Er war ein unphilosophischer Mensch. Er hatte keine Distanz zum Leben. Er konnte nicht gleichsam unbeteiligt das Absterben der Sinne, das Abflauen der Begierden, den Eintritt der körperlichen Impotenz mitansehen. Hungrig und geil, mit heißem Atem und gierig hervorquellenden Augen gab er jeder Verlockung nach. Die angenehme Ironie, mit der ein philosophischer Geist jener Torheiten spottet, die er nicht länger zu genießen imstand ist, war ihm nicht gegeben.
Resignation – das kannte er nicht In ihm brannte die brennendste aller Lüste, die Wollust der Erinnerung, jener heißhungrige Wille, der das Gestorbne gewaltsam wieder zu erwecken versucht. Es war so weit gekommen, daß er gierig über die Zeitung herfiel, bloß um nachzusehen, wer gestorben wäre. Wenn Freunde oder Bekannte das Zeitliche gesegnet hatten, dann schüttelte er trübselig-heuchlerisch den Kopf und sagte: »Einer nach dem andern kratzt ab, o Gott, der nächste werde ich sein.« Natürlich glaubte er das nicht. Der Tod wartete immer noch auf die andern, nicht auf ihn.
Er alterte rapide. Vor ihren Augen fing er an, eines langsamen Todes zu sterben, unfähig und hinfällig zu werden. Es war entsetzlich, weil Unmäßigkeit im Fressen und Saufen, wüste Ausschweifungen so sehr zu seinem Leben gehört hatten. Es war unglaubhaft und furchtbar zugleich, diesen Riesenkörper hinsiechen zu sehen. Sie fingen an, den Fortschritt der Krankheit mit jenem Horror zu verfolgen, mit dem man die Bewegungen eines Hundes, der sich ein Bein gebrochen hat, verfolgt. Dieser Horror ist größer als das Entsetzen, das einen packt, wenn man einen Menschen mit gebrochnen Beinen sieht. Ein Mensch kann letzten Endes ohne Beine auskommen. Ein Hund steckt ganz in seiner Haut.
Ein seniler Eigensinn mäßigte nun seinen wilden Bombast. Er fluchte und winselte abwechselnd. Mitten in der Nacht stand er auf, gepeinigt und erschreckt, und lästerte einen Augenblick seinen Gott, nur um ihn im nächsten Augenblick jammernd um Vergebung anzuflehen. Hinter all dem Getu stand der tatsächliche, unbestreitbare körperliche Schmerz.
»Au-u-u! Ich verfluche den Tag, an dem das grimmige, blutdürstige Ungeheuer da, droben mich ins Leben geschickt hat. A-u-u! Au-u-u! O Jesus, vergib mir! Erbarm Dich, mein Gott! Ich weiß, daß ich schlecht war. Hab Mitleid mit mir! Au-u-u! Gib mir noch eine Gelegenheit zum Leben.«
Eugen kochte oft vor Zorn über dieses Getue. Ihn ärgerte, daß Gant, der seinen Kuchen gegessen hatte, sich nun über Bauchweh beklagte und obendrein noch mehr Kuchen haben wollte. Er erkannte nicht ohne Bitterkeit, daß sein Vater alles, was ihm das Leben je geboten hatte, gierig verschlungen habe, daß der Alte seinen Lüsten ausgiebiger gefrönt habe und in seinen Forderungen an andere rücksichtsloser gewesen sei als die meisten Männer. Er fand, diese wilden Anschuldigungen und das feige Geläbber vor einem Gott, um den sich Gant und Eliza, wenn es ihnen gut ging, nie kümmerten, erbärmlich und gemein. Die ständige Beschäftigung der beiden mit dem Tod andrer Leute … ihre Art, einen Akt Gottes im Sterben einer achtzigjährigen Schwerkranken, die ihnen bekannt war, zu erkennen, während Feuersbrünste, Hungersnot und Gemetzel in einer etwas entlegeneren Ecke der Erde sie nichts anging, … ihren Aberglauben an alles, was lokal und unwichtig war … ihre dumpfe Überzeugung, daß sie selber vor den göttlichen Gesetzen und der natürlichen Ordnung immun seien … – das alles erfüllte ihn mit heller Wut.
Elizas Gesundheit war glänzend. Sie war Mitte der Fünfzig; die Anfälligkeiten der mittleren Lebensjahre hatte sie siegreich überwunden. Sie war stärker, schwerer, widerstandsfähiger als je. In ihrem Betrieb in Dixieland bewältigte sie täglich ein Pensum an Plackerei, das einen starken Neger umgelegt hätte. Sie kam fast nie vor zwei Uhr nachts ins Bett und war jeden Morgen vor sieben wieder auf den Beinen.
Höchst ungern gestand sie vor anderen ihre Gesundheit ein. Die geringste Unpäßlichkeit bauschte sie auf. Gants Klagen begegnete sie stets mit einem entsprechenden Leiden ihrerseits. Wenn Helene ihr vorwarf, daß sie den Kranken vernachlässige, oder wenn die Bemühungen der Tochter um Gant ihre Eifersucht anstachelten, dann lächelte sie ein weißes, bitter gekränktes Lächeln und erging sich in dunklen Anspielungen:
»Es kann sehr wohl so kommen, daß er nicht als erster von uns zweien die Augen auf immer zumacht … mir hat da neulich so was geschwant, kann ich Dir nur sagen, ganz unheimlich war das … wirklich, nimm Dich in acht, so sehr lange wird es wohl nicht mehr dauern mit mir …« Ihre Augen schwammen vor Selbstmitleid, es zuckte um ihren verkrampften Mund, sie weinte über ihr eignes Leichenbegängnis.
»Himmeldonnerwetter!« platzte Helene wütend heraus. »Dir fehlt nichts! Aber Papa ist ein schwerkranker Mann. Siehst Du denn das nicht?«
Sie sah es nicht.
»I wo!« sagte sie, »das ist gar nicht so schlimm. McGuire sagte mir, daß unter drei Männern über fünfzig zwei dieses Leiden haben.«
Gants Körper kochte Gift und Galle über Elizas zunehmende Gesundheit. Es machte ihn rasend, sie so fest und firm dastehen zu sehen. Er gab seiner Hinfälligkeit in allen Stücken nach, war tyrannisch in seinem Bedürfnis nach Aufwartung, wurde eifersüchtig auf jeden Dienst, der nicht ihm erwiesen wurde. Elizas Gleichgültigkeit seinem Leiden gegenüber erweckte einen krampfhaften Hunger nach Mitleid und Tränen in ihm. Manchmal schrie er wie ein Irrer vor aufgespeicherter Wut; manchmal besoff er sich bis zur Bewußtlosigkeit. Oft auch versuchte er sie zu erschrecken, indem er sich totstellte. Einmal spielte er den toten Mann so erfolgreich, daß Ben tatsächlich getäuscht wurde. Er beugte sich über den Körper, der starr in der Diele lag, und erbleichte.
»Ich kann seinen Herzschlag nicht mehr hören, Mama«, sagte Ben mit nervös zuckendem Mund.
»Aha!« sagte sie. Und nun wählte sie ihre Worte mit absichtlicher Umständlichkeit. »Der Krug ist also einmal zu oft zum Brunnen gegangen. Ich wußte, daß es früher oder später so kommen mußte.«
Aus dem Schlitz seines nicht ganz geschlossenen Lids schoß er ihr einen mörderischen Blick zu. Bedachtsam, die Hände vor dem Bauch gefaltet, musterte sie ihn. Ihr ruhiges, urteilsfähiges Auge bemerkte, wie sein verstohlener Atem leise ging.
»Nimm ihm das Geld ab, Sohn, und alle Papiere, die er bei sich trägt«, befahl sie. »Ich werde den Leichenbestatter anrufen.«
Mit einem Wutgeheul erwachte der Tote.
»Ich dacht' mit schon, daß ich Dich ins Leben zurückbringen könnte«, bemerkte sie behäbig.
Gant stand auf.
»Du Höllenhündin«, gellte er. »Mein Herzblut würdest Du trinken, Du mitleidloses, unbarmherziges, blutgieriges Ungeheuer!«
»Eines Tages«, erklärte Eliza, »wirst Du einmal zu oft Haltet-den-Dieb geschrien haben.«
Dreimal wöchentlich ging Gant zu Cardiac in Behandlung. Der dürre Doktor war alt geworden. Hinter der trocknen Zurückhaltung, hinter der forschen Autorität seiner Manieren offenbarte sich ein lüsterner, zotiger Greis. Er hatte ein angenehmes Vermögen und scherte sich nicht um seine immer kleiner werdende Praxis. Aber er war noch immer ein glänzender Bakteriologe und verbrachte Stunden über blühenden Bazillenkulturen. Verseuchte Prostituierte suchten seine zuverlässige Behandlung auf.
Er riet Gant vom Seziermesser ab, da man das Leiden mittels Katheterbehandlung genügsam lindern könne. Die beiden wurden dicke Freunde. Cardiac widmete Gant ganze Vormittage. Wenn der Masseur seine Arbeit beendet hatte, lag der Patient wollüstig auf dem Massiertisch, und der Arzt unterhielt ihn stundenlang mit den vertraulichen Berufsgeheimnissen leichtlebiger Weiber, erzählte ihm obszöne Geschichten, zeigte ihm seine reichhaltige Sammlung pseudo-wissenschaftlicher Pornographien.
XXI
Während der ersten Jahre seines Krankseins war Gant zwar nicht sehr rüstig, aber seine Lebenskraft war keineswegs ernstlich erschüttert. Die ärztliche Behandlung verschaffte ihm anfangs recht ruhige Wochen; er hielt sich dann fast für genesen. Immer aber kam es wieder vor, daß er über Nacht in einen winselnden, kindischen Greis verwandelt war. Dann machte er vollkommen schlapp und blieb tagelang im Bett. Diese heftigen Anfälle des Leidens folgten gewöhnlich auf eine wüste Sauferei.
Der öffentliche Ausschank von Alkohol war längst nicht mehr statthaft; Kneipen und »Saloons« waren seit langem geschlossen.