Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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Lippen ließ.

      Er war ein Kerl.

      Der Frühling trieb ihm einen Dorn ins Herz; er riß einen wilden Schrei von seinen Lippen; er hatte keine Worte für ihn.

      Er kannte Hunger; er kannte Durst; eine große Flamme war in ihm. Er kühlte sein brennendes Gesicht nachts an sprudelnden Wasserhähnen. Wenn er allein war, weinte er manchmal vor Pein und Ekstase. Zu Haus war er nicht mehr scheu und still wie als Kind, sondern zurückhaltend wie ein Wilder, nervös-gespannt wie ein Rennpferd. Reizbar; sein Zorn zischte hoch wie eine Rakete, unter wahnsinnigen Flüchen.

      »Was er nur hat? Bricht die Pentland-Verrücktheit in ihm durch?« fragte Helene in Elizas Küche.

      Eliza schürzte gewichtig die Lippe, schüttelte langsam den Kopf, lächelte lebenserfahren. »Wieso Kind«, sagte sie, »weißt Du denn nicht, was mit ihm los ist?«

      Sich im Negerviertel herumzutreiben, wurde ihm zum Bedürfnis. Nachmittags nach der Schule streifte er durch den aufgeregten Ameisenhaufen von Niggertown: Der ranzige Geruch der Schwarzen, der Gestank von Abfall und Kot, der Geruch von Holzfeuer und kochender Wäsche, von in Schmalz gebacknem Fisch; – die vorüberhuschenden Gestalten, die vielen kleinen Dschungellaute in der Dämmerung, die langgezogne Sprechweise und die saftigen Redensarten, trauriges Banjogeklimper von fern und das Gestapf vom Trampeltanz, und Stimmen, warme Stimmen, Stimmen vom Nil und vom Kongo, über den Fluß hinklagend, und das fettige Funzellicht in viertausend Hütten und Mietshäusern. –

      Aus der Calvary Baptist Church auf dem Hügel, dem Mittelpunkt, um den sich das Negerviertel gruppierte, drang von abends um sieben bis nachts um zwei ununterbrochen Gestöhn und Jammern, das frenetische, schweratmige Geschrei und Gestammel der religiös Verzückten und der Beter: eine wilde Dschungelklage von Sünde, Liebe und Tod, ein dunkles Geschwärm aus Fleischeslust und Geheimnis. Und sonst war überall Lachen, üppiges Kehllautlachen. Katzenhaft huschten die Gestalten. Alles war nah, alles war fern, nichts greifbar.

      In der finster-beschwörenden Magie dieser Umwelt, von der geschöpflichen Jugend dieser uralten Rasse erschreckt, begann Eugen, die grauenhafte Unschuld des Bösen zu spüren. Zähnebleckend, mit lodernden Augen, die Arme lose schwingend, schlich er durch die Dunkelheit. Ihn überkam eine unerklärliche Scham, ein unerklärliches Entsetzen. Er wagte es nicht, die Sache klar ins Auge zu fassen.

      Ein großer Teil seiner Abonnenten bestand aus anständigen, fleißigen Dunkelhäutern: Barbieren, Schneidern, Krämern, Drogisten und ehrsamen schwarzen Hausfrauen in bunten Kattunkleidern. Sie bezahlten regelmäßig am ausgemachten Wochentag. Die weißen Zähne blitzten, wenn sie ihn gutmütig lächelnd grüßten; freundschaftlichst verliehen sie ihm extravagante Ehrentitel, nannten ihn »Mister«, »Colonel«, »General«, »Gouverneur« und so weiter. Alle kannten sie Gant.

      Aber die andern – jene, die ihn mehr interessierten, über die er sich wunderte – das waren »Flözer«; das will sagen: junge Männer und Frauen ohne bestimmten Erwerb und Beruf, die ein abwechslungsreiches Leben führten, bald da, bald dort wohnten, sich nachts verstohlen herumtrieben. Oft fahndete er wochenlang nach solchen schattenhaften Existenzen, bis er herausfand, daß er sie nur sonntags morgens antreffen könne: da lagen sie und schnarchten in einer dunklen, gestankerfüllten Stube in irgendeinem Mietshaus … sie lagen am Boden aufeinander wie schwere Säcke, ein halbes Dutzend junger Männer und Weiber, steif vom Whiskyrausch, erschöpft vom Geschlechtsgenuß.

      Eines Samstags kam er im verdämmernden Abendrot zu einem dieser Mietshäuser am Rande des Negerviertels. Es war eine wacklige, dreistöckige Holzbaracke, so an den Steilhang gebaut, daß die beiden unteren Stockwerke unmittelbar an den Berg lehnten. Vierundzwanzig Leute wohnten dort. Eugen war auf der Suche nach einer Frau namens Ella Corpening. Es war ihm nie geglückt, sie anzutreffen. Sie war mehrere Wochen mit der Zahlung im Rückstand. An diesem Abend stand ihre Tür offen. Warme Luft und Küchendünste strömten ihn an, als er die morsche Holztreppe den Hang hinunterstieg.

      Ella Corpening saß in der Tür in einem Schaukelstuhl, und der Widerschein des Feuers im Küchenherd lag auf ihr. Sie saß, die mächtigen Beine behaglich ausgestreckt, und summte faul vor sich hin. Sie war Mulattin, sechsundzwanzig Jahre alt, schön, von amazonischem Gliederbau, mit einer lohfarbnen Sammethaut.

      Sie trug Kleider, die ihr vermutlich von einer Mistress, bei der sie gedient hatte, geschenkt waren: einen braunen Wollrock, Lackstiefel mit Wildledereinsätzen, graue Seidenstrümpfe. Ihre langen, vollen Arme schienen dunkel durch das dünne Gewebe einer frischgewaschnen und gebügelten weißen Linnenbluse. Über den schweren Brüsten war die Untertaille mit einer billigen, hellblauen Seidenschleife zusammengebunden.

      Auf dem Herd brodelte ein Topf: Kohl und Schweinespeck.

      »Zeitungsträger«, sagte Eugen. »Komme ums Geld.«

      »So?« sagte Ella Corpening gedehnt. »Wieviel sein ich schuldig?«

      »Ein Dollar zwanzig Cent«, antwortete er und warf einen bezeichnenden Blick auf ihr Knie, wo eine gefaltete Banknote durch den Strumpf leuchtete.

      »Das sein mein Mietgeld«, sagte sie. »Kann ich nicht geben, das.« Sie brütete vor sich hin. »Uh, uh!« blökte sie liebenswürdig. »Dollah zwansig, so viel?«

      »Ganz bestimmt«, sagte er und schlug sein Kontrollbuch auf.

      »Muß sein«, pflichtete sie bei. »Stimmt, wenn das Buch so sagt.«

      Sie dachte einen Augenblick nach.

      »Kann Sie Sonntagmorgen komm'?« fragte sie hoffnungsvoll. »Da ich hab was, ganz sicher dann. Ich wart' auf weißen Gentelman, der gibt mir Dollah.«

      Sie reckte ihre mächtigen Glieder und lächelte ihn an. Das Blut schoß ihm in den Kopf, der Puls in seinen Schläfen pochte. Er schluckte trocken. Seine Beine zitterten vor Erregung.

      »Wof … wofür gibt er den Dollar?« murmelte er fast unhörbar.

      »Jelly Roll«, sagte Ella Corpening.

      Er bewegte die Lippen, wollte etwas sagen, brachte kein Wort hervor. Sie stand auf.

      »Möcht' Sie was?« fragte sie leis. »Jelly Roll?«

      »Sehen möchte ich, sehen!« brachte er atemlos hervor.

      Sie machte die Tür nach dem Berghang zu und drehte den Schlüssel im Schloß. Der Widerschein des Herdfeuers glomm, ein Funkenregen fiel durch den Rost in den offnen Aschenkasten.

      Ella Corpening öffnete die Tür in das Hinterzimmer. Dort standen zwei schmutzige, verschlafne Betten. Das einzige Fenster im Raum war verriegelt, die verschossenen, grünen Blenden heruntergelassen. Sie steckte eine kleine Lampe an und schraubte den Docht herunter. Auf dem Sims über dem Kamin standen eine nackte Zelluloidpuppe, eine rosa Schleife um die Hüften gebunden, eine gerillte Vase mit goldbronzierten Kunstblumen, vermutlich auf einer Tombola gewonnen, und eine Papierrolle mit Stecknadeln. Neben dem Fenster stand eine schadhafte Kommode, ein fleckiger Spiegel hing darüber. An der Wand hing ein Abreißkalender, gestiftet von der »Altamont Coal & Ice Company«, mit dem Bild eines Indianermädchens, das im Kanu eine mondbeglänzte Wasserstraße im Wald entlang paddelt. Und ein religiöses Spruchbild, walnußgerahmt, mit dem Schnörkelmotto: »Gott liebt sie Beide.«

      »Was möchtest Du?« flüsterte sie ihm ins Gesicht.

      Aus weiter Ferne hörte er das Gespenst seiner eignen Stimme: »Zieh Dich aus!«

      Ihr Rock fiel. Sie zog die Bluse aus. In einem Augenblick stand sie bis auf die Strümpfe nackt vor ihm.

      Ihr Atem ging schnell; sie leckte sich mit der dicken Zunge den Mund.

      »Tanz!« schrie er. »Tanz!«

      Sie begann leise zu stöhnen, ihr gelber Leib fing an zu beben und zu wogen, die Hüften und die schweren, runden Brüste schaukelten in rhythmischen Drehungen und Wendungen.

      Ihr glattes, geöltes Haar löste sich und fiel in den Nacken zurück. Sie reckte die Arme aus. Die Lider schlössen sich über den großen, gelben Augäpfeln. Sie kam dicht an ihn heran. Er spürte ihren heißen Atem im Gesicht, das Wogen ihrer glatten Brüste. Wie ein Span wurde er um- und umgewirbelt von dem wilden Sturm ihrer Leidenschaft; wie Fesseln