Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
Скачать книгу
ist der endgültige Sieg über die andere Seite.“

      „Und weiter?“, sagte Julia. „Was habe ich damit zu tun?“

      „Jeder von uns entscheidet sich irgendwann für eine der beiden Seiten. Für das Gute oder für das Böse.“

      „Ja, das habe ich schon verstanden, aber …“

      „Wie ich gerade sagte, diese Menschen sind das Böse. Sie aufzuhalten ist schwieriger, als mit bloßen Händen ein U-Boot zu bremsen.“ Paula ließ Julias Blick nicht los. „Sie, Frau Wagner, sind die Einzige, die sie aufhalten kann. Sie sind das Gegengift.“

      Julia saß einen Moment vollkommen still, dann lachte sie auf, sie konnte nicht anders. „Ja, klar. Wer sonst, wenn nicht ich?“

      Paula sah sich im Café um, als hätte sie Angst, jemand könnte ihnen zuhören. „Ich ahnte es von Anfang an und habe es Ihnen damals in Wittenrode auch gesagt“, wandte sie sich dann wieder an Julia. „Ich habe bereits in der ersten Sekunde Schatten um Sie herum gesehen. Schatten der Finsternis. Sie umhüllen Sie wie ein Mantel. Das ist der Grund, warum Sie hier sind. Und das ist der Grund, warum diese Menschen Sie ausschalten wollen.“

      Julia öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Setzte dann noch einmal an: „Sie wollen mir ernsthaft erzählen, ich sei dazu auserwählt, gegen das Böse anzutreten?“

      „Ja.“

      „Sie verstehen, dass ich spätestens jetzt wieder aufstehen und gehen würde, wenn Sie nicht meine letzte Hoffnung wären.“

      „Ja, das verstehe ich. Trotzdem ist und bleibt es die Wahrheit.“

      Hilflos hob Julia die Hände in die Höhe. „Warum ausgerechnet ich? Warum nicht jemand anders?“

      „Ich denke, Sie kennen die Antwort darauf“, sagte Paula.

      „Nein. Ich kenne die Antwort darauf nicht.“

      „Dann müssen Sie sie bekommen. Aber nicht hier.“

      „Wo dann?“

      „Sie müssen noch einmal zurück nach Wittenrode. In die alte Kapelle.“

      „Auf gar keinen Fall. Das können Sie vergessen.“

      „Sie haben keine Wahl, Frau Wagner.“ Paulas Blick war ernst. „Ich will Ihnen nicht mehr Angst machen als nötig, aber ich glaube, nicht nur Sie sind in Gefahr. Es geht auch um Ihre Freundin.“

      „Eva?“

      „Ich glaube, dass sie sich in großer Gefahr befindet.“

      Sofort war Julia auf den Beinen. „Wenn Sie Eva etwas antun wollen, dann werde ich das verhindern.“

      „Aber dafür brauchen Sie die richtigen Waffen“, sagte Paula schnell. „Und die richtigen Waffen sind in diesem Fall Antworten. Wenn Sie jetzt überstürzt handeln, werden Sie einen Fehler machen, und das werden Sie nicht überleben. Also bitte, setzen Sie sich wieder hin.“

      Eine Weile sahen sie sich in die Augen, dann ließ Julia sich langsam auf den Stuhl zurücksinken.

      „Sie müssen sich Ihrer besonderen Kräfte und Fähigkeiten bewusst werden“, erklärte Paula.

      „Was reden Sie denn da? Ich besitze keine besonderen Kräfte oder Fähigkeiten. Und ich bin auch nicht hier, um die ganze verdammte Welt zu retten. Ich bin einfach nur … ich.“

      „Sie besitzen mehr, als Sie ahnen.“

      Ungeduldig schüttelte Julia den Kopf.

      „Sie haben während Ihrer Zeit bei der Polizei viele tote Menschen gesehen, nicht wahr?“

      „Das blieb bei der Mordkommission leider nicht aus.“

      „Nein. Natürlich nicht. Aber da ist noch mehr. Sie können sie spüren. Die Toten. Sie können ihre pulsierende Präsenz spüren.“

      Julia hob überrascht den Blick. „Woher wissen Sie das?“

      „Sie waren vor allem deshalb so gut in Ihrem Beruf, weil Sie über genau diese Fähigkeit verfügen“, sprach Paula weiter, ohne auf die Frage einzugehen. „Sie haben nie mit jemandem darüber gesprochen, aber so war es. Warum lehnen Sie es so sehr ab, darüber zu reden?“

      „Weil es nichts ändern würde. Und weil es mit dieser Sache hier auch überhaupt nichts zu tun hat. Ich komme klar, auch ohne über den ganzen Kram zu reden.“

      „Sie sind bisher nur schwer damit klargekommen.“

      Einen Moment sahen sie sich in die Augen.

      „Beschreiben Sie es“, forderte Paula dann.

      „Es …“ Julia suchte nach den richtigen Worten. „Es ist wie … eine kalte Schwärze, die angefüllt ist mit Wimmern, herumhuschenden Schatten und dumpfem Stöhnen. Es geistert in meinem Kopf umher und lässt mich Dinge empfinden, Gefühle, die ich kaum beherrschen kann.“

      „Wie äußert es sich?“

      „Meistens in Albträumen. Aber manchmal sehe ich sie auch direkt vor meinen Augen. Tote Menschen.“ Julia hob die Hände in die Höhe. „Ich hab versucht, es zu ignorieren, aber es kam immer wieder. Irgendwann so präsent, dass ich dachte, ich drehe durch. Ich dachte, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich endgültig überschnappe. Dann dachte ich wieder, ich kriege es in den Griff, aber …“ Sie schnippte mit den Fingern. „Nein.“

      „Haben Sie das alles erst gespürt und gesehen, nachdem Sie bei der Polizei angefangen hatten?“, wollte Paula wissen.

      „Nein. Ich habe schon als Kind im Waisenhaus Dinge gesehen … Menschen … die niemand außer mir sehen konnte.“ Julia hob den Blick und sah Paula in die Augen. „Sie redeten mit mir. Ich habe sie nicht verstanden, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass sie mir etwas mitteilen wollten. Ich habe versucht, zuzuhören, aber ich habe sie nicht verstanden.“

      Paula nickte langsam. „Vielleicht weil es damals noch nicht an der Zeit war.“

      Julia atmete tief durch und schwieg.

      „Sie haben die Macht, in den Herzen der Toten zu lesen“, fügte Paula hinzu. „Sie können Dinge sehen und spüren, die andere nicht zu sehen und spüren vermögen. Das ist eine seltene Gabe, und sie wird Ihnen helfen, diesen Fall zu lösen. Sie werden die Mörder Ihres Vaters finden. Sie werden herausfinden, wer nun hinter Ihnen her ist. Und Sie werden diese Leute ausschalten. Aber nur, wenn Sie es zulassen, sich eingestehen, dass Sie anders sind. Dass Sie diese Fähigkeit haben. Und wenn Sie jetzt handeln.“

      „Sie können versuchen, was Sie wollen, ich werde nicht noch einmal in diese Kapelle gehen. Auf gar keinen Fall.“ Julia beugte sich nach vorne. „Wie stellen Sie sich das überhaupt vor? Was soll dort passieren?“

      „Wir nutzen Ihre und meine Gabe, um die Antworten zu bekommen, die Sie brauchen.“

      Als Julia einmal mehr ungeduldig den Kopf schüttelte, seufzte Paula leise auf. „Ziehen wir noch einmal das Schachspiel heran. Es sind schon viele Menschen gestorben, was in den Augen ihrer Gegner aber nur dem Verlust von Bauern gleichkommt. Wenn Sie selbst nun zurück in die alte Kapelle gehen, dann machen Sie einen Zug mit dem Springer.“

      Als Julia nicht darauf antwortete, fügte Paula hinzu: „Aber was noch viel wichtiger ist: Mit den Antworten, die Sie dort erhalten, können Sie nicht nur sich selbst, sondern auch Ihre Freundin schützen.“

      Der Wind wehte quälend, schneidend, eiskalt über sie hinweg, während sie schweigend den Berg hinaufstiegen. Julia zog den Kopf zwischen die Schultern und wunderte sich, über wie viel Energie Paula von Jäckle verfügte. Sie hatte ihr Tempo zu keiner Zeit verringert, machte unablässig und zielsicher Schritt für Schritt nach oben.

      Julia selbst hielt die Augen auf den Boden gerichtet und fragte sich, warum, zum Teufel, sie sich darauf eingelassen hatte.

      „Wollen Sie darüber reden?“, fragte Paula.

      Ihre