Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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wieder fand Eugen seinen Vater in der Werkstatt, über den Bock gebeugt, wie er mit dem gelenken Meißel und dem Holzhammer eine Inschrift in Stein schnitt. Gant trug nie Arbeitskleider, sondern behielt den wohlgebürsteten schwarzen Straßenanzug an. Er hatte den Rock abgelegt und einen langen, gestreiften Schurz vorgebunden. Wenn Eugen ihm bei der Arbeit zusah, spürte er immer, daß sein Vater kein gewöhnlicher Handwerker, sondern ein Meister sei, der für ein paar Minuten gerade letzte Hand an ein Kunstwerk legt.

      Keiner tut es ihm gleich, dachte Eugen und stellte sich vor, wie seines Vaters Werk in überwucherten Friedhöfen ihn und die Zeiten überdauern würde. Er empfand Mitleid mit Krämern, Brauern, Kleidermachern, mit Farbenhändlern wie Harrys, Installateuren wie Max' Vater, deren Arbeit verwitterte, verrostete, verfiel, verdarb, verging. Er bedauerte alle Männer, die dahinscheiden, ohne ihre Namen in Felsen gesprengt, ihre Merkzeichen in Klippen gehauen zu haben. Er forschte im Geist nach einem Material, in dem ein Zeichen, ein Mal, ein Emblem unvergänglich, unvergeßlich, auf ewig unzerstörbar sei.

      Dann wieder fand Eugen seinen Vater, wie er, die Hände auf dem Rücken, mit zornigen Schritten auf und ab ging und drohend vor sich hin murmelte. Eugen verhielt sich dann still und wartete. Nachdem der Alte achtzig- oder neunzigmal die Bahn zwischen den Steinklötzen gemessen hatte, stürmte er jählings zur Tür und ließ unter Wutgeheul eine Jeremiade auf die Fuhrleute los, die vor seiner Schwelle herumlungerten und ihn geärgert hatten.

      »Ihr Niedrigsten unter den Niedrigen! Ihr Schlimmsten unter den Schlimmen! Lausige, verbummelte Taugenichtse Ihr!!! Ihr habt mir den Hunger ins Haus gebracht! Ihr habt mir das bißchen Kundschaft, das mich ins Brot gestellt härte, von der Türe verscheucht! Ich hasse Euch! Meilenweit stinkt Ihr mich an! Ihr verfluchtes, entartetes, hoffnungsloses Gezücht, Ihr würdet die Pfennige stehlen, mit denen man die Lider der Toten beschwert, auf daß ihre Augen nicht zum Himmel starren, so wie Ihr mich bestohlen habt, furchtbare, entsetzliche, blutdürstige Bankerte aus dem Gebirg, die Ihr seid!«

      Er rannte brummend in die Werkstatt zurück, erschien aber einen Augenblick später wieder in der Tür mit gewaltsam beherrschtem Gesicht und verkündigte:

      »Ich warne Euch ein für allemal: wenn ich Euch wieder hier auf der Schwelle meiner Werkstatt treffe, dann lasse ich Euch ins Gefängnis werfen!«

      Die Kutscher und Fuhrleute, gutmütige Neger, machten Gesichter wie Hammel und gingen, mit ihren Peitschen spielend, zu ihren Wagen. »Der Alte ist aber heut aufgebracht, Gottogott. Was er nur hat?«

      Keine Stunde verging, und sie saßen wieder wie Schmeißfliegen auf den Stufen vor Gants Tür. Gant kam heraus, um auszugehen. Sie grüßten ihn freundlich, denn sie mochten ihn gern.

      »'n Tag, Mister Gant.«

      »Guten Tag, Jungens«, sagte er herzhaft, als wäre nichts vorgefallen, und schritt eilig davon.

      Wenn Eugen eintrat und Gant beschäftigt fand, grüßte der Alte nur kurz: »'Tag, Söhnchen!« und meißelte an der Inschrift weiter. Bald aber schliff er die Lettern mit Wasser und Bimsstein ab, zog den Schurz aus, legte den Rock an und sagte zu dem erwartungsvoll herumstehenden Jungen: »Komm mal mit, mich deucht, Du hast Durst!«

      Sie gingen über den Stadtplatz in die kühle, tiefe Drogerie, standen vor der onyxglänzenden Sodafontäne unter den surrenden elektrischen Fächern und tranken eisgekühlte, kohlensaure Getränke … Limonaden, so kalt, daß Eugen Kopfweh davon bekam, oder schäumende Eiskremsoda, die ihm mehrmals mit scharfem köstlichem Kitzel in der Nase aufstieß.

      Eugen verließ dann, um 25 Cent reicher, seinen Erzeuger und brachte den Rest des Nachmittags in der Bibliothek am Stadtplatz zu. Er las nun schnell und leicht. Mit wahrem Heißhunger fiel er über romantische Abenteuerbücher her. Zu Haus verschlang er ganze Stöße von Fünf-Cent-Romanen, die Lukas auf seinem Bücherschaff gesammelt hatte und nie las. Er war ganz verwoben in die wöchentlichen Abenteuer von »Jung-Wild-West«, phantasierte abends im Bett von tugendsam-heldenhaften Beziehungen mit der schönen Arietta, verfolgte Nick Carters Bahnen durch das Labyrinth weltstädtischer Verbrecherviertel, genoß den Triumphzug der Athleten Frank Merriwell und Fred Fearnot und schwelgte im Ruhm nichtendenwollender Siege der Freiheitskämpfer von 1779 über die britische Armee der verhaßten Rotfräcke.

      In den ersten Jahren seiner Lesewut interessierte ihn vor allem materieller Erfolg. Aus der Liebesgeschichte machte er sich nicht viel. Die sündenreinen Frauengestalten der Knabenbücher, mit Sägmehl gefüllte Stoffpuppen, die tanzende Augen, langes Haar und tugendhafte Meinungen haben, genügten ihm vollständig. Sie waren der Lohn der Tapferkeit, der Preis, der im letzten Augenblick durch Degenstoß oder Schuß den Händen des Bösewichts entrissen und dann zusammen mit einem erklecklichen Einkommen genossen wird. Aus der Stadtbibliothek verschlang er Jugendschriften zu Dutzenden, »Mut und Glück«, »Schwimm oder geh unter«, »Schneid«, »Jakobs Mündel«, »Der Knabe aus dem Armenhaus«, und wie sie alle hießen. Er weidete sich in Gedanken an den schweren Summen, die den Helden dieser Werke stets zuteil werden, ein Motiv in der Knabenlektüre übrigens, das noch nicht genügend erkannt ist; – … Eine Eisenbahnschiene ist los, man signalisiert dem Zug, dem Lebensretter winkt reicher Lohn … Eine banknotengespickte Brieftasche wird gefunden und dem Eigentümer zugestellt … Der Wert wertlos geglaubter Aktien wird aufgedeckt … Ein reicher Gönner taucht zufällig auf und hilft dem armen Erfinder … – alle diese Arten zu Vermögen zu kommen, verhafteten sich in Eugen zu Wunschbildern.

      Mit dergleichen Geldsachen befaßte er sich bis ins kleinste. Ungeheuer wichtig war es, den Wert jenes Besitztums zu wissen, das der schurkische Vormund an sich gebracht hatte! Eugen rechnete sich die Jahres-, Monats-, Tagesrente des Kapitals aus, stellte sich vor, was er sich dafür kaufen würde. In seinen eignen Ansprüchen war er keineswegs bescheiden. Unter einer Viertelmillion Dollar, dachte er, könne er kaum anständig auskommen. Das Einkommen von 100 000 Dollar, zu 6 Prozent verzinst, hielt er für kärglich. Wenn lumpige 20 000 Dollar als Lohn der Tugend erwähnt wurden, war er enttäuscht und erbittert.

      Er gründete einen Lesezirkel mit zwei Schulkameraden, borgte und lieh Bücher von und an Max Isaacs und an den Metzgersohn »Nosey« Schmidt, der die ganze Abenteurerserie »The Rover Boys« besaß. Er plünderte Gants Büchergestell und las Übersetzungen der Ilias und der Odyssee zur gleichen Zeit und aus denselben Gründen wie »Diamond Dick«, »Buffalo Bill« und die langweilig-biedern Schinken von Alger. Dann, als mit den Jahren das Tasten nach erotischen Reizbildern deutlicher wurde, suchte er leidenschaftlich in romantischen Legenden nach jenen heißblütigen Frauen, deren Atem wie Honig ist, deren sanfter Aufblick wie Feuer ins Herz des Helden fährt.

      Auf dieser Nachsuche fand er sich unentrinnbar verstrickt in das groteske Muster jener puritanischen Romanschreiberei, die die dionysische Glücksal den züchtigen Jüngern John Calvins zuerkennt, die gleichzeitig Wollust stöhnt und Gebete aufsagt, die brennende Altäre vor dem Pflaumenbaum errichtet, die die heidnische Hetäre mit der heilig-gemachten Hausfrau überbietet.

      Aha! dachte er, da kann ich meine Torte aufessen und sie doch noch haben – aber eine Hochzeitstorte muß es sein. Ganz ergeben begehrte er, ein guter Christenmann zu werden; er würde die Akkolade seiner Liebe nur einer Jungfrau schenken; er würde unbedingt nur ein reines Weib ehelichen, dies würde ja der Lust keinen Abbruch tun – im Gegenteil! – er sah es ja aus den Büchern, daß die guten Christinnen körperlich bei weitem die anziehendsten Frauen sind.

      Er hatte da unwissentlich eine Wahrheit herausgefunden, die den meisten Wollustsuchern erst sehr viel später nach mannigfacher Plagerei klar, wird: nämlich, daß die ganz streng konventionalisierten Lebensumstände dem Daseinsgenuß am günstigsten sind. Er bezeigte eine leidenschaftliche Anhänglichkeit für die Gesetze der Gemeinde; all die gefilterten Ablagerungen des sonntäglichen Kindergottesdienstes bei den Presbyterianern wirkten sich aus.

      Er versetzte sich in tausend Romanfiguren; er lebte im Fleisch und Blut seiner Lieblingshelden und trug ihre Standarten aus der Welt der Bücher hinaus auf den grauen Plan des Alltags. So schaute er sich selbst als den streitbaren jungen Lizentiaten, der gegen die himmelschreienden Zustände in den Elendsvierteln Krieg führt, bei den begüterten Gemeindevorständen aber keinen Anklang findet, bis ihm in letzter Stunde die Tochter des Millionärs, dem die Mietskasernen gehören, zu Hilfe kommt, so daß er schließlich den