Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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keine Zeitungen lesen?«

      »Na, das wußte ich ja gar nicht, mein Sohn«, sagte Coker trocken und paffte langsam an seiner Zigarre. »Ich lese nur eine Zeitung, ein Morgenblatt. Vermutlich war die Nachricht noch nicht eingelaufen.« Er grinste spöttisch. »Also, was hast Du vor, Ben?«

      »Ich möchte nach Kanada fahren und ins Heer eintreten«, erklärte Ben. »Und Sie sollen mir sagen, ob ich zum Kriegsdienst tauglich bin.«

      Coker schwieg. Er pflückte die lange, angekaute Zigarre aus den Zähnen und starrte sie nachdenklich an.

      »Warum möchtest Du das eigentlich, Ben?« fragte er.

      Ben sprang nervös auf und ging zum Fenster. Er warf seine Zigarette in den Hof hinunter; plopp! fiel sie auf den Zementboden auf. Als er sich wieder umwandte, war sein hagres Gesicht weiß vor Leidenschaft.

      »Wozu leben wir eigentlich, Coker?« fragte er. »Können Sie mir das sagen? Wozu in Gottes Namen laufen wir hier herum? Sie sind Doktor, Sie müßten etwas drüber wissen.«

      Coker starrte seine Zigarre an. Sie war wieder ausgegangen.

      »Warum sollte ich etwas darüber wissen?« wandte er bedächtig ein.

      »Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Wozu sind wir da? Worum dreht sich der ganze Höllenbetrieb?« rief Ben zornig. Er war heftig geworden. Er sah den Älteren mit bitter anklagendem Blick an. »Um Gottes willen, Coker, reden Sie doch! Sitzen Sie doch nicht da wie so 'ne verdammte Schaufensterpuppe im Schneiderladen! Sagen Sie was, bitte!«

      »Ja, was soll ich da sagen?« erwiderte Coker. »Wer bin ich denn? Ein Gedankenleser? Ein Spiritist? Ich bin Dein Arzt, nicht Dein Priester. Ich sehe, wie Menschen geboren werden und wie sie sterben. Was vorher oder nachher ist, davon weiß ich nichts.«

      »Verdammt noch mal«, sagte Ben. »Aber was geschieht zwischen Geburt und Tod?«

      »Darüber weißt Du genau so viel wie ich, Ben«, erklärte Coker. »Was Du brauchst, ist nicht ein Arzt. Du suchst einen Propheten.«

      »Die Leute kommen doch hierher, wenn ihnen was fehlt. Und wollen alle gesund werden. Nicht wahr?« sagte Ben. »Und Sie, Coker, tun Ihr Bestes, um ihnen zu helfen.«

      »Nein«, gestand Coker. »Nicht immer. Zugegeben, daß es von mir angenommen wird. Aber was soll das, Ben?«

      »Also müssen Sie und die Patienten doch denken, daß es sich um was dreht«, erklärte Ben. »Sonst würden Sie sich doch nicht bemühen.«

      »Der Mensch will leben, Ben, nicht wahr?« sagte Coker.

      »Ja warum aber, Coker, warum? Das frage ich Sie.«

      »Warum?« sagte Coker. »Um neun Stunden täglich in einem Zeitungsbüro zu arbeiten, neun weitere Stunden zu schlafen, und die übrigen sechs zu genießen; indem er sich wäscht, rasiert, anzieht, im ›Fettlöffel‹ ißt, in der großen Drogerie herumhockt und gelegentlich die lustige Witwe ausführt, um ihr den Herrn Franz Xaver Buschmann zu zeigen. Ist das nicht Grund genug zum Leben für jedermann? Und wenn ein Erdenbürger dann schwer schuftet und sich wacker hält und sein Geld im Bausparverein anlegt, anstatt es für Zigaretten, Coca-Cola und bessere Konfektionsanzüge hinauszuschmeißen, dann kann er es sogar zu einem hübschen Einfamilienhaus bringen.« Cokers Stimme wurde leis. »Ja, Ben, er kann es sogar zu einem eignen Auto bringen, stell Dir das vor! Er kann sich ans Steuer setzen und fahren und fahren und fahren. Er kann in diesem ganzen verdammten Gebirg herumfahren. Er kann sehr glücklich werden. Er kann in der Gymnastikhalle des Christlichen Vereins Junger Männer regelmäßig Leibesübungen machen und nur reine Gedanken denken. Er kann eine gute, sittenreine Frau heiraten und mit ihr Kinder zeugen, eine ganze Serie Buben und Mädchen. Und die kann er dann im Baptisten-, Methodisten- oder im Presbyterianerglauben erziehen, kann sie auf die Staatsuniversität schicken, um Kurse über Nationalökonomie, Handelsrecht und die schönen Künste zu hören. Das ist doch genug Grund zum Leben, Ben! Genug, um einen jede Sekunde zu beschäftigen.«

      »Sie sind sehr witzig, Coker«, sagte Ben. »Komisch wie 'ne Krücke.« Er nahm die Hängeschultern zurück, selbstbewußt, und atmete tief ein.

      »Also wie steht's mit mir?« fragte er, die Lunge voll Luft. »Bin ich tauglich oder nicht?«

      »Sehen wir nach«, sagte Coker bedächtig und musterte ihn. »Zehen einwärts gestellt … aber ein guter Rist.« Er sah Bens gelbe Lederschuhe genau an.

      »Was soll das, Coker?« fragte Ben. »Braucht man seine Fußzehen, um ein Gewehr abzuschießen?«

      »Wie steht's mit den Zähnen, mein Sohn?«

      Ben zog die dünnen Lippen zurück und zeigte zwei Reihen harter, weißer Schneidezähne. In diesem Augenblick, ganz beiläufig, stieß ihn Coker mit dem Finger gegen das Sonnengeflecht in der Magengrube. Bens geschwellte Brust fiel zusammen, er fiel ein wenig vornüber, lachte, hustete trocken. Coker ging zum Schreibtisch und nahm seine Zigarre.

      »Was ist los, Coker? Was soll das heißen?« fragte Ben.

      »Das wäre alles, mein Sohn. Ich bin fertig mit der Untersuchung«, erklärte Coker.

      »Und wie steht's?« fragte Ben aufgeregt.

      »Ja, was denn, was?«

      »Ob ich in Ordnung bin?«

      »Gewiß bist Du in Ordnung«, sagte Coker. Er wandte sich zu ihm, das brennende Streichholz an der Zigarre. »Wer sagt denn, daß Du nicht in Ordnung bist?«

      Ben starrte ihn stirnrunzelnd an, die Augen hell vor Angst.

      »Spaß beiseite, Coker«, sagte er. »Kann ich fahren?«

      »Wozu die Hast?« sagte Coker. »Der Krieg ist noch lange nicht aus. Über kurz oder lang kann es sein, daß auch wir mitmachen. Warum also nicht ein bißchen warten?«

      »Das soll heißen, daß ich nicht tauglich bin«, erklärte Ben. »Was stimmt denn nicht, wo fehlt es denn bei mir? Bitte, sagen Sie's mir, Coker, bitte!«

      »Nichts«, sagte Coker vorsichtig. »Du wiegst nicht genug. Und Du bist überarbeitet, Ben. Nicht wahr? Du brauchst ein bißchen Fleisch an die Knochen, mein Sohn. Du kannst nicht im ›Fettlöffel‹ sitzen und Kaffee trinken und rauchen und erwarten, daß Dich das kräftigt.«

      »Bin ich tauglich oder nicht, Coker?«

      Cokers langer Totenkopf klaffte von einem breiten gelben Grinsen.

      »Ja«, sagte er. »Du bist tauglich, Ben. Du bist einer der tauglichsten Menschen, die mir im Leben vorgekommen sind.«

      Ben las die wahre Antwort in den müden, rotgeäderten Augen des Arztes. Seine eignen Augen waren krank vor Angst. Aber er sagte bissig:

      »Danke schön, Coker. Sie sind mir ein mächtiger Helfer. Sehr verbunden für die Auskunft. Sie sind als Arzt ein famoser Baseballspieler, sozusagen.«

      Coker feixte. Ben ging hinaus.

      Als er auf die Straße trat, traf er Harry Tugman, der zum Zeitungsbau hinunter ging.

      »Was ist los, Ben?« fragte Harry Tugman. »Bist du krank?«

      »Ja«, sagte Ben und sah ihn finster an. »Ich habe mir gerade 'ne Spritze 606 geben lassen.«

      Er ging die Straße hinauf, um Mistress Pert zu treffen.

      XXVI

      Im Herbst, als er fünfzehn war und das letzte Jahr in Leonards Schule ging, machte Eugen eine Reise nach Charleston. Er fand einen Ersatzträger für seine Zeitungsroute.

      »Hopp! Mach mit!« sagte Max Isaacs, den er gelegentlich noch traf. »Junge, das wird 'ne vergnügte Spritztour!«

      »Und ob!« sagte Malwin Bowden, von dessen Mutter der Gedanke zu diesem Ausflug stammte. »In Charleston gibt's noch Bier«, setzte er mit einem genüßlichen Seitenblick hinzu.

      »Wir können bei der Palmeninsel im Meer schwimmen«, sagte Max Isaacs. »Und wir können die Schiffe in der Marinestation besichtigen«, bemerkte er ehrfurchtsvoll.

      Max wartete nur auf den Tag, an dem er alt genug wäre, um in die Kriegsmarine