Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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keuchte er.

      Sie ließ ihn los, ohne die Augen zu öffnen, stöhnend. Sie glitt von ihm zurück, als wäre er ein junger Baum. Sie sang in einem wehklagenden Moll, unendliche Male sich wiederholend: »Jelly Roll! Je-l-ly Roll!« Jedesmal sank ihre Stimme zu einem leisen Stöhnen.

      Der Schweiß lief ihr übers Gesicht, über die Kehle, den hochbrüstigen Rumpf. Er tappte blind nach der Tür, rannte durchs Vorderzimmer und fand atemlos seinen Weg an die Luft. Ihr Gesang, ununterbrochen, folgte ihm, als er die morsche Holztreppe hinaufstürzte. Er rannte, er schöpfte erst wieder tief Atem, als er den Marktplatz erreichte. Dann blickte er zurück. Drunten im Tal, drüben auf dem Hügel sah er im Zwielicht flackernd die blakenden Funzeln der Niggertown. Mattes Lachen, üppig-wollüstiger dschungel-wilder Kehllaut, sprudelte aus dem schwärmenden Dunkel. Er hörte verwehendes Saitengeklimper, stampfende Füße von fernher, ganz entfernt vom Wehklagen der Sünder in der Kirche übertönt.

      XXIII

      Ένεύδευ έξελαύνει όταδυόυς τρείς παρασάγγας

      πεντεχαίδεχα έπί τόν Έυφράτην ποταμόν

      Er sagte den Leonards nicht, daß er in der Tagesfrühe Zeitungen austrug. Sie würden heftigen Einspruch erheben, das wußte er, und dieser Einspruch würde sich in schlechteren Noten manifestieren, das wußte er auch. Und Margaret würde vielsagend von untergrabner Gesundheit und von zerstörten Zukunftsaussichten sprechen, würde ihm klarmachen, daß er den verlornen Segen des süßen Morgenschlafs nie wieder einbringen könne. Tatsächlich war er nun robuster als je; aber das Bedürfnis nach Schlaf nagte an ihm. Mittags wurde er schwer, im Lauf des Nachmittags lebte er dann wieder auf, und nach acht Uhr abends war er vor lauter Schlaftrunkenheit außerstand, seine Gedanken vor einem Buch zu sammeln.

      Er war und blieb ziemlich undiszipliniert. Unter der Obhut der Leonards kam es so weit, daß er mit romantischer Geringschätzung auf alle Disziplin herabsah. Margaret hatte die wunderbare Einsicht großer Menschen in das Wesentliche. Sie sah stets die dominierenden Farben, aber sie erkannte nicht immer die Schattierungen. Sie war eine inspirierte Sentimentalistin. Sie war überzeugt, sie »verstünde sich auf Jungen«, stolz auf ihre Kenntnis des Knabenherzens. Tatsächlich jedoch wußte sie wenig. Die wilden Verwirrungen der Werdejahre, die geschlechtlichen Alpträume der Pubertät, der Kummer, die Angst und die Scham, mit der Knaben über der dunklen Welt ihrer Sehnsucht brüten, … das alles hätte sie tief entsetzt. Sie hatte keine Ahnung davon, daß jeder Junge sich selber wie ein eingesperrtes Ungeheuer vorkommt.

      Wissend war sie nicht, aber sie war weise. Sie erkannte unmittelbar die entscheidenden Eigenschaften eines Menschen. Knaben waren ihre Helden, ihre kleinen Götter. Sie glaubte bestimmt, daß einer von ihnen die Welt erlösen würde. Sie sah die Flamme, die in jedem brannte, und sie hütete diese Flamme. Sie versuchte irgendwie, an das dunkle Tappen und Tasten nach Licht und Form, an das stumpfe, verstockte, schamgefesselte Wesen zu rühren. Sie sprach ein beruhigendes Wort zu dem aufgeregten Rennpferd, und es zitterte nicht mehr.

      So kam es, daß Eugen nichts eingestand, sich nicht aussprach. Er blieb im Druck des Kerkers, hinter den Gitterstangen aus Furcht und Scham. Aber er wandte sich stets zu Margaret; sie war sein Licht. Sie sah das unheilige Feuer, dessen Flammen auf seinen Mienen zuckten, sie ernannte den Hunger und die Qual – und sie fütterte den Hungernden – majestätisches Verbrechen! – mit Dichtung.

      Alles, was sie voreinander verschlossen, was ihnen die Zungen schnürte, war entbunden und schwang im. Symbol tönender Verse. Hier war Margaret ganz den guten Geistern überantwortet. Sie konnte eine große, verlorne, von den Flammen beleckte Seele ins Reich der Dichtung einlassen, sie hatte das Zeus; dazu. Der Wein der Traube hatte ihre Lippen nie berührt, der Wein der Dichtung aber war ihr ins Blut gemischt.

      Eugen kannte die gesamte höhere Lyrik der englischen Sprache bereits, als er noch nicht fünfzehn war. Er besaß diese Gedichte in ihrem lebendigen Kern, kannte nicht eine Handvoll schöner Verse, sondern das Ganze, Zeile für Zeile. Er litt einen trunknen, unersättlichen Durst. Er vergrößerte seinen Schatz noch um ganze Szenen aus Schillers Teil, den er für sich auf Deutsch las, um einige Gedichte Heines und mehrere Volkslieder. Er lernte die ganze Stelle aus der Anabasis auswendig, das anschwellende, aufsteigende, triumphale Griechisch, das den Augenblick berichtet, in dem die darbenden Übriggebliebnen des Heers der Zehntausend schließlich ans Meer kommen und, es beim Namen nennend, den großen Schrei ausstoßen. Außerdem lernte er, um des Klanges willen, ein paar von Ciceros sonoren Dummheiten und ein paar Stellen, zäh und bündig, aus dem Cäsar.

      Die süßen Lieder von Robert Burns kannte er aus Vertonungen oder von Gants Rezitationen. Aber den »Tarn O'Shanter« hörte er zum erstenmal von Margaret; ihre Augen lachten leuchtend, als sie las:

      »In der Höll' wirst Du wie ein Hering gebraten.«

      Die kleinen Wordsworth-Gedichte hatte er schon auf der Volksschule gelesen; »Mein Herz schwingt auf …«, »Ich wandert' einsam wie die Wolk' …« und »Sieh an, sie steht im Feld allein …« kannte er seit Jahren. Nun las ihm Margaret die Sonette. Sie ließ ihn »Die Welt gilt viel zu viel vor uns« auswendig lernen. Ihre Stimme bebte und wurde leis vor Leidenschaft, als sie es las.

      Er kannte alle die Lieder aus Shakespeares Schauspielen. Die beiden, die ihn am meisten bewegten, waren: »O Herrin mein, wo fährst Du um …« aus »Was Ihr wollt« »und das große Lied aus »CymbeIin«: »Bang nicht mehr vor der Sonne Glühn …«. Er hatte sich an die Sonette gewagt, den Versuch aber aufgegeben, weil sie in ihrer sprachlichen Dichte zu schwer für ihn waren. Er hatte ungefähr die Hälfte gelesen und ein paar davon, die ihn beim Lesen unmittelbar entzündet hatten, behalten.

      Er kannte: »Wenn in der Chronik der verwehten Jahre …«, »Mir, schöner Freund, kannst Du nie alt erscheinen …«, »Wenn zur Gesellschaft süßem, stillem Denken …«, »Soll ich Dich einem Sommertag vergleichen …« … und das größte von allen, auf das ihn Margaret aufmerksam machte: »Nimm jene Zeit des Jahres an mir wahr …«, das ihm bei der Stelle: »ein Kreuzgang, kahl, wo süße Vögel sangen …« so ergriff, daß er es kaum zu Ende lesen konnte. Außer »Timon«, »Titus Andronikus«, »Perikles«, »Coriolan« und »King John« las er alle die Schauspiele, aber das einzige, was ihn von Anfang bis zu Ende fesselte, war »König Lear«. Mit den berühmten großen Passagen war er schon seit Jahren durch Gants Deklamationen vertraut; sie langweilten ihn nun. Und all das wortreiche Gewäsch der Narren, über das Margaret pflichtschuldigst lachte, und das sie für Beispiele von Shakespeares schwingendem Witz hielt, erschien ihm ziemlich öd. Er hatte nie das geringste Zutrauen zu Shakespeares Humor. Die dumpfe, langatmige Art dieser Witzbolde erinnerte ihn zu sehr an die Späße der Pentlands. Nur der Narr in Lear – ihn bewunderte er, diesen tragischen, traurigen, mysteriösen Narren. Die andern Narren parodierte er und bildete sich dabei ein, daß die Nachwelt sich über diese Mätzchen krank lachen würde.

      Die vielbewunderten Schönheiten müdeten ihn vielleicht, weil man ihn zu oft mit der Nase daraufgestoßen hatte. Außerdem war er der Meinung, daß Shakespeare, anstatt schlicht zu reden, sich oft absurd und pompös ausdrücke, wie zum Beispiel in der Laertesstelle, in der der Bruder von der Königin erfährt, daß Ophelia ertrunken ist: »Zuviel des Wassers hast Du, arme Ophelia / darum gebiet ich meinen Tränen Halt …« Kann man's ärger treiben? dachte er. Mein Gott, ich wünscht, er hätte hundert oder meinthalb tausend Tränen drangehängt!

      Aber in andere Stellen, die die Rhetoriker gewöhnlich übersehen, vertiefte er sich sehr, so zum Beispiel in die furchtbare epische Anrufung Edmunds im »König Lear«, die mit dem Vers: »Du Erdkraft bist mir Göttin …« beginnt und mit der Zeile: »Nun, Götter, stehet ein für die Bastarde!« endet.

      Ja; das war finster wie Nacht, verworfen wie die Niggertown, groß wie der elementare Wind, der von den Bergen heulte! Eugen sang es in den Nachtstunden auf seiner Route gegen den Wind und das Dunkel. Das verstand er, das Böse darin begeisterte ihn. Es war das Erdböse, die Bosheit der unbezähmten Natur. Es war ein Schrei, an die gerichtet, die nicht klassifizierbar sind, die jenseits des Zauns leben, ein Ruf an die Engel des Aufruhrs und an alle Menschen, die zu groß für das gemeine Maß sind.

      Von