Sie studierten den Abdruck eine Weile schweigend.
»Nun?«, frage Maddox schließlich. »Jetzt, wo Sie einen Abguss der Spur gesehen haben, was schließen Sie daraus? Sicher kann Ihnen doch der Abdruck mehr sagen, als ein einfaches Foto.«
Hunter ließ die Finger sanft über den Abdruck gleiten. »Wie lange dauerte es von der Attacke bis zum Gießen dieses Abdrucks?«
»Ungefähr sechs Stunden.«
»Die Wetterbedingungen?«
»Trocken.«
»Wind?«
Maddox brauchte einen Moment. »Ich glaube, es war relativ mild.«
»War es in Sand, Erde oder Lehm?«
»Einfache Erde, glaube ich.« Maddox wirkte frustriert. »Wieso fragen Sie? Ja, ja, ich erinnere mich daran, was Sie über Zeit und Alter und Erosion gesagt haben und dass die Spuren davon beeinflusst werden. Aber jetzt, wo Sie den Gipsabdruck aus der Nähe gesehen haben, können Sie mir doch sicher wenigstens eine Idee nennen, womit wir es hier zu tun haben?«
Tipler warf Hunter einen besorgten Blick zu.
»Gentlemen?«, drängte Maddox. Seine Frustration schien sich schnell in Nervosität zu verwandeln.
Mit einem Seufzen schüttelte Hunter den Kopf. »Es ist ein Sohlengänger«, sagte er nur. »Es setzt die Ferse auf und sie berührt komplett den Boden, wie ein Mensch. Normalerweise, wenn man eine Fährte sieht, stammt sie von einem Tier, das sich gewöhnlich langsam fortbewegt. Aber dieses Ding hat sich schnell bewegt. Ist gerannt. Es ist vermutlich männlich, denn es proniert. Männchen neigen dazu, mehr auf der Außenkante der Füße zu laufen, während Weibchen eher supinieren, oder mehr Druck auf die Innenseite der Füße legen. Und es ist nicht sehr alt, denn man sieht kaum Verschleifung.«
»Verschleifung?«
Hunter wedelte mit der Hand durch die Luft. »Das ist kompliziert. Es braucht jahrelange Erfahrung, bis man das Alter in einem Trittsiegel ablesen kann. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Aber ich bin ziemlich sicher, dass dieses Ding nicht mehr als fünf oder sechs Jahre alt ist.«
»Sie haben immer noch keine Idee, was es ist?«
»Nein.«
Der Colonel schien erstaunt. »Aber Sie müssen doch mittlerweile irgendeine Vorstellung haben!«
Hunter wirkte nachdenklich. »Ich weiß, wie es sich bewegt, Colonel«, sagte er. »Ich weiß, wie es denkt. Wie es angreift. Wie es tötet. Ich weiß, dass es rechtshändig ist, und ich bin mir ziemlich sicher, was das Alter angeht. Ich weiß, dass es um die 140 Kilo wiegt. Ich weiß, dass es stark und schnell und gefährlich ist. Aber, nein, ich weiß nicht, was es ist.«
»Aber Sie haben gesagt, die Spuren sehen ein wenig nach einem Bären aus.«
»Diese Spuren wurden verwischt, und das heißt nicht, dass es ein Bär ist«, antwortete Hunter. »Ich habe auch gesagt, sie sehen vage nach einem Menschen aus. Ich weiß nur, dass es kein Tiger ist. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Mensch ist, denn kein Mensch macht so große Schritte. Im Moment glaube ich, dass es etwas ist, was ich noch nie gesehen habe. Vielleicht etwas, das keiner von uns je gesehen hat.«
Tipler hob den Abdruck hoch und studierte ihn, bevor er Maddox ansah. »Colonel, hätten Sie irgendwelche Einwände, wenn ich diesen Abdruck ans Institut schicke, wo wir ihn eingehender studieren können? Es ist eine exzellente Rekonstruktion des Trittsiegels, und meine Leute könnten vielleicht noch Details feststellen, die wir bei einer einfachen visuellen Untersuchung übersehen haben.«
»Natürlich nicht, Professor.«
Der Colonel schien zunehmend frustriert über das Rätselraten. Er vertrat sich einen Moment die Beine. Sein Tonfall verriet, dass er zu einer Entscheidung gekommen war. »Okay, Gentlemen, das Special Response Team sollte im Morgengrauen ankommen. Aber da Sie mir gesagt haben, wie wichtig der Zeitfaktor ist, werde ich die Befehle dahingehend ändern, dass sie sich mit Ihnen bei der ersten Basis treffen, die zerstört wurde. Von dort werden wir Sie zur zweiten und dritten Station fliegen, damit Sie seine Gewohnheiten studieren können. Und ab dann, Mr. Hunter, wird es in Ihrer Verantwortung liegen, es aufzuspüren.«
Hunter schüttelte den Kopf. »Setzen Sie uns einfach an der dritten Basis ab. Die Spuren bei den ersten beiden Stationen werden nutzlos sein. Wann wurde die letzte Station angegriffen?«
»Vor 24 Stunden.«
»Überlebende?«
»Keine.«
Die Antwort war kurz und knapp.
Tipler runzelte die Stirn und sah düster drein.
»Colonel«, sagte er. »Sie müssen doch Ihre Security an den Außenposten verstärkt haben. Mehr Männer, mehr Waffen, mehr Abwehrmaßnahmen. Wieso ist dieses Ding immer noch am Leben?«
»Es scheint …« Maddox sah nach unten, als er sachte eines der Fotos von rotem Fleisch auf weißem Schnee berührte, »Dinge zu … verstehen.«
Tipler wartete. »Dinge?«
»Ja, es scheint unsere, äh, Taktik zu verstehen.« Der Colonel sah nicht auf, als er fortfuhr. »Es weiß anscheinend, wie man die Security-Vorkehrungen überwindet, so wie das Timing der Patrouillen, die Sicherung der Flanken. Offenbar inspiziert es eine Umgebung, bevor es angreift. Und es scheint die Lauschposten zuerst zu töten, vor allen anderen. Es schleicht nicht daran vorbei, es tötet sie. Erst dann bewegt es sich auf das Gelände.«
Es schwirrten so viele Fragen durch Hunters Kopf, dass er nicht einmal die erste davon stellen wollte. Offensichtlich war es das Werk von etwas, das er noch nie gesehen hatte. Und wenn er es noch nie gesehen hatte, konnte er davon ausgehen, dass auch niemand anderes es schon einmal zu Gesicht bekommen hatte.
Er wusste, er fand nur dann Antworten, wenn er vor Ort war. Nur, indem er lernte, wie dieses Ding zu denken, war er in der Lage, es zu verfolgen. Er starrte den Colonel an und rätselte, ob er etwas Entscheidendes hinter der militärischen Fassade verbarg.
Hunter stand auf und wandte sich an Tipler. »Versuchen Sie sich heute Nacht gut auszuruhen, Professor«, sagte er. »Morgen wird ein harter Tag.«
»Ah, mein Junge, ganz sicher.« Tipler stand ebenfalls auf. »Danke, Colonel. Wann brechen wir auf?«
»Um fünf Uhr.« Maddox nickte knapp. »Wir sind um sechs Uhr vor Ort.«
»Sehr gut. Ich werde mich jetzt zurückziehen, um mich vorzubereiten.«
»Alles, was Sie brauchen, ist in Ihrem Quartier, Professor.«
»Danke.« Tipler winkte. »Gute Nacht.«
Mit Ghost neben sich begleitete Hunter den Professor zu seinem Zimmer. Dann schlüpfte er lautlos in die Nacht hinaus und durchsuchte, verborgen in den Schatten, einen Berg alten Baumaterials. Es dauerte eine Weile, bis er gefunden hatte, was er brauchte: einen langen, biegsamen Titandraht, dünn wie ein Schnürsenkel, und ein Stück Stahl von der Größe eines starken Dübels. Der Stahl passte perfekt in die Hand, angenehm und kühl.
Dann kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück und traf während der langen Nacht seine Vorbereitungen. Er arbeitete bis zum Sonnenaufgang. Als er fertig war, verstaute er mit einem grimmigen Gesicht sorgfältig die improvisierte Waffe in seinem breiten Ledergürtel.
Er dachte, wenn die Sache so lief, wie er befürchtete, würde ihm das vielleicht eine letzte, verzweifelte Chance geben.
Kapitel 4
Der Blackhawk kam donnernd aus tiefhängenden, schwarzen Wolken geschossen und senkte sich über einer Lichtung verkohlter Bäume. Vierundzwanzig Stunden nach dem Massaker war der Schnee immer noch