»Um Himmels willen, Junge!« schalt sie vom Waschzuber herunter. »Nun sehen Sie sich so was an«, sagte sie zu Mister Baskett, dem Baumwollhändler aus Hattiesburg, der nebenan auf der Rückveranda erschien. »Was soll man mit so einem Jungen anfangen? Er hat mir 'ne ganze Reihe junger Maispflanzen umgehackt.«
Der malariakranke Mister Baskett lehnte sich übers Geländer und grinste herunter: »Und das Unkraut hat er stehen lassen!« sagte er. Dann rief er herunter: »Du! Junge! Dich sollte man mal zwei Monate auf 'ne Farm schicken, was?«
Das Brot, das ich hole, werden die Fremden essen. Das Holz, das ich kleinspalte, und die Kohle, die ich herbeischleppe, werden die Fremden wärmen. Rauch. Fuismus fumus. Unser ganzes Leben geht in Rauch auf. Keine Struktur, keine Schöpfung darin, nicht einmal die Rauchbauten des Traums. Komm näher, Engel. Flüstre in unsre Ohren. Wir verwehen im Rauch; an unserm Heute ist nichts als die Trübsal, die der Lohn unsres Gestern ist. Wie können wir uns retten?
Er bekam die Niggertown-Route, die schwerste und uneinträglichste von allen. Er erhielt zwei Cent das Exemplar für die wöchentliche Zustellung; zehn Prozent des Abonnementsgelds, das er abhob; zehn Cent für jeden neuen Besteller, den er einbrachte. So verdiente er vier bis fünf Dollar die Woche. Sein magerer, unterentwickelter Körper trank Schlaf mit unersättlichem Durst. Nun aber mußte er um halb vier in der Frühe aufstehen. Die Stille und die Dunkelheit machten ein unwirkliches Gedröhn in seinen schlaftrunknen Ohren.
Seltsame, himmlische Musik kam aus dem Dunkel. Über seine langsam erwachenden Sinne schwang das große Gewoge symphonischer Orchester. Die Stimmen böser Geister, schön und schlaflaut, riefen aus dem Dunkel, dem Licht herab. Fäden uralten Gedenkens wurden weiter gewoben.
Blindstolpernd in der weißen Grelle öffnete er langsam die schlafverschnürten Augen, als er neugeboren wurde, als die Nabelschnur riß, die ihn ans Dunkel gefesselt hatte.
Erwache, Knabe, der Du die Geister hörst, erwache ins Dunkel. Erwache zu uns, Du Phantom. Versuch es, den Weg zu finden. Öffne die Wand aus Licht. Gespenst, Gespenst, wo ist das Gespenst? O verloren. Zungengeflüstertes Lachen. Eugen, Eugen! Hier, ja hier ist der Weg, Eugen. Hast Du vergessen? Das Blatt, den Stein, die Wand aus Licht? Hebe den Felsen auf, Eugen, das Blatt, den Stein, die ungefundne Tür. Kehre zurück!
Eine Stimme, schlafseltsam und laut, ewig fernnah, sprach:
»Eugen.«
Sprach und verstummte. Sprach weiter, ohne zu sprechen. Sprach in ihm. Wo es Dunkelheit gibt, Sohn, da gibt es auch Licht. Versuche es, Knabe. Du weißt das Wort. Entsinne Dich. Im Anfang war der Logos. Jenseits der Grenze des Grenzenlosen grünbeforstetes Land. Gestern wars. Entsinnst Du Dich? Weitbeforstet. Ein Hornklang ertönt. Meerbeforstet, wasserweit, die Korallengrotten, seefern, horntönend. Frauen mit Hexengesichtern, in flaschengrünen Gewändern, über die Sättel geschwungen. Meerweiber, entschuppt und lieblich, unter den Kolonnaden am Meeresgrund. Das verborgne Land unterm Felsen. Die flitzenden Waldweibchen, in Rinden verwachsen, fernsanft, … als er erwachte, lockten sie mit leiserem Geschwirr. Dann tiefere Stimmen. Lieder aus dem Teufelsrachen windbeschuhter Gespenster. Bruder, oh, Bruder. Sie schossen in den Abgrund, in die Dunkelheit hinab, verweht mit dem Wind wie Kugeln. O verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!
Leis zog er sich an, ging leis die Treppe hinunter, schlich leis zur Hintertür hinaus. Sein Körper wachte vom Schock der kalten Luft auf. Das seltsame Gedröhn hielt an, wenn er unterm blauen Sternenlicht die Straße hinauf zur Stadt ging. Er lauschte, das Gespenst seiner selbst, auf den Hall seiner eignen Tritte, vernahm das Flackern der Laternen an den Straßenecken, sah aus seeversunknen Augen die Stadt.
Eine feierliche, Erde, Luft und Weltall erfüllende Musik tönte in seinem Herzen. Sie war nicht laut, aber sie war allgegenwärtig. Sie sprach zu ihm von dem Weg, den alle, die leben und gelebt haben, gehn. Auf einer großen Ebene wandelten sie, stumm dahinschreitende Menschen, und im Herzen eines jeden war eine alte, gemeinsame Kunde, das Wort, das alle einmal gewußt und nun vergessen haben: der verlorne Schlüssel, der den Kerker öffnet; das Ende eines Feldwegs in den Himmel … Und wenn die Musik anschwoll und ihn bedrängte, dann rief er: »Ich will es behalten! Wenn ich den Ort finde, werde ich wissend sein.«
Aus den Türen und Fenstern des Zeitungsgebäudes fiel das Licht in Schäften in die Finsternis heraus. Aus dem Druckersaal im Erdgeschoß dröhnte die große Presse. Wenn Eugen eintrat und den warmen Geruch von Stahl und Druckerschwärze in den Lungen spürte, kam er plötzlich ganz zu sich. Er gewann die Herrschaft über seine Glieder; es war, als ob ein unsichtbarer Luftgeist plötzlich den Erdboden berührt und augenblicklich körperliche Gestalt angenommen hätte.
Die Zeitungsträger standen Schlange vor dem Geschaftsführerpult. Der Geschäftsführer, im Schein einer grünen Lampe, überflog die Kontrollbücher, nahm das eingesammelte Kleingeld aus den klammen, kalten Fingern der Jungen, zählte nach und strich ein. Dann gab er jedem eine Anweisung über die Exemplare, die er an diesem Morgen zu bestellen hatte.
Sobald die Buben abgefertigt waren, liefen sie gierig wie Rennhunde auf die Auslieferung im Kellergeschoß und reichten den Anweisungszettel dem mürrischen Angestellten, dem »Auszähler«. Der Auszähler fuhr mit dem unfehlbaren, von Druckerschwärze geschwärzten Daumen über den Stoß frischgedruckter Zeitungen, hob die angewiesene Zahl Exemplare ab und händigte sie dem Träger ein. Jeder Träger erhielt zwei Zeitungen mehr, als ihm zustanden; diese überzähligen Exemplare hießen »Extras«. Wenn ein Junge keine Gewissensbisse hatte, dann konnte er die zuständige Zahl noch durch »Totenköpfe« vergrößern; er ließ dann einfach die Namen von einem halben Dutzend ausgeschiedner Abonnenten in seinem Kontrollbuch stehen. Überzählige Exemplare waren immer gut: in der Frühstücksstube bekam man Kaffee und Apfelkuchen billiger, Trambahnschaffner nahmen sie »in Zahlung«, freundliche Polizisten empfingen sie als »Tribut«.
Im Druckersaal stand Harry Tugman; dicker Zigarettenrauch kräuselte aus seiner Nase. Gleichmütig ertrug er die bewundernden Blicke der Buben. Er übersah das Arbeiten der großen Presse mit fachmännischer Gelassenheit. Das Hemd über der mächtigen Wölbung seines Brustkastens war aufgeknöpft; unter der naßgeschwitzten Unterjacke zeichnete sich der schwarze Busch seines Brusthaars ab. Ein Arbeiter, eine Ölkanne und einen Fetzen Zellstoff in der Hand, turnte gelenkig zwischen den Kolben, Kolbenstangen und Zylindern herum. Ein breites Papierband lief ständig um die Walze, wurde von der Mangel aufgenommen und verschwand dann in einem Chaos von Maschinerie, aus dem ein paar Sekunden später – zugeschnitten, gedruckt, gefalzt und gefaltet – die dicke Zeitung zusammen mit hundert ebensolchen Zeitungen am laufenden Band herausglitt.
Maschinenwunder! Warum werden nicht auch Menschen so hergestellt? Ärzte, Dichter, Priester zugeschnitten, gedruckt, gefalzt und gefaltet?
Harry Tugman warf den nassen Zigarettenstummel weg und grinste übers ganze Gesicht. Die Buben bestaunten ihn ehrfurchtsvoll. Er hatte einmal einen Setzer, der es gewagt hatte, auf seinem Sessel Platz zu nehmen, mit einem Faustschlag zu Boden geschmissen. Ja, Harry Tugman war Herr! Er kriegte fünfundfünfzig Dollar die Woche. Wenn ihm der Betrieb hier nicht paßte, dann konnte er jederzeit woanders Arbeit finden: an der »New Orleans Times-Picayune«, am »Louisville Courier Journal«, an der »Atlanta Constitution«, am »Knoxville Sentinel«, am »Norfolk Pilot«. Harry Tugman war ein Kerl; er konnte auf Reisen gehen; die Welt stand ihm offen.
Einen Augenblick später waren die Buben draußen auf der Straße und humpelten rasch davon ins Dunkel, das gewohnte Gewicht der vollgestopften Zeitungstasche auf den Schultern.
Eugen