Lukas ging nicht von den Fersen, er gellte, grinste, tanzte, versuchte seinen Mann in die Ecke zu treiben, benahm sich wie ein schweifwedelnd-zudringlicher Hund. Es gab einen Auflauf. Die Leute schmunzelten. Mit zitternder Hand rückte der »prospektive Abnehmer« den Nickel heraus, der ihn von der Belästigung loskaufte.
Außer den Gelegenheitsopfern seiner Tüchtigkeit hatte Lukas noch viele Abnehmer unter den Einwohnern des Städtchens.
Prall vor Begrüßungsfreude, glorreich vor Glattzüngigkeit kam er stramm und strahlend den Bürgersteig entlang gependelt … Er verlieh den bekannten Mitbürgern in seiner vollen, stammelnden Tenorstimme neue Titel:
»Wie geht's, Herr Captain? Wie steht's, Herr Major? Hier gibt's Lesefutter für 'ne ganze Woche! Frisch von der Presse! Und was machen die werten Angehörigen, Herr Colonel?«
»Na, hm. Und wie geht's Dir, Sohn?«
»Ausgezeichnet, Herr General! Könnte nicht besser sein mit dem Be-be-finden. Glatt und glitschig wie 'ner Hand auf 'nem jungen Hundebauch!«
Die Mitbürger, Spießer aus den Südstaaten mit roten Genießergesichtern, lachten ihr volles prustendes Lachen. Sie kauften, weil er sie amüsiert hatte.
Er, der erdhafteste in der Familie, war voll von heftig-deftiger Vulgarität, hatte eine triebhaft-üppige, rabelais'sche Saftigkeit, äußerte sich spontan in gargantuanischen Bildern. Trotz Elizas Zeter und Mordio pißte er allnächtlich ins Bett. Das war gewissermaßen der letzte, abschließende Pinselstrich zum Bildnis seiner stotternden, pfeifenden, patzigen, sprudelnden, komischen Personalität. Er war Lukas der Einzige, Lukas der Unvergleichliche. Er war, trotz seiner zappelig-geschwätzigen Nervosität, ein gewinnender, liebenswerter Kerl. Der bodenlose Brunnen des Gefühls war tatsächlich in ihm. Er begehrte überschwengliches Lob für seine Guttaten, aber seine Menschenliebe und seine Zärtlichkeit waren tief und echt.
Jeden Donnerstag nachmittag versammelten sich die Zeitungsbuben grinsend in Gants staubigem Schuppen. Lukas, der Agent, hielt eine belehrende Ansprache, ehe er die Knirpse zu ihrer Pflicht entließ:
»Na, habt Ihr, Euch überlegt was Ihr den Leuten erzählen wollt? Ihr könnt Euch doch nicht auf die Ärsche setzen und warten, bis der Kunde zu Euch kommt!« Er wandte sich an einen kleinen, erschreckten Buben. »Wie machst Du Dich ran an den Mann? Na, los! los! Gott verda-da-da-dammt, stell Dich nicht so blöd hin und g-g-glotz mich an!« Idiotisch ausgelassen lachte er auf. »Jetzt guckt Euch mal den Trottel an, Ihr Buben!«
Gant stand in einiger Entfernung mit Jannadeau und beobachtete schmunzelnd den Vorfall.
»Schon wieder gut, mein Christoph Columbus!« wandte sich Lukas nun gutmütig an den Buben. »Also was sagst Du den Leuten, mein Lieber?«
Der Junge räusperte sich verlegen. Er mimte matt: »Saturday Evening Post gefällig, Mister?«
»Owei, owei!« Lukas erklärte zartfühlend. »Glaubst Du wirklich, daß Du so eine Zeitung verkaufst? Ei, wo hast Du denn Deinen Verstand? Ramme Deinen Mann an! Klemme Dich auf! Häng Dich bei ihm ein! Und nimm nie ein Nein zur Antwort! Vor allen Di-di-dingen frage nicht, ob 'ne Zeitung gefällig ist! Tauch vor Deinem Mann auf und sag: ›Hier der Herr, noch warm, von der Presse!!‹ Jesus Christus!« gellte er plötzlich und blinzelte kopfwackelnd nach der Turmuhr auf dem Amtsgericht. »Wir sollten schon 'ne Stunde unterwegs sein. Vorwärts los! Drückt Euch nicht rum! Hier sind die Zeitungen. Wieviel kriegst Du, kleines Jiddchen?«
Er hatte mehrere Juden eingestellt; sie verehrten ihn, und er liebte ihre warme, füllige, humorige Art.
»Zwanzig.«
»Zwanzig!?« gellte Lukas. »Bummelant! Hier sind f-f-fünfzig. G-g-g-geh! Die wirst Du glatt los bis heut abend …«
Gant trat in die Werkstatt. »Jaja, Papa«, sagte Lukas zu ihm und deutete auf die Juden. »Das sieht aus wie die Flucht aus Ägypten, nicht wahr?«
»Los jetzt!« befahl er dann. Er hieb einem kleinen Jungen, der sich nach seinem Zeitungsstoß auf dem Boden gebückt hatte, auf den Allerwertesten.
»Streck mir den Arsch nicht in die Fresse!«
Die Buben quietschten.
»Also ran an den Mann! Laßt mir keinen auskommen!«
Aufgeregt lachend, schickte er die Jungen auf die Straße.
In diese Beschäftigungsart, in diese Ausbeutungsmethode wurde Eugen nun eingeweiht. Er haßte die Arbeit mit einem unüberwindlichen, Haß. Am widerlichsten war ihm dies, daß er sich den Leuten zur Belästigung machen mußte, um seine Ware loszuschlagen. Er kam sich erniedrigt vor. Aber er führte die Sache durch, eine seltsame, leidenschaftliche, lockenköpfige Kreatur, die eilfertig hinter erstaunten Passanten herwetzte und aus einem verdunkelten, lebenshungrigen Träumergesicht einen Hurrikan von Worten hervorstieß. Die Leute, von der merkwürdigen Beredsamkeit des Jungen fasziniert, kauften.
Manchmal nahm ihn ein schmerbäuchiger Richter, ein Bankier oder ein Anwalt mit in sein Heim, hieß ihn sich dort vor der Familie produzieren und entließ ihn mit einem Geschenk von 25 Cent. »Was meinst Du dazu? Ein geborener Redner, nicht?«
Wenn er seine ersten Verkäufe in der Stadt getätigt hatte, machte er die Runde ums Weichbild und klopfte die Sanatorien für Lungenkranke in den Wäldern der umliegenden Hügel ab. Dort verkaufte er leicht und schnell, »wie warme Bemmchen« pflegte Lukas zu sagen, – an bleiche unrasierte Juden mit sensitiven Gesichtern, an Ärzte und Krankenschwestern, an Schwerkranke, die ihre verrotteten Lungen in Becher spuckten, an nett aussehende junge Damen, die nur von Zeit zu Zeit ein wenig husteten und, wenn sie ihm das Geld gaben, die heiße weiche Hand einen Augenblick auf seiner ruhen ließen.
In einer Heilstätte im Bergwald lockten ihn eines Tags zwei junge New Yorker Juden in ein Krankenzimmer, sperrten die Tür ab und warfen ihn aufs Bett. Einer zückte ein Taschenmesser und erklärte, er würde den Jungen nun kastrieren. Jahre später fiel es Eugen bei, daß diese beiden, von der entsetzlichen Langeweile des Hospitallebens zu diesem Streich getriebenen Jünglinge den Überfall sicher tagelang geplant und sich schon im voraus wollüstig an seinem Entsetzen geweidet hatten. Allerdings, sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Eugen schrie wie ein Wahnsinniger, wehrte sich wie ein Tiger; die beiden waren viel zu schwach, ihn niederzuhalten. Eine Krankenschwester befreite ihn. Die beiden Schwindsüchtigen blieben zitternd vor Erschöpfung und angstverwirrt im Zimmer. Eugen erbrach; die Berührung mit den Körpern der Kranken war ihm widerlich und die ausgestandne Furcht zu viel für seinen Magen.
Aber die vielen netten Nickel- und Silberstücke klimperten angenehm in der Tasche. Er stand erschöpft auf müden Beinen vor der blanken Sodafontäne und barg sein Gesicht in eisgekühlten Tränken. Manchmal, wenn auch mit sehr schlechtem Gewissen, stahl er sich auf eine Stunde der Verzauberung und goldner Vergessenheit in die Bibliothek. Der wachsame Lukas entdeckte ihn und trieb ihn hinaus.
»Wach auf, sag ich Dir, Du lebst nicht im Märchenland. Los! Sei dahinter her!«
Eugens Gesicht taugte nicht zur Maske. Es war wie ein dunkler Tümpel, auf dessen stillem Spiegel jede Regung sichtbar wird. Daß er sich der Arbeit schämte und sie haßte, war, obschon er es zu verbergen suchte, offenbar. Er wurde des »falschen Stolzes« geziehen, ihm wurde vorgehalten, er habe »Furcht, ein wenig ehrliche Arbeit zu schaffen«, er wurde daran gemahnt, daß ihn seine großherzigen Eltern mit reichen Segnungen überhäuften.
In seiner Verzweiflung wandte er sich an Ben. Manchmal trafen sich die Brüder in der Stadt. Eugen war heiß von der Hetze, müd, schmutzig; die gefüllte Segeltuchtasche zog ihm die Schulter schief. Ben sah ihn finster an, schalt ihn wegen seines ungekämmten Haares, nahm ihn in einen Lunch-room und gab ihm was zu essen: rahmige Milch, einen dampfenden Teller geschmelzter Bohnen, dicken zweischichtigen Apfelkuchen.
Ben und Eugen waren von Natur Aristokraten. Eugen fing gerade an, seinen sozialen Status oder besser: seinen nicht vorhandnen sozialen Status zu empfinden. Ben empfand ihn seit Jahren. Das Empfinden hätte sich bei beiden recht einfach im Wunsch nach eleganter Damengesellschaft äußern können: keiner aber wagte, dies zuzugeben. Eugen brachte