»Wie kann ich Ihm danken?« rief das Mädchen. »Er hat mich von einem Schicksal errettet, das schlimmer als der Tod ist!«
Und ER, der Dixie Ghost, der dem Tod so oft ohne mit der Wimper zu zucken ins Auge gesehen hatte, konnte nun einem Etwas, das ihn aus den großen, braunen Augen ansah, nicht mit dem Blick begegnen. Er nahm den Sombrero ab und drehte ihn verlegen in der Hand.
»Nicht der Rede wert, Madam«, sagte er verlegen. »Jederzeit froh, einer Dame behilflich gewesen zu sein.«
Mittlerweile hatten die beiden Barkellner ein Tischtuch auf den toten Jim Faro gedeckt, die Leiche ins Hinterzimmer geschleppt und waren auf ihre Plätze hinterm Schanktisch zurückgekehrt. Die Gäste standen in kleinen erregten Gruppen umher. Im Nu saß der Klavierspieler an dem alten Klapperkasten und spielte 'nen Walzer.
»Tanzt Er mal mit mir, Mister Dixie Ghost?« Zwei weiße Zahnreihen blitzten, zwei Grübchen spielten in lächelnden Wangen.
Im Wild-West jener Tage waren die Leidenschaften primitiv, jäh kam die Rache, schnell ging das Leben wieder seinen gewohnten Gang.
Seine Gedanken drehten sich ums Geheimnis der Liebe. Rein, aber leidenschaftlich. Der Augenschein spricht gegen sie, das ist wahr. Der stinkende Atem der Verleumdung … Sie arbeitete als Tanzmädchen in diesem verrufnen Lokal. Aber ihr Herz war rein. Was könnte man sonst auf der Welt gegen sie sagen. Er hielt Totschlag für ein sauberes, angenehmes Geschäft. Fröhlich, mit Kinderaugen, betrachtete er seine toten Feinde. Männer im Film sterben eines heftigen, aber reinlichen Todes. Päng! Päng! Lebt wohl, Freunde, mit mir ist's aus! Ein sauberes, kleines Loch durch den Kopf oder das Herz. Kein Blut. Er war unschuldig geblieben. Ob vielleicht doch die Eingeweide austreten, das Hirn herumspritzt? Kinnschuß, und das Gesicht sieht wie ein Klumpen Johannisbeergelee aus …
Sie bogen in die lange Academy Street ein. Im Hirn brannten ihm Ketten von Bildern, scharf wie Gemmen, wandelbar wie Chamäleons. Sein Leben war der Schatten eines Schattens, ein Spielen in einem Spiel. Er wurde der Star, der den Helden spielt. Der Lord der Lichtspiele, der Liebhaber der schönsten Kinokönigin. Er war der Dixie Ghost und war der Mann, der den Dixie Ghost spielte.
Er war alle die Helden, die er bewunderte, und an Schönheit, Adel und echtem Mannestum übertraf er die verächtlichen Gesellen, die immer siegten und ewig von schönen Frauen geliebt wurden. Er selber war erkoren und ward geliebt von einem Schwärm weltberühmter Schönheiten – von vampirischen Weibsteufeln sowohl wie von reinen, süßen Engeln –, die sich, die schweren Blondinen voran, um seine Gunst bewarben und teilweise ihn sogar mit moralisch zweideutigen Schlichen und Listen zu gewinnen trachteten. Aus unaufhörlichen Großaufnahmen sahen ihre Augen ihn an. Er feierte Feste an ihren dargebotnen Lippen. Und wenn der Konflikt vorüber, der Totschlag geheiligt, die Tugend gekrönt war, dann schritt er mit seiner Sirene in den willkommnen Glanz einer ständig untergehenden Sonne.
Er verrenkte den Hals und sah Gant von der Seite an. Sie gingen an einem neugebauten Lichtspielpalast vorüber. Das Haus war verdunkelt, die Vorstellung aus. Gant sah nach der Uhr. Elf Uhr zwölf Minuten. Gegenüber der Baptistenkirche, vor dem Geschäft des Bestatters Gorham, fuhr ein Leichenwagen vor. Das matte Licht einer Ampel schien durch die Farne. Wer mag da wohl gestorben sein? dachte Gant. Die schwerkranke, achtzigjährige Miss Annie Patton? Oder irgendein spitznäsiges, lungensüchtiges Jüdchen aus New York? Einer muß immer dran glauben. Die letzte, schwere Stunde. Ach Gott!
An der Baptistenkirche bogen sie in die Spring Street ein. Wirklich, wie ausgestorben, diese Stadt, dachte Eugen. Wenn doch mal ein Zauberer mit einem Fingerschnick das ganze Leben auf der Welt anhalten würde, einen Nu lang, der hundert Jahre dauert!? Schlafverstrickt alle Menschen, lauter Dornröschen! Wenn Du aufwachst / weck mich früh, ach / weck mich früh / oh Mutter mein!
Er versuchte, sich Leben und Bewegung hinter den starren Häusermauern vorzustellen. Es ging nicht, Ein Haus verrät nichts; drinnen kann gemordet werden, und das Gesicht des Hauses bleibt still. Er dachte, Troja müsse so still sein wie diese Straßen, seit dem Tage, an dem Hektor fiel. Aber Troja ward ja verbrannt … Oh, alte Städte finden, nicht als Ruinen, sondern ganz so, wie sie damals waren … dieser Gedanke beseligte ihn. Atlantis, die Ville d'Ys, alte, ins Meer versunkne Städte. Große, leere Straßen, unverschüttete, in denen das einsame Echo seiner Tritte hallte; weite Arkaden, die er durchschritt; das Atrium, in das er eindrang; der Klang seiner Schuhe auf den Fliesen des Tempels.
Oder – so phantasierte er wollüstig – mit einer Gruppe schöner Frauen als einziger am Leben bleiben in einer Stadt, deren übrige Bevölkerung vor einer Seuche, einem Erdbeben, einem Vulkanausbruch oder irgend sonst einer Gefahr, die ihn nicht betraf, geflüchtet war … Er rollte die Zunge im Mund, so schmeckte ihm diese Vorstellung … sybaritisch bummelte er durch die Feinkostläden und labte sich an leckeren Dingen: kleine Fische aus Frankreich und Sardinien importiert, Kaviar aus Rußland, schwarzen Räucherschinken aus England, reife Oliven, Pfirsiche in Branntwein, feines Likörkonfekt. Er sah sich in die Keller hinuntersteigen, schweren Burgunder zechen, erdgekühlten Flaschen Pol Roger an der Wand die vergoldeten Hälse brechen, seinen Mittagsdurst am Spund eines großen Fasses Münchner Dunkles stillen. Wenn seine Wäsche angeschmutzt wäre, dann würde er sich mit neuem seidnem Unterzeug und den feinsten Hemden bedienen; jeden Tag würde er einen andern Hut aufsetzen und einen neuen Anzug anziehen, so oft es ihm paßte.
Und jeden Tag würde er in einem andern Haus wohnen, jede Nacht in einem andern Bett schlafen; schließlich würde er sich die luxuriöseste Wohnstatt zum Daueraufenthalt erkiesen und dort die reichsten Schätze aus allen Bibliotheken der Stadt zusammentragen. Und zu guter Letzt: wenn er eine der Frauen begehrte, die mit ihm in der Stadt geblieben waren und deren ganzes Denken und Trachten sich nun um seine Person drehte, dann würde er sie zu sich befehlen, indem er die Nummer, die er ihr verliehen hatte, in Glockenschlägen vom Amtsgerichtsturm verkündigte.
Er verlangte nach opulenter Einsamkeit. Seine dunklen Visionen entzündeten sich an Königreichen auf dem Meeresgrund, an windumknatterten Burgzinnen, an Elfenländern tief im Herzen der Erde. Er tappte und tastete nach der Märchenwelt, zu der es keine Eingangstür gibt, die sich unter irgendeinem Stein, einem Halm auftut. Wo kein Vogel singt.
Ein wenig praktischer erträumte er große, unterirdische Hausungen für sich, tiefe Berggrotten. Säle im braunen Erdreich, in denen mit bienenhaftem Fleiß aller Luxus zusammengetragen war … Durch kühle, versteckte Zisternen würde Luft kommen; von einem Auslug in der Bergflanke würde er auf eine gewundne Landstraße und auf Reisige, die nach ihm fahndeten, ausspähen; er würde ihr Fußgetrappel über sich hören. Aus unterirdischen Teichen würde er fette Fische fangen; sein mächtiger Keller würde große Fässer voll mit altem Wein halten; er würde die ganze Welt ihrer Schätze, einschließlich der schönsten Weiber, berauben können und nie, nie erwischt werden.
Salomos Goldminen. Sie. Proserpina. Ali Baba. Orpheus und Eurydike. Nackt kam ich aus meiner Mutter Schoß. Nackt will ich zurückkehren. Der Mutterbauch der Erde umschließe mich! Nackt, ein tapfrer, kleiner Kerl von einem Mann, von der großen, braunen Wamme umschlossen.
Sie kamen in die Nähe von Elizas Haus. Eugen bemerkte plötzlich, daß sie sehr viel schneller gingen. Er mußte fast traben, um mit Gant, der linkisch schiebend neben ihm ging, Schritt zu halten.
Gant stöhnte leis, mit langgezognem, bebendem Atem. Er hielt eine Hand auf die schmerzende Stelle gekrampft. Eugen brach in ein idiotisches Lachen aus. Gant sah ihn gequält und vorwurfsvoll an.
»Au-u-u! Barmherziger Gott!« winselte er. »Das tut weh.«
Unvermittelt spürte Eugen echtes Mitleid mit ihm. Zum erstenmal sah er, daß der große Gant alt geworden war. Das hagere Gesicht war vergilbt und eingefallen. Die dünnen Lippen waren schlaff. Die Chemie des Verfalls hatte ihre Spuren hinterlassen.
Nein, hier gab es kein Zurück mehr. Eugen sah ein, daß Gant langsam dahinsiechte. Die Widerstandskraft war gebrochen. Der große Rahmen war wackelig und splitterte, wie ein an Land verschlagnes Schiff. Gant war krank. Alt.
Er litt an einer Krankheit, die bei Männern, die achtlos ihren Lüsten gefrönt haben, im Alter sehr häufig auftritt: Vergrößerung der prostatischen Drüse. Diese Krankheit ist nur ganz selten tödlich;