Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
Скачать книгу
und Böse können überhaupt nicht gegeneinander antreten, denn Gut würde ja bedeuten, dass es einen Gott gibt, und das alleine ist schon völliger Schwachsinn.“

      „Sind Sie da ganz sicher?“

      „Oh ja. Gott ist nur ein kranker, grausamer Witz. Da oben im Himmel ist niemand, der uns beschützt. Und wenn er doch existiert, dann interessiert sich Gott einen Scheiß für die Menschen. Er sieht zu, wie sie leiden und sterben, und er tut nicht das Geringste, um ihnen zu helfen. Warum nicht?“ Julia warf die Hände in die Höhe. „Tja, darüber können wir nur spekulieren. Ich weiß nur, dass wir uns den Mund fusselig beten und flehen können, so viel wir wollen, und trotzdem wird er uns nicht helfen. Gut gegen Böse, sagen Sie? Dann soll er sich doch gefälligst selbst darum kümmern. Ich hab damit jedenfalls nichts zu tun. Ich habe alles gesagt. Ich bin weg.“

      „Frau Wagner“, sagte Paula von Jäckle leise. „Es ist jemand hier.“

      Julia verharrte in der Bewegung. „Wer?“

      „Spüren Sie es nicht? Spüren Sie nicht diese Kälte, die bis in die Knochen zieht?“

      Doch. Julia spürte es. Sogar sehr deutlich. Die Luft um sie herum schien plötzlich eisiger und dicker zu werden. Ein Schauder durchfuhr sie, fast so stark wie ein Stromschlag, sie spürte ihn förmlich durch Arme und Nacken fahren. Sofort schlugen alle Instinkte in ihr Alarm. Warnten sie. Doch sie kamen zu spät. Wie aus heiterem Himmel tauchte ein Blitz vor ihren Augen auf, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, verschwand Paula von Jäckle aus ihrem Blickfeld. Stattdessen tauchte eine andere Gestalt vor ihren Augen auf. So reglos, dass sie nichts als eine Verdichtung der Finsternis zu sein schien.

      Das kann nicht sein! Julia blinzelte. Das ist unmöglich!

      Aber sie sah ihn klar und deutlich vor sich, sah, wie er die Hand nach ihr ausstreckte.

      Pastor Jordan.

      Sie wich zurück. „Hau ab! Verschwinde!“ Doch falls er die Worte gehört hatte, so sie sie denn tatsächlich ausgesprochen hatte, nahm er keinerlei Notiz davon. Im Gegenteil, er kam nun einen Schritt näher. Und was er dann sagte, knallte wie Gewehrschüsse durch die kleine Kapelle: „Honesta turpitudo est pro causa bona.“

      Kaum hatte er es ausgesprochen, spürte Julia, wie alles in ihr zu vibrieren begann. Stechende Schmerzen jagten durch ihren Körper. Sie hörte ein leises Wimmern. Wirklich nur sehr leise, aber es war trotzdem deutlich zu vernehmen. Es war hinter ihr.

      Sie fuhr herum und sah Eva an dem schwarzen Kreuz hängen.

       Bitte, lass mich nicht sterben …

      „Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!“ Dieses Mal hörte Julia, wie sie es aussprach.

      Das Bild vor ihren Augen zerfiel, Eva am Kreuz löste sich auf, formte sich zu einer anderen Person.

      Julia blinzelte. Sandmann. Sandmann lag mit aufgeschnittener Kehle auf dem Altar. Sie blinzelte noch einmal, bemerkte aus den Augenwinkeln einen Schatten. Erneut fuhr sie herum und stand Wolfgang Lange gegenüber.

       Du hast den wahren Teufel übersehen, Julia.

      Und dann, so schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Dafür tauchten andere Gesichter vor ihren Augen auf. Immer mehr Gesichter. Menschen aus der Vergangenheit. Menschen aus der Gegenwart. Eine endlose Abfolge von Bildern. Wie in einem Kaleidoskop wechselten und veränderten sich die Gesichter, die Farben und die Formen.

      Dann hörte sie Stimmen. Fragmente von Wörtern und Sätzen, die durch ihren Kopf hallten. Und gerade als sie dachte, es nicht mehr auszuhalten, wurde es auf einmal ganz still.

      Einen Augenblick lang tat sich gar nichts.

      Dann eine weitere Stimme, seltsam vertraut, irgendwie bekannt und doch wieder nicht.

       Ich werde mir dein Herz holen, Prinzessin.

       Es ist in deinen Kopf, in deinen Leib, in deine Knochen geschrieben.

       Du kannst nicht gewinnen.

      Von irgendwo ertönte ein Grollen, wie Donner. Der Boden unter Julia schien sich zu bewegen. Sie wankte. Dann Paula von Jäckles Stimme: „Kommen Sie zu sich!“

      „Sind Sie in Ordnung?“

      Julias keuchender Atem riss Löcher in die Stille der Kapelle. Sie stemmte die Hände auf die Knie, in ihren Lungen stach es, als wäre sie gerade in fünf Minuten drei Kilometer gelaufen.

      Es dauerte noch einen Moment, dann nickte sie.

      Paula legte eine Hand auf ihre Schulter. „Sie glauben nicht, wie froh ich bin, dass es Ihnen gut geht.“

      „Und Sie glauben nicht, wie froh ich bin, wenn ich von hier wieder verschwunden bin.“ Dafür, dass sie sicher war, unter Schock zu stehen, kamen die Worte erstaunlich klar und deutlich aus Julias Mund. „Lieber Himmel, ich war mir gerade sicher, dass mich jede Sekunde der Schlag trifft.“

      „Dasselbe befürchtete ich für mich auch, das können Sie mir glauben.“ Paulas Blick taxierte sie. „Was haben Sie gesehen?“

      „Pfarrer Jordan. Er stand vor mir, in voller Größe.“

      „Was hat er zu Ihnen gesagt?“

      „Er sagte: Honesta turpitudo est pro causa bona.

      Paula formte den Satz mit den Lippen nach. „Sie wissen, was das bedeutet?“

      „Ich war beschissen in Latein, aber das krieg ich gerade noch so zusammen.“ Julia rang immer noch nach Atem. „Für eine gute Sache ist Schande ehrenvoll.“

      „Ein brillanter Satz. Einprägsam und gleichzeitig vieldeutig.“

      „Und was will er mir damit sagen?“

      „Das müssen Sie leider selbst herausfinden. Wen haben Sie noch gesehen?“

      „Eva, Sandmann und Wolfgang Lange.“

      „Sie habe ich ebenfalls gesehen. Aber es war noch eine weitere Person anwesend, nicht wahr?“

      „Ich habe noch eine Stimme gehört. Die Stimme eines Mannes. Ich bin mir sicher, dass ich sie kenne, dass ich sie schon einmal irgendwo gehört habe. Aber ich erinnere mich nicht. Wer war das?“

      „Jener Mann, der Ihren Tod will.“

      „Ja, das habe ich schon verstanden. Er hat es klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber hat er auch einen Namen?“

      „Ich habe ihn nur als den ‚Zaren‘ in den Karten gesehen.“

      Als Julia fragend die Augenbrauen in die Höhe hob, lächelte Paula dünn. „Ich sehe, Sie kennen sich aus in Dämonologie.“

      „Ich bin in einem katholischen Waisenhaus aufgewachsen. Der Zaren ist der Dämon der sechsten Stunde, der Geist der Rache.“

      „Richtig.“ Paula nickte. „Und eben das ist er. Böse und skrupellos und von Rache getrieben.“

      „Und warum hat er es ausgerechnet auf mich abgesehen?“

      „Das hatte ich Ihnen bereits erklärt. Weil nur Sie ihm gefährlich werden können. Nur Sie können ihn ausschalten.“

      „Warum nur ich?“

      „Sie alleine sind ihm ebenbürtig.“

      „Verdammte Kacke.“ Julia atmete tief und verzweifelt durch.

      „Sie müssen es annehmen“, fügte Paula hinzu, „sonst haben Sie keine Chance. Er ist längst auf dem Weg zu Ihnen, auf den verschiedensten Wegen. In Form von verschiedensten Personen. Vergessen Sie niemals, dass er nicht fair spielt.“ Sie suchte Julias Blick und hielt ihn. „Sie haben soeben alle Hinweise erhalten, die Sie brauchen. Sie müssen sie nur richtig zusammensetzen. Sie müssen verstehen. Aber vor allem, Sie müssen es annehmen. Dann können Sie gewinnen.