»O Du seltner Ben Jonson!« seufzte Margaret leise lachend am Tisch.
»Gott segne ihn!« platzte Sheba heraus, mit hochrotem Gesicht. »Er war so englisch wie Roastbeef und Ale. Und weißt Du auch, Eugen«, fuhr sie fort, »daß der größte Tribut, der dem Genius Shakespeares gezollt wurde, aus seiner Feder stammt? Und trotzdem behaupten die gemeinen Wichte, daß er auf Shakespeare eifersüchtig war!«
»I wo, da ist kein wahres Wort dran!« erklärte Margaret ungeduldig. »Das stimmt ganz sicher nicht, sage ich Dir.«
Sie sagte es ihm. Shakespeare war der Schwan. Und sie sagte ihm Dinge von der tiefen Menschenkenntnis des Schwans, von seiner allumfassenden and wohlgerundeten Charaktergestaltung, von seinem enormen Humor.
»Focht eine lange Stunde nach der Shrewsbury Uhr bemessen …« Sie lachte. »Der fette Racker! Stell Dir vor, daß ein Mann dann auf die Zeit achtgibt!«
Und vorsichtig und ermahnend fuhr sie fort:
»Du mußt das verstehen, Eugen, damals waren die Sitten anders. Wenn man Shakespeares Werke mit den Werken seiner Zeitgenossen vergleicht, dann sieht man, wie viel, viel reiner er dachte und empfand als die andern.«
Aber hie und da umging sie eine Vokabel, ließ sie eine Zeile untern Tisch fallen. Der etwas befleckte Schwan … nun ja, ein bißchen von den Sitten seiner Zeit angedreckt. Mit der Bibel ist es ja auch so … Die schwelenden Kerzenstümpfchen der Zeit. Parnassus vom Berg Sinai aus gesehen, ein Vortrag mit Lichtbildern von Professor McTavish D. D. vom Presbyterian College.
»Und noch etwas, Eugen«, sagte sie. »Shakespeare hat stets das Laster verdammt, er hat es nie anziehend dargestellt.«
»Wieso denn?« fragte er. »Da ist doch die Figur des Falstaff.«
»Ja«, antwortete sie. »Du weißt doch, wie es ihm ergeht, nicht wahr?«
»Wieso?« sagte er zaudernd. »Er stirbt!«
»Na also! Da hast Du es ja!« triumphierte sie. Warnend.
Ich seh das nicht ein, dachte er. Wieso denn? Der Tod der Sünde Sold? Was ist dann der Sold der Tugend? Die Guten sterben jung.
»Und noch was«, sagte sie. »Keine von Shakespeares Gestalten steht still. Du siehst sie wachsen. Du verfolgst ihren Werdegang. Keiner seiner Helden ist am Ende der gleiche, der er am Anfang war.«
Am Anfang war das Wort, dachte er. Ich bin das Alpha und Omega. Der Werdegang des Lear. Er wurde alt und wahnsinnig. Ein schöner Werdegang.
Diese Blechmünzen der Literaturschulmeisterei hatte sie in ein paar Kursen auf der Universität aufgepickt. Sie gehörten – und gehören vielleicht noch – zum glattzüngigen Jargon der Pedanterie. Aber ihrem Verständnis taten sie keinen Schaden. Das waren halt die Dinge, die die Leute so sagten. Sie hatte, ein wenig schuldbewußt, das Gefühl, daß sie ihren Unterricht mit diesem billigen Staat aufdonnern müsse; sie fürchtete, daß das, was sie zu bieten hatte, nicht genug sei. Was sie zu bieten hatte, war ein Gefühl für Dichtung, so unfehlbar, so grundrichtig, daß sie keinen schlechten Vers gut, keinen guten schlecht finden konnte. Sie war eine Stimme, nach der Gott sucht. Sie war die Schalmei der Ekstase und der Dämonie. Sie war vom Dichtergeist besessen, sie wußte selbst nicht wie; aber wenn der Geist über sie kam, erkannte sie ihn. Die singenden Zungen aller Welt erwachten wieder im Ton ihrer Stimme. Sie war bewohnt, restlos hingegeben. Durch das verriegelte und verrammte Leben der Schüler ging sie wie ein schöner Geist. Sie schloß die Herzen auf, wie man Schranktüren aufschließt. Und die Jungen verehrten sie sehr.
Er kannte ein paar von Ben Jonsons Gedichten, darunter die Hymne an Diana »Jägerkön'gin, keusch und schön …«; das große Preislied auf Shakespeare, in dem ihn besonders die Stelle »Er war nicht für ein Alter, nein für alle Zeiten …« bewegte und ihm die Kehle schnürte; und die Elegie auf den Kinderschauspieler Salathiel Pavy: Honig aus eines Löwen Maul, dachte er, aber zu lang.
Von Herrick kannte er mehr. Seine Gedichte sangen sich von selbst. Er war – so urteilte er später – die vollkommenste, die nie versagende Stimme unter den englischen Lyrikern; eine reine, süße, fließende, kleine Note.
Here a little child I stand
Heaving up my either hand
Cold as paddocks though they be
Here I lift them up to Thee
For a benison to fall
On our meat and on us all. Amen.
Dieses Kindertischgebet hielt er für unübertrefflich an Präzision, Delikatesse und Ganzheit.
Die Namen der englischen Dichter aus jener Zeit klangen wie kleine, volle Vogellaute in einem besonnten Frühlingshain. Prophetisch brütete Eugen über den süßen, verlornen Tönen; er ahnte, daß Namen wie diese nicht wiederkommen werden: Herrick, Crashaw, Carew, Suckling, Campion, Lovalec, Dekker. O süßes Genügen, o süßes, süßes Genügen!
Er las ganze Stöße von Erzählern: alles von Thackeray, Poe und Hawthorne. Von Herman Melville las er »Omoo« und »Typee«, die er unter Gants Büchern fand. Von »Moby Dick« hatte er nie reden hören. Er las ein halbes Dutzend Bände von Cooper, alles von Mark Twain; aber er brachte es nie fertig, Bücher von Howells oder James zu Ende zu lesen.
Er las ein Dutzend Bände Scott. »Quentin Durward« gefiel ihm am besten, weil die Schilderungen vom Essen darin so füllig und appetitanregend waren.
XXIV
Als Eugen dreizehn war, fuhr Eliza im Winter allein nach Florida. Sie gab ihn den Leonards in Pension.
Helene reiste in den Städten des Ostens und der Mittelweststaaten. Beängstigung und Verdruß nahmen zu. Sie sang ein paar Wochen lang in einem kleinen Kabarett in Baltimore. Dann ging sie nach Philadelphia. Am Musikverkaufsstand eines Einheitspreisladens saß sie vor einem abgespielten Klavier und trommelte volkstümliche Melodien, die Zunge zwischen den Zähnen, wenn sie einen neuen Schlager vom Blatt zu spielen versuchte.
Gant schrieb ihr zweimal die Woche, ein trübseliges, ausführliches Logbuch seiner Existenz. Manchmal schickte er ihr kleine Schecks, die sie nie einlöste, sondern aufsparte.
– »Deine Mütter«, schrieb er »hat mich wieder mal im Stich gelassen. Sie ist nach Florida gefahren, und da sitze ich allein und blas Trübsal nach Noten und friere und leide Hunger. Gott weiß, wie das alles noch werden soll in diesem furchtbaren, höllischen, fluchwürdigen Winter. Ich prophezeie Armenhäuser und Volksküchen, wie wir sie in Präsident Clevelands Zeit gehabt haben. Wenn die Demokraten an die Regierung kommen, dann kannst Du einstweilen anfangen, Deine Rippen zu zählen. Kein Geld auf den Banken, überall Arbeitslosigkeit. Du kannst Dich drauf verlassen, was der Steuereinnehmer nicht kriegt, wird unter den Hammer kommen, eh die Sache noch rum ist. Heut morgen war es 7 Grad kalt auf dem Thermometer, und dabei ist die Kohle 25 Cent die Tonne aufgeschlagen. Das nennt man den sonnigen Süden. Gestern ging ich an Wagners Kohlenhandlung vorbei, da stand der Alte am Fenster und grinste mit seiner unverschämten Teufelsfresse und weidete sich in Gedanken an der Qual der Witwen und Waisen. Ihm ists gleich, ob sie erfrieren oder nicht. Bob Grady wurde vorgestern vom Schlag gerührt, als er aus der Citizens Bank herauskam. War sofort tot. Ich habe ihn seit 25 Jahren gekannt; er war keinen Tag in seinem Leben krank. Alle, alle gehen sie dahin, die alten, vertrauten Gestalten, und der alte Gant wird als nächster dran glauben müssen. Seit Deine Mutter weg ist, esse ich mittags bei Mistress Sales. Du hast in Deinem Leben keinen so reichgedeckten Tisch gesehen, frisches Obst in ganzen Pyramiden, dazu Backpflaumen, Pfirsiche und Eingekochtes, dann Schweine-, Rinds- oder Kalbsbraten, kalte Platten mit Schinken und Räucherzunge und dazu ein halbes Dutzend Gemüse, und alles in einer Menge, daß es jeglicher Beschreibung spottet. Wie sie das für 35 Cent leisten kann, ist mir unverständlich. Eugen ist bei den Leonards in Pension, seit Deine Mutter weg ist. Ein- oder zweimal die Woche nehme ich ihn mit zu Mistress Sales, damit er sich mal satt ißt. Dort ziehen sie lange Gesichter, wenn er auf seinen