehr lange“, redete Jo weiter. „Das Ferienhaus, in dem du dich versteckt hast, gehörte ihren Eltern. Als sie noch ein Kind war, machte die Familie jedes Jahr Urlaub dort drüben. Nach dem Tod ihrer Eltern hat Julia das Haus geerbt. Ich habe mich darum gekümmert, bis sie achtzehn war, aber sie war danach nicht mehr sehr oft hier. Sie bat mich, mich auch weiterhin um alles zu kümmern. Das habe ich getan, und daher kennen wir uns.“

      Susanne schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch. Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Denn das bedeutete, dass sie Jo tatsächlich vertrauen konnte. Trotzdem öffnete sie die Augen sofort wieder. „Ich muss aufstehen.“ Sie versuchte, sich aufzurichten. „Ich muss verschwinden. Ich muss …“

      „Wo willst du denn hin? Du wirst überall gesucht. Du hast einen Mordversuch begangen, vergiss das nicht.“

      Susanne verharrte in der Bewegung. Das hatte Julia ihm garantiert nicht erzählt. Jedenfalls konnte sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. „Es war kein ‚Mordversuch‘. Und woher wissen Sie das überhaupt?“

      „Ich habe Internet.“ Mit einem leisen Grunzen ließ Jo sich in den Sessel sinken. „Du hast im letzten Sommer einen mächtigen Rabatz veranstaltet mit deiner Flucht aus der geschlossenen Psychiatrie.“

      Susanne sah sich noch einmal im Raum um, fand aber nirgendwo einen Computer.

      „Er steht oben, im Arbeitszimmer.“

      Sie hob die Beine über die Kante der Couch. In der nächsten Sekunde wurde ihr jedoch schon wieder schwindlig. Sie spürte selbst, wie sie aschfahl wurde. Sämtliches Blut verließ ihren Kopf und rauschte wie ein Wildwasserbach in ihre Beine, wo es allerdings auch nicht blieb. In ihrem Körper ging es drunter und drüber. Sie sank zurück in die Kissen. Sie musste noch einen Moment liegen bleiben und das Beste hoffen.

      „Der Polizist“, sagte sie nach ein paar Sekunden. „Er stand auf einmal hinter mir. Mit einer Waffe. Mein Bruder rief mich kurz vorher an und warnte mich, dass ich verschwinden müsse. Damit war klar, dass die Polizei auftauchen würde, aber ich ahnte nicht, dass es so schnell geschehen würde.“

      Jo schüttelte den Kopf. „Der Polizist hat dich für eine ganz normale Einbrecherin gehalten. Die Ferienhäuser stehen mitunter sehr lange leer, und da passiert es schon mal, dass eingebrochen wird.“ Er machte eine Handbewegung. „Du hast ihm einen Stuhl über den Kopf gezogen, bist aus dem geschlossenen Fenster gesprungen und in den offenen Kohleschacht gefallen, der sich direkt darunter befindet. Das war dein Glück, denn während du dort unten lagst, habe ich mich um den verletzten Beamten gekümmert und ihm die Richtung gezeigt, in die ich dich habe laufen sehen. Danach hab ich dich aus dem Schacht gezogen und mit zu mir genommen.“

      „Damit haben Sie sehr viel riskiert“, sagte Susanne.

      Jo seufzte leise und erhob sich wieder vom Sessel. „Wir sollten etwas essen.“

      Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre sie mit einer Eisenstange verprügelt worden. Mit den Fingern zupfte Susanne ein Stück Brot auseinander und stopfte sich eine Flocke davon in den Mund. Dann griff sie nach der Kaffeetasse und warf einen Blick hinein. Es handelte sich um Instantkaffee. Kleine Klümpchen aus H-Milch schwammen darauf und ließen die Brühe schmutzig aussehen. Trotzdem trank sie einen kleinen Schluck. Erst dann fragte sie: „Warum haben Sie mich nicht bei der Polizei verraten?“

      „Warum siezt du mich immer noch? Ist das deine Art, zu zeigen, dass du mich nicht magst?“

      „Nein. Sorry. Also, warum hast du mich nicht verraten? Wenn du die Nachrichten über mich so genau verfolgt hast, wie du sagst, dann musst du doch denken, ich wäre eine irre Psychopathin.“

      „Ich vertraue Julia. Wenn sie sagt, ich soll dir helfen, dann tue ich das. Du solltest übrigens wirklich etwas essen. Du wirst es noch brauchen.“ Jo zerteilte sein Spiegelei mit einer Gabel, schob es sich in den Mund, kaute und schluckte. Dann fragte er: „Du wolltest den Mann also gar nicht umbringen?“

      „Nein.“ Susanne rollte ein Stück Käse in eine Scheibe Wurst und biss hinein. „Er wollte eine Frau vergewaltigen. Ich kam dazu und wollte ihr helfen, aber der Kerl war riesig. Auf dem Boden lag eine zerschlagene Glasflasche. Ich wusste mir nicht anders zu helfen und hab ihm eine Scherbe in den Rücken gerammt. Eine ziemlich fette Scherbe, zugegeben. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Zusehen, wie er sie vergewaltigt?“

      „Was ist dann passiert?“

      Susanne seufzte leise. „Leider verweigerte die Frau hinterher die Aussage. Sie zeigte den Typen auch nicht an. Die Anzeige bekam ich von ihm. Ich landete in der geschlossenen Psychiatrie, und dort sollte dann per Gutachten bewiesen werden, dass ich zu hundert Prozent irre bin und auf jeden Fall in die Klapse gehöre.“

      „Geht das denn so leicht?“, fragte Jo. „Einen Menschen einfach in der geschlossenen Psychiatrie zu behalten?“

      „Ich hab vorher leider schon zu viel Mist gebaut.“

      Jo nickte langsam. Er hatte das Spiegelei auf seinem Teller aufgegessen, nun griff er nach einem Päckchen Tabak und begann mit ruhigen Händen, eine Zigarette zu drehen, die er an sie weiterreichte. Dann drehte er eine zweite, die er sich selbst zwischen die Lippen steckte. „Bereust du, dass du den Mann angegriffen hast?“

      „Oh, ich bereue so manches.“ Susanne betrachtete die Zigarette zwischen ihren zittrigen Fingern. „Aber wenn ich ehrlich bin, gehört das nicht dazu. Ich denke, ich habe größere Fehler begangen in meinem Leben.“

      „Zum Beispiel?“

      „Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte.“

      „Am besten vorne.“

      Noch einmal seufzte Susanne leise auf. „Im Grunde genommen ist mein ganzes Leben eine einzige Kette von Versagen und Scheitern.“ Sie begann, an den Fingern aufzuzählen. „Ich habe nie etwas wirklich zu Ende gebracht. Die Beziehung zu meinen Eltern war von Anfang an beschissen. Mit meinem Bruder Jörg habe ich erst zusammengefunden, als es schon fast zu spät war. Beruflich kriege ich kein Bein auf den Boden, und Beziehungen kriege ich auch nicht hin. Nicht einmal eine Blume, die ich in meiner Wohnung ins Wasser stelle, hält den Kopf länger als einen Tag oben.“ Sie seufzte noch einmal. „Und dann, gerade als ich dachte, dass gar nichts mehr geht, dass ich am Ende des Weges angekommen bin, da tauchte auf einmal ein Mensch auf, der … es gut mit mir zu meinen schien. Und was mache ich? Ich begehe den größten Verrat, den ich hätte begehen können.“

      „Du redest von Julia?“

      „Ja. Sie war zur selben Zeit in der Psychiatrie wie ich. Dort haben wir uns kennengelernt.“

      „Was ist dann passiert?“

      Susanne senkte den Blick, starrte auf die Wolldecke, die um ihre Füße gewickelt war. „Ich habe sie verraten. Zu meinem Vorteil. Jedenfalls dachte ich, dass es zu meinem Vorteil wäre.“

      Als Jo daraufhin schwieg, fügte sie hinzu: