Klangvolle Stille. Julian Schwarze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julian Schwarze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902901354
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      »Oh, gewiss nicht. Ihr müsst wissen, seit Hunderten von Jahren lebt unser Volk verborgen in diesen Wäldern. Wir fürchten jeden Menschen, denn schon lange versuchen sie unsere Stadt aufzuspüren und uns anzugreifen. Die wenigen Händler und Reisenden, die unserem Volk vertraut sind, vermeiden es zumeist, sich als Menschen zu erkennen zu geben.«

      »Wie das Hexenweib? War sie hier?«

      »Ja, vor vielen Jahren. Sie muss schon recht alt gewesen sein, als sie starb.« Wir schritten die Straße entlang, gefolgt von mehreren Kriegern, deren Hände auf den Schwertgriffen ruhten.

      »Sie war vierzehn Jahre alt, als sie mich in den Wäldern fand.«

      »Preston, der auserwählte Findling im Wald, als Einsiedler aufgewachsen, verborgen vor jeder Menschenseele.«

      »Sie sprach von mir?« Eine neue Welt tat sich mir auf. Erstmals schien jemand von meiner Existenz zu wissen, doch nicht nur dies: Ich hatte offenbar eine Bestimmung im Leben, von der ich nichts geahnt hatte. Doch was würde mich nun erwarten? Wer war das Hexenweib wirklich? Konnte ich überhaupt noch behaupten, sie gekannt zu haben? Sie war eine Vertraute der Elfen, gab mir ein magisches Schwert, das mich mit einem Schlag zu einem Auserwählten machte.

      »Ich verstehe nicht…«

      »Sie hat Euch nie davon erzählt?«, fragte die Elfe zaghaft.

      »Sie war mir eine Mutter, und ich… ich war der Namenlose.«

      »Ihr seid deutlich mehr als ein Namenloser – Ihr habt gegen die Arasien gekämpft und drei von ihnen bezwungen! Ich war bisher noch keinem Menschen begegnet, der dies vollbracht hat.«

      »Wie vielen Menschen seid Ihr denn bisher begegnet?«

      »Mit Euch sind es drei gewesen – und zwei davon waren Frauen.«

      »Kanntet Ihr das Hexenweib auch?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich war noch zu jung, als sie das erste Mal unsere Stadt aufsuchte. Niemand wusste, woher sie den Weg zu uns kannte, auch schien unsere Magier ihr nichts anhaben zu können, es war, als sei sie…«

      »Eine Hexe«, beendete ich den Satz.

      »Ja, eine Hexe«, bestätigte die Elfe und lächelte erneut. »Sie hat viele hoch gestellte Männer aufgesucht, und obwohl ein jeder wusste, dass sie eine Hure war – man sah es an ihrer Kleidung –, so schaffte sie es dennoch, von ihnen empfangen zu werden. Sie war auch bei einem alten Freund von mir, und der hat mir von ihr erzählt. Daher kenne ich ihren Namen und die Prophezeiung.«

      »Prophezeiung? Welche Prophezeiung?«

      Plötzlich wurde sie ganz ernst. »Darin sollen Euch die Hohen Offiziere einweihen.«

      Fortan schwieg sie. Auf beiden Seiten der Straße ragten mehrstöckige Häuser empor, die alle zur Gänze aus Stein gebaut waren, nicht wie in Hesana, wo lediglich das Fundament und die Grundmauern steinern waren. Erstmals sah ich eine Stadt, deren Straßen frei von Müll und stinkenden Kloaken waren und in der niemand in Lumpen gehüllt herumlief. Auf dem Markt, an dem wir vorbeikamen, ging es friedlich zu – es gab keinen Streit, keine wüsten Beschimpfungen und niemand versuchte Waren zu stehlen. Die Spielmänner führten Kunststücke vor, es gab keine Sklaven, die an Pfosten gebunden waren und mit Abfällen beworfen oder verprügelt wurden. Diese Stadt inmitten des großen Waldes war ein Ort des Friedens, wie er in den gelehrten Schriften der Weisen so oft als Ideal beschrieben worden war. Hier, bei den Elfen, waren die Bürger frei. War dies der Friede, nach dem ich strebte? Konnte man hier ein Leben führen, wie ich es mir so lange ersehnt hatte? Hatten die Elfen eine Gesellschaftsordnung geschaffen, die allen ein glückliches Leben ermöglichte?

      »Ihr seht überrascht aus.« Die Elfe holte mich in die Gegenwart zurück.

      »Ich war noch nie zuvor… dies muss das Himmelsreich sein, wo die Gottheiten über die Geschöpfe wachen.«

      »Wir leben in einer friedlichen Stadt«, antwortete sie stolz. »Doch sind Eure Worte nicht gar… übertrieben?«

      »Ich bin schon vielen Kreaturen begegnet: Menschen, Bettas, Arasien, selbst mit den Renz hatte ich zu tun, doch so ein friedliches Zusammenleben hab ich noch nie gesehen – abgesehen von kleinen Dörfern in den Provinzen, wo man einander beisteht. Aber dies hier ist eine Stadt, eine riesige Stadt mit Hunderten Einwohnern.«

      »Auch hier gibt es Streit und Elend. Es sind die Umstände, die unseren Zusammenhalt stärken. Außerhalb der Stadtmauern sind wir nämlich wehrlos. Wir leben inmitten eines Kaiserreichs, das uns feindlich gesinnt ist. In den Wäldern leben Arasien, und wie Ihr wisst, besteht zwischen uns seit Jahrhunderten erbitterter Hass. Um überleben zu können, sind wir Elfen aufeinander angewiesen.«

      »Auch in den Menschenstädten ist man aufeinander angewiesen.«

      »Gewiss, doch es ist noch etwas anderes, das uns verbindet«, sie senkte die Stimme und trat näher an mich heran. »Wir Elfen entstammen zwar unterschiedlichen Stämmen, doch haben wir alle dieselben Feinde: Arasien, Menschen und Bettas. Ihr Menschen kämpft zwar ebenfalls gegen die Arasien, doch sind sie keine wirkliche Bedrohung für euch. Die größte Bedrohung für die Stadtbürger im Kaiserreich ist, dass jemand sie um ihr Geld und ihren Besitz bringt.«

      Ich musste lange über diese Worte nachdenken. Konnte wirklich nur ein gemeinsames Feindbild ein Volk einen?

      An einer Straßenkreuzung bogen wir in die breite Hauptstraße ab. Mir stockte der Atem, als sich mir der Blick auf das prächtige Gebäude am Ende der Straße öffnete.

      »Gefällt es Euch?«

      »Ist dies der Königspalast?«

      »Wir haben keinen König in Dagorra. Es ist unsere Stadtbibliothek – die größte, die je von Elfen erbaut wurde, weitaus größer als jene in Alphradon«, sagte meine schöne Begleiterin voller Stolz. »Aber Ihr habt nicht unrecht«, fuhr sie fort, als wir weitergingen. »Ursprünglich war es als Palast gedacht. Einer unserer früheren Könige – zu Zeiten, als Alphradon und Dagorra noch unter getrennter Krone geführt wurden – war ein begeisterter Schriftensammler. Sein Großvater hatte den Palast errichten lassen, und Ihr könnt Euch vorstellen, dass sich der gewaltige Bau über Jahre hinzog. Und so änderte der gelehrte König seine Pläne: Nur das oberste Stockwerk sollte der Königsfamilie zur Verfügung stehen, der Rest sollte die Werke der gelehrten Schreiber beherbergen und dem Volk zugänglich sein.«

      »Ein König, der lieber ein Haus für Bücher als für sich selbst baut? So ein Mann hätte in einer Menschenstadt kein langes Leben zu erwarten.«

      »Nun, den Aufzeichnungen zufolge war jener König eine Frau.«

      »Würde man dann nicht Königin sagen?«

      Die Elfe schüttelte den Kopf. »Nein, anders als in Alphradon waren in Dagorra Frauen als Herrscher damals noch verpönt. Es war unvorstellbar – und dennoch gab es sie. Jene weiblichen Könige mussten männliche Kleidung tragen, bekamen einen männlichen Namen, nur um keine Schande über unser Volk zu bringen.«

      »Wie kam es dazu, dass eine Frau zum König gekrönt wurde?«

      »Oh, zum einen lebte man damals recht zurückgezogen. Es konnte durchaus vorkommen, dass Mädchen als Burschen erzogen wurden, da jene mehr galten. Bis auf die eigene Mutter und die Hebamme wusste niemand davon. Zum anderen erwiesen sich manche Frauen als ausgesprochen führungsstark und waren in der Lage, dem Volk Schutz und Wohlstand zu garantieren. Wenn es keinen ebenbürtigen männlichen Gegenkandidaten bei der Königswahl gab, wurde eben diese Frau gekrönt.«

      »Eine Frau sollte niemals geringer geachtet werden als ein Mann! Auch wenn ich die Arasien meide, so beeindruckt es mich, dass bei ihnen die Frau sogar einen höheren Stellenwert hat als der Mann, denn sie bringt neues Leben hervor, während er es nur zerstört.«

      »Wenn nur alle Männer so denken würden! Noch heute gibt es in Dagorra kaum eine weibliche Führungskraft.«

      »Doch Ihr scheint viel Einfluss und Macht zu haben.«

      Die