Leonard hatte einen schweren Stand, um die kleine Privatschule am Leben zu erhalten. Er hatte nicht ganz zwanzig Schüler im ersten, knapp dreißig im zweiten Schuljahr. Von den dreitausend Dollar, die an Schulgeld eingingen, mußte er Miss Amy, die eine gute Lehrstelle an einer höheren Schule aufgegeben hatte, um ihm zu helfen, ein kleines Gehalt zahlen. Die Installation in dem alten, eichenumstandnen Haus auf dem schönen Hügel taugte nicht mehr viel, die Gänge waren zugig. Leonard hatte das Anwesen für billiges Geld in Pacht. Aber die dreißig Jungen sorgten für tüchtige Abnützung, und Leonard mußte beträchtliches Geld für Reparaturen und Unterhalt auswerfen. Die Leonards kämpften tapfer und hartnäckig.
Das Essen war karg und mager. Zum Frühstück gab's wässerigen Haferbrei, Eier und Toast; mittags eine dünne Suppe, heißes, saures Maisbrot und ein Gemüse mit fettem, gekochtem Schweinefleisch; abends heiße Biskuits, Hackbraten und Rahm- oder Pellkartoffeln. Kaffee und Tee waren verpönt. Aber frische, sahnige Milch war im Überfluß da. John Dorsey Leonard hielt immer seine Kuh und molk sie eigenhändig. Gelegentlich gab es eine hohe, knusprige Obsttorte oder gewürztes Ingwerbrot oder kleine heiße Formenkuchen aus duftigem, dottergelbem Teig. Dann hatte Margaret selbst gebacken. Sie war eine glänzende Köchin.
Manchmal abends nahm Guy Doak Reißaus. Er kletterte aus dem Fenster, ließ sich an der Seitenveranda herunter und verschwand auf dem Weg unter den großen, sturmgepeitschten Bäumen. Nach zwei Stunden kam er zurück, kletterte lachend zum Fenster herein. Er brachte in einer Düte etwas zum Futtern mit: Brote mit Frankfurter Würstchen belegt, dick mit Senf bekleckert und mit feingeschnittenen Zwiebeln und einer mexikanischen Pfeffersauce scharf gewürzt. Verschmitzt grinsend wickelte er zwei Fünf-Cent-Zigarren aus, die sie großartig und kühn rauchten. Sie bliesen den Rauch zum Kaminschlot hinauf, um etwaigen Überraschungen durch den Schulmeister vorzubeugen. Und außerdem brachte Guy Doak die Neuigkeiten aus dem Städtchen mit, den guten Salzgeruch der Gespräche auf den Straßen und in den Lokalen und die Renommisterei der Galane, die er in der Drogerie getroffen hatte.
Da saßen sie und futterten und pafften und sahen einander wohlgefällig kichernd und gahlernd und lächernd und lachend an. Die unmittelbare Hitze des Kaminfeuers strahlte sie an; ums Haus heulte der dunkle, gigantische Wind, weither, weithin über die Erde. O du gehegte, warm im Winkel gegen diese Winternacht geborgne Liebe! O schöne, heiße Frauen, die ihr in einer Hütte im Wald, in der hochgebauten Stadt über dem stöhnenden Meer wohnt: ich komme, ich komm!
Guy Doak ahmte den Schulmeister nach: mit der rechten Hand nestelte er sich am Bauch, mit der linken Hand fuhr er sich ums Kinn: »Wir wollen uns mal vergewissern«, mimte er.
Ihr Lachen hallte von den Wänden. Zu spät hörten sie den verstohlnen Tritt des Schulmeisters auf den knarrenden Dielen. Später dann: Stille, Dunkelheit, Wind.
Miss Amy klappte das kleine, peinlich sauber geführte Notizbuch, in das sie die Noten eintrug, zu. Sie reckte die Arme aus und gähnte. Eugen sah sie hoffnungsvoll an und an ihr vorbei auf den Schulhof und ins Abendrot hinaus. Sein Betragen war mangelhaft; er war wild, zügellos, unbeherrscht, konnte den Mund nicht halten, konnte nie einen Tag lang Frieden geben. Die Leonards waren bestürzt. Sie liebten ihn und straften ihn fromm, wohlwollend. Täglich, wenn die Schule aus war, mußte er nachsitzen.
John Dorsey Leonard machte sich Bemerkungen; er schrieb jedes unzulässige Geflüster, jede unzulängliche Vorbereitung auf. Nachmittags dann verlas er die Namen der Sünder und brummte ihnen unterm Protestgemurmel der Klasse die Strafen auf. Einmal brachte Eugen es fertig, einen ganzen Tag lang ohne Eintrag durchzukommen. Triumphierend stand er vor dem Schulmeister. John Dorsey Leonard sah nach, lachte albern und packte den Jungen gutmütig am Arm.
»Das muß ein Irrtum sein, Eugen. Du bist bloß nicht erwischt worden«, sagte er. »Ich lasse Dich aus Prinzip nachsitzen.«
Er bog sich vor Lachen. Eugen schossen die Tränen in die Augen vor Zorn und Überraschung. Er vergaß es nie.
Miss Amy gähnte, lächelte ihn mit träger, mächtiger, wohlwollender Verachtung an.
»Geh jetzt«, sagte sie. »Ich mag mich nicht länger plagen mit Dir. Du bist keinen Schuß Pulver wert.«
Margaret war gerade eingetreten, das Gesicht tiefgefurcht, die rauchdunklen Augen voll von zarter Bestimmtheit und verstecktem Lachen.
»Was ist los mit dem Racker?« fragte sie. »Kann er keine Algebra lernen?«
»Lernen könnte er schon«, sagte Miss Amy gemächlich. »Alles könnte er lernen. Er ist faul, daran liegt's. Einfach und rundheraus faul.«
Sie gab ihm mit dem Lineal einen Klaps über die Schenkel.
»Mit dem da möchte ich Dir mal einheizen«, lachte sie mit träger voller Stimme. »Dann würdest Du lernen.«
»Hör mal«, sagte Margaret und schüttelte ablehnend den Kopf. »Laß ihn in Frieden. Man soll dem Faun nicht hinter die Ohren gucken. Reg' Dich nicht auf wegen der Algebra, das ist für arme Leute. Algebra ist überflüssig, wo zweimalzwei Fünf macht.«
Miss Amy sah Eugen mit ihren schönen, dunklen Augen an und entließ ihn mit betont abfälliger Gebärde: »Geh jetzt, ich hab genug von Dir!«
Barhaupt, mit einem wilden Freudengeheul, rannte er aus der Tür und setzte über das Terrassengeländer.
»Junge!« rief ihm Margaret nach. »Wo ist Dein Hut?«
Er grinste, galoppierte zurück, holte einen grünen, weichen Filzfetzen und stülpte ihn über sein wirres Haar.
»Komm mal her«, sagte Margaret ernst. Mit nervösen Fingern band sie ihm die verkordelte Krawatte gerade, zog ihm die Weste herunter, knöpfte ihm den Rock ordentlich zu, während er sie mit einem teuflischen Grinsen ansah. Plötzlich lachte sie auf.
»Guter Himmel!« sagte sie. »Schau Dir mal so einen Hut an!«
Miss Amy lächelte ihn an, unbeteiligt wie eine Katze.
»Du mußt Dich ein bißchen besser herrichten, Eugen«, sagte sie, »damit die Mädchen ein Auge auf Dich werfen.«
Margaret lachte.
»Kannst Du Dir vorstellen, daß er einem Mädchen den Hof macht?« fragte sie. »Das arme Gör, sie müßte ja denken, ein Dämon hätte sich in sie verliebt.«
Seine Augen blickten sie an mit einer dunklen, geheimnisvollen Schönheit.
»Troll Dich, Du Zigeuner!« befahl sie.
Er rannte, einen wilden Tierschrei in der Kehle, mit großen Sprüngen den Weg hinunter.
»Laßt ihn in Ruh!« flüsterte sie zu niemandem. Ihre Augen schwammen. »Laßt ihn in Ruh!«
XXV
Ja. Das ungeheure Verbrechen war begangen. Und fast ein ganzes Jahr hatte Eugen eine verzweifelte Neutralität bewahrt. Sein Herz jedoch war nicht neutral. Das Schicksal der Zivilisation, schien es, hing in der Schwebe.
Der Krieg hatte mitten in der Hochsaison angefangen; Dixieland war voll. Eugens nächster Freund damals war eine herbe alte Jungfer mit zerrütteten Nerven, die dreißig Jahre lang an einer Volksschule in New York City Englisch gelehrt hatte.