In sich verriegelt trug er die Fehler und Tragik aller Gants. Er ging allein in der Dunkelheit, und der Tod und die dunklen Engel schwebten über ihm, und niemand wurde je seiner richtig gewahr. Um drei Uhr dreißig morgens, die vollgestopfte Zeitungstasche neben sich, saß er mit anderen Zeitungsbuben in einer Frühstücksbar, eine Tasse Kaffee in der einen, die Zigarette in der andern Hand. Und lachte leise, fast lautlos mit seinem beweglichen, ungemein sensitiven Mund und den von heruntergezognen Brauen beschirmten grauen Augen.
Zu Flause verbrachte er ruhig versponnene Stunden mit Eugen. Er spielte mit ihm, puffte ihn auch von Zeit zu Zeit mit seiner harten weißen Hand. Zwischen ihnen bestand eine geheime Gemeinsamkeit, in die niemand in der Familie Zutritt und Einsicht hatte. Von seinem bescheidnen Lohn kaufte er dem Kleinen teure Geschenke zu den Festen und bei besondern Gelegenheiten. Es rührte ihn, daß er dem Brüderchen wie ein Mäzen, wie ein Nabob erschien. Über das, was er verdiente, überhaupt über sein ganzes Leben außer dem Hause bewahrte er ein eifersüchtiges Stillschweigen, als wäre es ein Geheimnis.
Er wurde gereizt und störrisch, wenn Eliza danach forschte. »Das sind meine eignen Angelegenheiten! Bei Gott, verlange ich etwa etwas von Euch?«
Eine tiefsitzende Zuneigung für alle brütete in ihm. Nie vergaß er einen Geburtstag, stets legte er ein kleines, nicht allzu teures, mit erlesenem Geschmack ausgesuchtes Geschenk unauffällig bereit, Wenn sie – wie es ihre Art war – es übertrieben lobten und in redselige Dankesergüsse ausbrachen, schnickte er den Kopf zur Seite, lachte leise und gereizt und sagte – so als spräche er zu einem unsichtbaren Lauscher –:
»Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!«
Mag sein, daß der dunkle Engel weinte, wenn Ben, wohlgebügelt und gebürstet, mit sauberem Kragen, die Füße leicht einwärts setzend, unter den Morgensternen durch die Straßen hastete oder mit gerunzelter Stirn, im Haus herumstöberte. Das ist wohl möglich, denn Ben war ein Fremdling. Wenn er im Hanse umherging, fand er immer einen Zugang zum Leben, eine geheime, unentdeckte Tür, einen Stein, ein Blatt, – irgend etwas, das ihn ins Licht und die Kameradschaft der Menschen einließ. Sein Heimsinn war angeborne Leidenschaft. In dem Betrieb und Durcheinander des Haushalts. wirkte seine störrische, selbstbehaltne Stille wohltätig auf die Nerven wie ein Opiat. Mit stillschweigender Autorität und äußerst geschickten Händen machte er allerlei Ausbesserungsarbeiten, leimte an schadhaften Möbeln, flickte durchgebrannten Leitungsdraht, brachte versagende Kontakte in Schuß.
»Der Junge ist ein geborener Elektrotechniker«, sagte Gant. »Ich habe gute Lust, ihn auf eine Schule zu schicken.« Er malte ein romantisches Bild vom Wohlleben des Mister Charles Lidell, des tüchtigen Sohns des Majors, der mit seinen elektrischen Künsten Tausende verdiene und seinen alten Vater erhielt. Er wurde bitter und vorwurfsvoll und ließ sich über sein eignes Verdienst und die Nichtsnutzigkeit seiner Söhne ausführlich vernehmen.
»Andre Söhne sorgen für ihre alten Väter, aber meine? Meine nicht! O Gott, das wird ein harter Tag werden, wenn ich mich einmal nicht mehr selber ernähren kann. Tarkinton hat mir neulich erzählt, daß ihm Rafe, seit er sechzehn ist, fünf Dollar die Woche für das Essen bezahlt. Wäre es möglich, daß einer meiner Söhne so etwas täte? Nein! Ausgeschlossen! Da müßte erst die ganze heiße Hölle einfrieren, und selbst dann täten sie es nicht.«
Daraufhin schilderte er die Härte seiner eignen Jugend, hinausgestoßen – so sagte er – um sein Brot zu verdienen in einem Alter, das je nach seinem Grimm zwischen sechs und elf Jahren schwankte, und verglich sein damaliges Leben mit dem Luxus, in dem seine Söhne schwelgten.
»Keiner von Euch hat je etwas für mich getan!« heulte er. »Aber Alles und Jedes ist für Euch getan worden. Und was für Dank krieg ich von Euch? Habt Ihr überhaupt je daran gedacht, daß der Alte in seinem kalten Laden da oben am Stadtplatz schuftet und schwitzt, damit Ihr Obdach und zu essen habt? Nein! Undankbarer seid Ihr als die wilden Tiere des Walds!« – Ein reumütiger Bissen blieb in Eugens Kehle stecken.
Eugen wurde in die Ethik des Erfolgs eingeweiht. Nicht genug, daß ein Mensch arbeitet – obschon man grundsätzlich arbeiten soll –, viel wichtiger ist, daß man Geld macht, und zwar viel Geld, wenn man »ein großer Erfolg sein« will; aber immerhin mindestens so viel, um sich selbst durchzubringen. Dies war für Gant und Eliza die Grundlage aller Bewertung. Vom Soundso zum Beispiel hätten sie sagen können: »Er ist den Schuß Pulver nicht wert« …, und zu dieser Schätzung hätte dann Eliza, nicht aber Gant, bestimmt hinzugesetzt: »Er hat nicht einen Stutzen Vermögen auf seinem Namen stehn« … und das war gewiß der Gipfel der Infamie.
Eugen wurde nun früh um sechs Uhr dreißig von seinem Vater aus den Federn gejagt. Er ging in den Garten, in den frischen süßen Frühlingsmorgen hinunter, wo er, von Gant unterstützt, zarten Salat, Radieschen, Erdbeeren, Pflaumen, Kirschen, Frühäpfel in kleine Körbchen erntete. Die Körbchen wurden in eine Kiepe verstaut, und Eugen ging in die Nachbarschaft hausieren. Er wurde seine Ware, zu 5 und 10 Cent das Körbchen, leicht vergnüglich los an den Türen von Häusern, in denen es köstlich nach Morgengerichten duftete. Munter kam er mit der leeren Kiepe zum Frühstück heim. Er mochte die Arbeit. Er liebte die taubehauchte Morgenerde, die so gute Dinge hervorbrachte, um seine Taschen romantischerweise mit klingender Münze zu füllen.
Das Geld, das er einnahm, durfte er behalten, Eliza bestand leider darauf, daß er es nicht verplempern, sondern sich ein Bankkonto anlegen solle …, so daß er später damit ein Geschäft anfangen oder ein Los Land dafür kaufen könne. Sie gab ihm eine Sparbüchse, in die er mit unwillfährigen Fingern den größten Teil seiner Einnahmen plumpsen ließ. Es gab ihm eine trübselige Befriedigung, wenn er das Ding von Zeit zu Zeit schüttelte und dabei hungrig an die Köstlichkeiten dachte, die er sich für den klinkernden Schatz im Bauchgewölbe leisten könne. Natürlich gab es ein Schlüsselchen zu der Sparbüchse, aber das behielt Eliza in Verwahrung.
Monate vergingen. Eugens rundlich-stämmiger Kinderkörper reckte und streckte sich gemäß der geheimen Chemie der Wachstumsvorgänge. Er wurde zerbrechlich, dünn, bleich. Er war für sein Alter ungewöhnlich aufgeschossen. Eliza fing an zu meinen, er sei jetzt groß genug, »um ein wenig was zu schaffen«.
Von Donnerstag bis Samstag wurde er nun auf die Straße geschickt, um die Saturday Evening Post zu verkaufen. Lukas hatte die Agentur am Ort. Eugen haßte diese Arbeit mit einem bösen, schwärenden Haß. Krank vor Entsetzen sah er allwöchentlich den Donnerstag nahen.
Lukas war seit seinem zwölften Jahr Inhaber der Agentur. Er genoß im Städtchen den Ruf eines glänzenden Verkäufers. Er setzte seine ganze berstende Energie für diese wahnwitzige, extrovertierte Sache ein; trat mit breitem Grinsen, patziger Betulichkeit, zappeligwitziger Zunge auf. Er lebte vollkommen im Augenblick, hielt nichts in sich geheim, hütete nichts. Er hatte ein instinktives Grauen vor der Einsamkeit.
Er begehrte vor allem die Hochachtung und das Wohlwollen der Leute. Daß ihn die Familie lieben und schätzen solle, war ihm verzweifelt wichtig. Lautes Lob, Herz auf der Hand und auf der Zunge, freizügige Schaustellung von Gefühl … das war wie Luft, Speise und Trank für ihn. Er war es, der unbedingt an der Sodafontäne freihalten mußte, der Eliza verpackte Eiskrem, Gant Zigarren mitbrachte. Und da Gant die Großmut des Sohns vor aller Welt rühmte, nahm das Bedürfnis darnach in Lukas ständig zu. Er richtete ein Standbild von sich selber auf; es hieß: Der Gute Kerl; der Witzige, Unselbstische, von Allen Verlachte, von Allen Geliebte Bursche; der Großherzige Selbstlose LUKAS. Und das war auch ganz die Meinung, die die Leute von ihm hatten.
In den folgenden Jahren geschah es öfter, daß Lukas eine Münze in Eugens leere Tasche warf. Aber, so groß auch Eugens Geldverlegenheit sein mochte, es kam immer zu einer peinlichen, verlegenen Protestszene. Eugen spürte genau den Hunger nach Erkenntlichkeit, der Lukas antrieb. Er hatte das Gefühl, als verschachere er seine freie Meinung an eine krankhafte Geltungsgier.
Bens Großzügigkeit dagegen beschämte ihn nie. Die einfachste Intuition hatte ihm längst gesagt, daß dieser Bruder ihn vielleicht aus Ärger puffen oder wegen der Belästigung verwünschen würde, aber daß er sich eher vor Scham verkriechen würde, als vor sich selber mit seiner Offenhändigkeit dickzutun. Nachträgliche Erwähnung einer verschenkten