»Wir gehen einfach systematisch vor, wie der Doc sagt. Aber das eilt, also sollten wir alles andere hintanstellen.« Rebecca stand auf, während sie das sagte, und starrte nach unten auf den rätselhaften Abdruck. »Wenn wir nur ein Stück von ihm finden, das so groß ist, wie ein Sandkorn, dann haben wir es.«
»Chaney!«
An seinem Schreibtisch im U.S. Marshals Service in Washington eingeschlafen, öffnete Chaney die blutunterlaufenen Augen. Er sah das abgezehrte Gesicht von Marshal Hank Vincent, oder Skull – Totenschädel –, wie sie ihn wegen seines gnadenlosen Gesichtsausdrucks nannten, auf ihn zukommen. Er sah, dass Skull einen Ausgabenbeleg in der Hand hielt und ihn fest zusammengerollt hatte.
Chaney murmelte: »Oh, Scheiße.«
Ein Dutzend Deputy U.S. Marshals, die im Büro waren, stellten plötzlich fest, dass sie anderswo gebraucht wurden, und gingen in verschiedenen Richtungen davon. Mit erstaunlicher Ruhe sagte Chaney: »Hey, Chief, ich wollte gerade mit Ihnen reden, über diese kleine …«
Skull hielt den Beleg vor Chaneys Gesicht. »Erklären Sie mir mal …«, sagte er langsam, »… wie Sie 5.000 Dollar in einem einzigen Monat für Benzin ausgeben konnten, wenn Sie nie die Stadt verlassen. Das würde ich mir gern anhören. Könnte ein Klassiker werden.«
»Reiseausgaben, Boss.«
»Reiseausgaben?« Skull starrte ihn an, als hätte er den Begriff noch nie gehört. »Reiseausgaben? Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?« Er zeigte in eine bestimmte Richtung. »Ich will Sie in meinem Büro sehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er davon.
Chaney erhob sich bedächtig, versuchte halbherzig, die Krawatte zu richten. Unter einem Chor aus gemurmeltem »Viel Glück«, ging er langsam in Marshal Vincents Büro und schloss leise die Tür. Er stand mit verschränkten Armen vor ihm, versuchte seine Ehre zu bewahren. Skull starrte ihn an. Nach einem Moment schüttelte der Marshal langsam den Kopf. Ein dünnes Lächeln zerknitterte seine Lippen. Es war ein seltener Augenblick. Er warf den Beleg auf den Tisch und lehnte sich zurück, wobei er weiter den Kopf schüttelte.
»Also Reiseausgaben«, sagte er schließlich. »Aber Sie haben doch letzte Woche das Kartell ausgehoben, oder, Chaney? Haben Lau Thai verhaftet, als er gerade einen seiner besten Deals abschließen wollte.«
Chaney nickte und sah dann zur Seite, als Skull einen weiteren Beleg hochhielt. »Hier steht, dass Sie vor sechs Wochen Ihr Budget für Spitzel ausgeschöpft haben. Wie lange haben Sie an dem Fall gearbeitet?«
»Sechs Monate, Sir.«
»Wie haben Sie also im letzten Monat Ihre Spitzel bezahlen können, um herauszufinden, wo der Deal stattfindet?«
Nach einer Pause, meinte Chaney: »Nun, Boss, ich musste mich auf meine Kreativität und meine Fähigkeiten verlassen. So, wie wir das machen sollen.«
Darüber musste Skull tatsächlich lächeln. »Ja, Chaney, ich wette, das haben Sie.« Er wartete einen Moment und lachte dann bellend. »Das«, er deutete auf die Tür, »nennt man Straßentheater. Ich hab das gemacht, weil jeder weiß, was Sie getan haben, und ich nicht will, dass man Ihrem Beispiel folgt. Sie sind da einige Risiken eingegangen, Chaney, und Sie haben es durchgezogen. Aber Sie haben das nur geschafft, weil Sie Ihre Straßenkontakte haben, und es gibt nicht viele, die das haben. Das ist eine untergegangene Kunst. Also, jemand wie Sie kann ein Risiko eingehen und damit Erfolg haben. Aber die anderen sollten das nicht einmal probieren.« Er runzelte die Stirn. »Einige würden das, wissen Sie. Sie würden alles investieren, das Geld verpulvern, und nichts erreichen. Dann würde man sie dafür kreuzigen. Noch schlimmer, ich müsste sie dafür kreuzigen. Denn ich wäre nicht in der Lage, sie dafür in Schutz zu nehmen.«
Skull wartete; Chaney schwieg.
»Wissen Sie …«, Skull schien einen Bleistift zu mustern, »… die haben mir ganz schön Feuer unterm Hintern gemacht, wegen der Verhaftung von Lau.«
»Feuer unterm Hintern? Wieso? Das war ein guter Fang.«
»Weil Lau in die Zuständigkeit der DEA fiel.« Skull gestikulierte mit dem Bleistift, als wäre ihm das in Wahrheit völlig egal. »Streit um Zuständigkeiten … so was in der Art.«
»Er war ein bekannter Justizflüchtling, Boss.«
»Dann hätte sich die entsprechende Abteilung darum kümmern müssen«, sagte Skull und schien plötzlich ernst. »Verdammt, Chaney, Sie arbeiten bei der Aufklärung und Gegenaufklärung. Sie sollten ermitteln, ob es aktuell einen Geheimagenten gab, der mit den Banden aus dem Goldenen Dreieck zusammenarbeitet, nicht den verdammten Lau jagen. Wenn Sie sich nicht in Ihren wöchentlichen Berichten so viel kreative Freiheiten erlaubt hätten, dann hätte ich Ihnen schon früher den Arsch aufgerissen. Und was das Ganze noch verschlimmert, das FBI sagt, Sie haben Laus Rechte mit Füßen getreten, denn Sie haben sich beim Verhör nicht gerade zurückgehalten, haben versucht, ihn zu zwingen, seine Kontakte offenzulegen. Und zur Krönung behauptet er auch noch, Sie hätten ihm nicht einmal seine Rechte verlesen.« Er machte eine Pause. »Sie sagen, Sie haben die ganze Verhaftung versaut und wir können ihn überhaupt nicht anklagen. Sie wollen eine Untersuchung des Falls.«
Chaney ließ sich nichts anmerken, aber er machte einen Schritt nach vorn, um das Namensschild auf dem Schreibtisch zu berühren. Es war aus dunklem Ahorn, mit einer goldenen Plakette, auf der Marshal Hank Vincent aufgedruckt war.
»Nun, wissen Sie, Boss«, begann er, »wir müssen Lau gar nicht wegen seiner Verbrechen anklagen. Er ist dreimal auf Bundesebene verurteilt worden und hat sich der Justiz entzogen. Wenn er nicht aus dem Bundesgefängnis Lompoc entkommen wäre, dann hätte er weitere fünfzig Jahre gesessen, ohne Aussicht auf Bewährung. Und das wird er, sobald ich ihn zurückeskortiere. Ich gebe zu, dass ich ihn, äh, allein verhört habe, und ich hab vielleicht vergessen, ihm seine Rechte komplett zu verlesen, aber jetzt haben wir sämtliche Namen seiner amerikanischen Kontakte.« Chaney zögerte, zuckte die Achseln. »Wir können etwas bewirken mit diesen Informationen. Das war ein guter Fang.«
Skull verschränkte die Arme. »Und er ist in der Notaufnahme gelandet, weil …?«
Chaney streckte die Hände zur Seite aus: »Nun, verdammt, er hat sich der Verhaftung widersetzt. So einfach ist das.«
»Aha.« Skull ließ es einen Augenblick unkommentiert. »Ich werde mich um diese Anfänger kümmern, Chaney. Ich sage denen, wir werden keine Ermittlungen wegen Artikel 31 einleiten, und wenn denen das nicht gefällt, dann können die mich mal an meinem pickligen Arsch lecken.« Er verschob ein paar Papiere. »Okay, ich habe einen anderen Auftrag für Sie. Ich will, dass Sie sich gleich auf den Weg machen.«
Chaney schwieg. Es war eine seiner Angewohnheiten, so wenig wie möglich zu sagen, wenn er mit einem Vorgesetzten sprach. Seiner Meinung nach war es schwer, sich selbst zu belasten, wenn man nichts sagte, womit er oft entweder vorsichtig oder unhöflich wirkte.
»Da ist’s.« Skull breitete die Akte aus. »Es sieht aus, als hätten wir einen militärischen Vorfall in Alaska, der …«
»Die Army?« Chaney hob die Augen. Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Die haben ihre eigenen Marshals. Was hat das mit uns zu tun?«
»Hören Sie erst einmal zu.« Skull gestikulierte, ungewöhnlich geduldig. »Er sieht aus, als hätte es in einer Forschungsstation, in der nicht nur geforscht wurde, einige ernsthafte Probleme gegeben. Wie zum Beispiel ein paar Tote. Eine ganze Menge Tote. Ich will, dass Sie sich das ansehen.«
»Wieso ich? Und überhaupt, wieso wir?«
Skull sagte für einen Moment nichts und stand dann langsam auf, um durch das Fenster hinter seinem Schreibtisch zu sehen. In der Ferne sah Chaney den Verkehr, der sich behäbig über die Ringstraße wälzte, die hinter dem Gebäude vorbeiführte.
»Weil ein paar unserer Freunde im Kongress sich Sorgen machen über ein Gerücht, dass in der Forschungsstation im Geheimen an biologischer Kriegsführung geforscht wurde«, sagte Skull schließlich. »Das fällt