Er hatte wenig Selbstvertrauen. Er schrak im voraus vor der Demütigung des Entlassenwerdens zurück; hatte Angst vor jedem Rüffel. Er war bang vor seinem eignen Stolz.
Die drei ersten Male begleitete ihn der Träger, der die Route abgab. Eugen mußte seine fünf Sinne zusammennehmen, um alle die stereotypen Handgriffe der Zustellung zu lernen, um sich den Weg durch das wirre, schmutzige Labyrinth des Negerviertels zu merken, um sich die Häuser, wo eine Zeitung zugestellt wurde, scharf einzuprägen und alle andern Häuser zu übersehen. Jahre später, als er die verzwirnte Anarchie dieses Arbeitsplanes vergessen hatte, fiel ihm noch, wenn er allein im Dunkeln war, plötzlich die Straßenecke ein, wo er seine Tasche abstellte, um einen Steilhang hinaufzusteigen, wo ein paar Häuser zu bestellen waren – fiel ihm die Schlucht mit den drei baufälligen Hütten ein, zu denen er hinunterklettern mußte – fiel ihm ein hochgebautes, hölzernes Mietshaus ein, auf dessen schmale Veranden er den wohlgezielten Zeitungsblock treffsicher schoß.
Der Junge, der die Route abgab, war ein robuster Bursch vom Land, siebzehn Jahre alt. Er hatte nun eine bessere Anstellung bei der Zeitung bekommen. Er hieß Jenninars Ware. Jennings Ware war ruppig-gutmütig, hatte einen groben Humor, war ziemlich abgebrüht, rauchte sehr viele Zigaretten. Seine ungebrochne Vitalität war anregend und tröstlich. Er lehrte seinen Schüler, wann und wo die Aufpasserfresse des lauernden »Foxie« zu erwarten sei, … daß man sich dem Erwischtwerden entzieht, indem man schnell unterm Bartisch verschwindet … wie man die Zeitung »zum Block« zusammenfaltet und den Block scharf und treffsicher zum Ziel schleudert.
Im frischen, noch ungebornen Morgen begannen sie. Sie stiegen den steilen Hügel der Valley Street hinunter in die Zone des tropischen Schlafs, vorbei an der dumpfen Starre schwarzer Schläfer, an all den unerlaubten Liebschaften, den zahllosen, zufälligen Ehebrüchen der Niggertown. Wenn der steife Zeitungsblock scharf auf die morschen Holzveranden ratschte oder auf die Türschwelle plumpste, dann kam von drinnen das dumpfe, unzufriedne Gestöhn der Gestörten. Die Jungen kicherten.
»Die Kundin da streichst Du von der Liste, wenn sie das nächstemal nicht blecht«, sagte Jennings Ware. »Sechs Wochen im Rückstand.«
»Diese Nummer da ist sichere Kasse«, sagte er und schnickte eine Zeitung lautlos auf die Fasermatte vor der Tür. »Sind gute Nigger. Jeden Mittwoch kriegst Du Dein Geld.«
»Da drin wohnt 'ne kesse Mulattin«, sagte er und schleuderte die Zeitung so, daß sie flach gegen die Tür klatschte. Ratsch! Er grinste, als drinnen eine empörte Frauenstimme aufgellte. »Wenn Du willst, kannst Du mir ihr …«
Ein leeres, verlegnes Lächeln kämpfte auf Eugens Lippen. Jennings Ware sah ihn mit Kennermiene an, drängte sich aber nicht mit Fragen auf. Jennings Ware war ein gutmütiger Kerl.
»Sie ist 'ne hübsche, gute, alte Nummer«, sagte er. »Du hast ein gutes Recht auf ein paar Totenköpfe. Ein kleines Tauschgeschäft, weißt Du …«
Sie gingen die dunkle; ungepflasterte Gasse hinunter und falteten zwischen den Zustellungen Zeitungen zum Block.
»Saumäßig, diese Route«, sagte Jennings Ware. »Bei Regenwetter kaum zu machen. Der Dreck geht Dir bis an die Knie. Und nur die Hälfte der Kunden zahlt pünktlich.«
Haßerfüllt schleuderte er einen Block.
»Aber Junge, Junge! Spaß beiseite«, sagte er nach einer Weile. »Wenn Du mal Jelly Roll willst, da bist Du hier recht.«
»Mit … mit Negerinnen«, flüsterte Eugen und leckte seine trocknen Lippen.
Jennings Ware mit dem roten Gesicht sah ihn satirisch an.
»Siehst Du vielleicht schöne Damen aus der guten Gesellschaft hier herumlaufen?« fragte er.
»Sind Negerinnen gut?« fragte Eugen trocken und kleinlaut.
»Junge!!!« Das Wort fuhr heraus wie ein Kanonenschuß. Dann schwieg Jennings Ware einen Augenblick.
»Was Besseres gibts nicht«, sagte er.
Der Leinwandgurt der Zeitungstasche schnitt ihm grausam ins Schulterfleisch. Er lockte wider das bittre Gewicht, das ihn zu Boden zog. Die ersten zwei Wochen lag es auf ihm wie ein Alp. Tag für Tag erkämpfte er sich die Freiheit. Er lernte die Mühsal der Beladnen kennen und erlebte jeden Morgen den Aufschwung derer, die von einer Bürde erlöst werden. Unterwegs, wenn die Last minder und minder wurde, hob sich die herabgezogne Schulter, die angestrengten Glieder wurden leicht, ihm war, als wüchsen ihm Flügel. Am Ende der Route, wenn die Tasche leer war, federte sein überspannter Körper hoch, tanzte wie ein Ball am Boden, segelte in der Luft.
Nach einem Monat hatte sich ein dicker harter Muskelwulst auf der Schulter gebildet; Eugen schickte sich nun freudig in die Arbeit. Die Angst zu versagen war überwunden. Sein Herz triumphierte. Er war ohne jede Vergünstigung in die Schar eingereiht worden, und nun übertraf er die andern. Er war der Herr der Dunkelheit; allein und einsam stand er seiner Arbeit vor; er war sich selbst genug. Rüstig und kühn schritt er zur Negersiedlung hinab. Er war der Zeitungsschütze, der Speerwerfer, der den dumpfen schwarzen Schläfern, den Schnarchenden, die Botschaft des Tages zuschleudert. Geschickt und schnell faltete er das Blatt zum Block, winkelte er den sehnigen Arm zum Wurf. Er war allein. Er war der Wache im Land der Schläfer; mit ihm ging der Tag für die Menschen an. Er hörte den geisterhaften Hall seiner eignen Füße und die großorchestrierte Musik der Dunkelheit. Wenn das Licht mächtig über den Himmel flutete, wachte er auf.
Er beobachtete den langsamen Übergang der Jahreszeiten, die fürstliche Prozession der Monate. Im Sommer wurde es hellichter Tag, ehe er mit dem Austragen zu Ende kam. Sein Rückweg führte durch die erwachende Stadt. Die ersten Trambahnen, frisch grüngestrichen, wie Spielzeugwagen, standen am Stadtplatz. Die hohen, verbeulten Kannen der Milchmänner blitzten im Licht. Und hoffnungsvoll schien die Sonne – Hellenendämmerung! – auf das fettig schwarzbraune Gesicht des Griechen George Chakales, des Nachtkellners aus dem »Café Athen«. Und auf dem hohen Barstuhl in der Frühstücksstube »Unceda Nr. 1« am Stadtplatz saß Eugen, aß Eierbrötchen und trank heißen, starken Kaffee in der freundlichen Gesellschaft von Trambahnkondukteuren, Polizisten, Chauffeuren und Maurern. Wie angenehm ist es – dachte er – mit seiner Arbeit fertig zu sein, wenn die anderen anfangen. Und der Heimweg dann, die Vögel singen auf allen Bäumen.
Im Herbst stand ein roter Mond bis spät in den Morgen am Himmel; die Luft war voll vom Blätterfall, und feierlich rauschte der Wind in den alten Bäumen am Berg und in Eugens Herz. Trauriges Geflüster. Und die große Orgelmusik schwoll an.
Im Winter schritt er freudig gegen den dunklen, heulenden Wind, der ihn mächtig berannte. Und wenn im Vorfrühling der spitze, kalte Regen vom verhängten Himmel spritzte, war er zufrieden. Er war allein.
Unablässig war er hinter säumigen Kunden her. Sie hielten ihn hin; er aber wußte sie in ihren Wohnungen oder bei ihren Nachbarn zu finden, und er bestand so nachdrücklich auf seiner Forderung, daß sie schließlich mürrisch oder lachend einen Teil ihrer Schuld beglichen. Das war mehr als seine Vorgänger fertiggebracht hatten. Er war trotzdem ungeduldig und nervös wegen seiner Abrechnung, bis er endlich merkte, daß ihn der Geschäftsführer faulen Buben als Beispiel hinstellte.
»Schaut Euch den Jungen an! Jede Woche kriegt er sein Geld. Dazu von Niggern!«
Eugen wurde feuerrot im Gesicht vor Freude und Stolz. Wenn er mit dem großen Mann sprach, bebte seine Stimme. Kaum, daß er die Worte hervorbrachte.
Dann aber heulte der Wind herrlich durch die Dunkelheit, Eugen lachte wie ein Irrer, er sprang in die Luft und stieß kurze, schrille Tierschreie aus. Er schleuderte seine Zeitungsblöcke scharf gegen das knarrende Bretterwerk baufälliger Hütten. Er war frei, er war allein. Er hörte in der Nachbarschaft einen Zug vorbeipfeifen; in der Dunkelheit hob er den Arm, um seinem Bruder zu winken, dem Maschinisten mit der Schutzbrille über dem stahlstäten, auf die Schienen fixierten Blick.
Vor dem Druck, den die Familie auf ihn ausübte, war ihm nun nicht mehr sehr bange. Es scherte ihn nicht allzuviel, ob sie ihn zu Haus für einen wohlgeratnen Jungen hielten oder nicht. Er saß in der Frühstücksbar mit drei oder vier anderen Zeitungsträgern und lernte Zigarettenrauchen. Unterwegs