Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643084
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Legende um den Ort: die Legende um den Schwarzen Mann.

      Vor langer, langer Zeit, so erzählten es die Dorfbewohner, suchte eine unheimliche Gestalt das Dorf heim. Niemand bekam sie je zu Gesicht, aber alle wussten, dass sie da war. Scheunen gingen mit einem Mal lodernd in Flammen auf, von Hühnern und Schweinen in den Ställen wurden nur noch die Knochen gefunden, Hunde und Katzen verschwanden spurlos. Hysterie brach aus im Dorf, die Türen wurden verrammelt, eine Bürgerwehr gegründet. Man suchte, aber man fand ihn nicht, den Schwarzen Mann. Doch seine Taten gingen weiter. Wenigstens noch eine Zeit lang. Und dann, ganz plötzlich, passierte nichts mehr. So schnell, wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden.

      Ob dies alles tatsächlich genau so geschehen war oder ob es sich nicht doch einfach nur um eine Legende handelte, konnte nie wirklich geklärt werden. Ebenso wenig die Frage, warum er – der Schwarze Mann – sich ausgerechnet Weidling für seine Tyrannei ausgesucht hatte. Und warum er so plötzlich wieder verschwunden war – und wohin –, darauf hatte auch niemand eine Antwort.

      Wie auch immer, inzwischen waren viele, viele Jahre vergangen, und bis vor einer Stunde war alles im Dorf ruhig gewesen, die beschlagenen Fenster hatten die Häuser blind gemacht. Nichts hatte die Leute aus ihren Häusern locken können.

      Wie gesagt, bis vor einer Stunde.

      Von dieser Stunde trennte die Dorfbewohner nun eine ganze Welt. Jemand war auf ihrem Marktplatz ermordet worden. Im Schnee aufgefunden, mit zwei Kugeln im Leib, und jetzt waren alle auf den Beinen. Auf einmal schien niemand mehr ein Problem damit zu haben, das Haus zu verlassen; Hände reibend standen sie am Tatort und wirkten dabei wie Landstreicher, die sich an einem Feuer wärmten. Sogar Rocco, der Schäferhund des Dorfwirtes, saß inmitten der Menge. Brav auf seinem Hintern, die Ohren gespitzt, beobachtete er interessiert, was sich um ihn herum tat.

      „Macht gefälligst alle ein paar Schritte zurück!“, rief Marina Mayer. „Ihr zertrampelt ja die ganzen Spuren!“

      Murmelnd bewegte die Menge sich rückwärts.

      Warum ausgerechnet hier? war dann das Erste, was sie sich fragte, während sie auf den Toten hinunterstarrte, auf die kurzen dunklen Haare, die teuren Schuhe und die weit geöffneten, starren Augen, die in den schneienden Himmel blickten. Die zweite Frage, die Marina sich stellte, war, wie alt er wohl geworden war? Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig.

      „Erschossen“, sagte der Mann, der neben dem Toten stand. Sein Name war Dirk Eismann, und eigentlich verfügte er über keinerlei fachliche Kompetenz, was die klassische Schulmedizin betraf. Er war Tierarzt. Die Todesumstände dieser Leiche hätte allerdings auch der danebenstehende Metzger erkannt. „Mit zwei Kugeln“, fügte er hinzu. „Eine in die rechte Schulter, die zweite offenbar direkt ins Herz.“

      „Ritualmord!“, rief jemand.

      „Mafia in Weidling!“, fügte ein anderer unsinnigerweise hinzu.

      Und sofort geriet die Menge in Wallung.

      „Wir brauchen die Polizei!“

      „Ich bin die Polizei!“, fauchte Marina, atmete tief durch und zog sich die dicke Fellmütze etwas weiter in die Stirn. „Ich wollte bereits Verstärkung anfordern, kann im Augenblick aber leider niemanden verständigen. Die Telefone sind tot, und die Handys haben kein Netz.“

      „Was ist mit dem Computer?“, fragte jemand.

      „Auch da geht im Moment nichts. Und selbst wenn ich die Kollegen erreichen könnte, käme im Augenblick niemand zu uns durch. Wir müssen uns erst einmal alleine darum kümmern und hoffen, dass wir so bald wie möglich wieder eine Verbindung zur Außenwelt haben.“ Sie wandte sich wieder an Eismann. „Hast du Papiere bei ihm gefunden?“

      Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“

      „Dann sollten wir uns zuerst einmal Klarheit darüber verschaffen, um wen es sich hierbei überhaupt handelt.“

      „Vielleicht meldet sich ja jemand. Vielleicht ist der Mann ein Tourist und wird schon bald vermisst.“

      Marina deutete auf die Pistole, die neben dem Toten im Schnee lag. „Ein Tourist ohne Papiere, aber mit einer Waffe?“ Sie wandte sich an die Menge. „Elli, wie viele eurer Fremdenzimmer sind zurzeit vermietet?“

      Eine Frau um die fünfzig, eingewickelt in einen Poncho, trat nach vorne. „Keins.“

      Marina wandte sich wieder an Eismann. „Mehr Fremdenzimmer haben wir nicht in Weidling. Wir machen auf jeden Fall ein Foto von seinem Gesicht. Und dann …“

      „Ich hab die Försterhütte vermietet“, unterbrach eine Männerstimme.

      Alle wandten die Köpfe in Richtung eines mittelgroßen Mannes, um die sechzig, der einen weißen zotteligen Bart im Gesicht und eine russische Pelzmütze auf dem Kopf trug. Sein Name war Frieder Fäth. Er deutete auf den Toten im Schnee. „Aber nicht an ihn. An eine Frau aus Hamburg. Ihr Name war … warte …“ Er überlegte, dann fiel es ihm wieder ein: „Haack.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung des Wagens, neben dem der Tote lag. Deutete auf das Kennzeichen. „Muss ihr gehören, der Wagen.“

      „Dann gehört ihr vielleicht auch die Waffe“, bemerkte Eismann.

      Alle blickten nun den Berg hinauf, auf dem sich die Försterhütte befand und der umgeben war von dichten Nebelschwaden. Eine Wand aus Watte, die alles schluckte.

      „Also, wenn sie inzwischen dort oben ist, dann wirst du die Verhaftung noch etwas verschieben müssen“, bemerkte Eismann. „Ohne Hubschrauber kommst du da jetzt nicht mehr rauf.“

      „Und wie soll sie den Berg hinaufgekommen sein?“, fragte Marina. „Ohne Auto? War die Fahrertür eigentlich offen, so wie jetzt?“

      Eismann nickte. „Der Zündschlüssel steckt.“

      Marina wandte sich wieder an Frieder. „Wann hast du der Frau die Hütte vermietet?“

      „Vor zwei Tagen“, antwortete er.

      Jemand räusperte sich. „Ich glaube, sie war heute Morgen in meiner Apotheke. Also … die Frau aus Hamburg.“

      Alle Köpfe wandten sich nun in Richtung einer alten Frau, die einen vorsichtigen Schritt nach vorne machte. Ihre Haut war so runzlig, dass sie an einen ausgetrockneten Apfel erinnerte. Ihr Name war Margot Morgenstern, ihr gehörte die Apotheke im Dorf. Offenbar hatte sie es eilig gehabt, hierherzukommen, denn sie trug nur eine dünne Strickjacke, die sie frierend enger um sich zog. Aber immerhin, die rosa Ohrwärmer hatte sie nicht vergessen. Margot war schon weit über siebzig und nicht mehr sehr gut auf den Beinen, trotzdem weigerte sie sich beharrlich, in Rente zu gehen, was daran liegen mochte, dass sie selbst ihre beste Kundin war.

      „Sie sah sehr auffällig aus“, fügte sie hinzu. „Helle, rote Locken und … “

      „Genau!“ Frieder machte eine weit ausholende Bewegung, die an einen Zirkusdirektor erinnerte. „Das ist sie! Vergisst man nicht so schnell.“

      „Was hat die Frau bei dir gekauft?“, wollte Marina von Margot wissen.

      „Medikamente gegen Asthma.“

      „Und hat sie auch etwas zu dir gesagt?“

      „Nein. Sie kaufte die Medikamente und verschwand dann ganz schnell wieder. Ich dachte noch, dass sie es bestimmt eilig hat, wieder nach Hause zu kommen. Wo immer das sein mag.“

      Marina zog sich ihre Mütze noch etwas weiter über die Ohren. Es war wirklich verdammt kalt. Dann wandte sie sich noch einmal an Frieder Fäth. „Kannst du mir etwas mehr über die Frau sagen?“

      Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie rief vor drei Tagen bei mir an und fragte nach der Hütte. Einen Tag später kam sie vorbei und holte den Schlüssel. Das war’s.“

      „Hast du ihr keine Fragen gestellt?“, hakte Marina nach. „Gar keine?“

      „Nein.“

      „Hat sie bar bezahlt?“

      „Ja.“