Von Zeit zu Zeit schnaufte ein hochgebauter Cadillac an Dixieland vorbei bergan. Eugen sandte ein Stoßgebet zum Himmel, wenn der pustende Motor zu versagen drohte. Er wünschte Erfolg! Der das Auto steuerte, war Jim Sawyer, ein junges Blut. Er kam, um Miss Cutler, die Schöne aus Pittsburg, abzuholen. Er öffnete den Schlag in den roten, fetten, gepolsterten Bauch des Gefährts. Die beiden stiegen ein.
Manchmal, wenn Eliza in der Früh ohne Dienstboten dastand, wurde er auf Nachsuche ins Negerviertel geschickt. Er trieb planlos durch das rachitische, fötidstinkende Labyrinth baufälliger Bretterbuden, lernte in Elendskellern und Verschlagen, in schmutzigen Küchen, in luftdicht versiegelten, warmmuffigen Stuben die Schwarzen kennen, die wilde, tierhafte Anmut ihrer räkelnden Leiber, ihr lippiges kindhaftes Lachen, ihren Körpergeruch nach Tropendschungel mit dem Geruch von Speiseabfällen, Kot, kochender Wäsche, brutzelndem Fett gemischt.
– Ob man vielleicht Arbeit suche? – Wer ihn schicke? – Seine Mutter, Mistress Eliza Gant.
Stillschweigen. Alsdann der Bescheid, weiter oben an der Straße bei »Missus Cawpening« wohne ein Mädchen, das suche Arbeit. Er möge dort fragen.
Eliza paßte mit Falkenaugen auf, daß sie nicht bestohlen wurde. Eines Tags schob sie in Begleitung eines Detektivs ins Negerviertel und durchsuchte die Bude eines Mädchens, das aus ihrem Dienst davongelaufen war. Sie fand, was sie vermißt hatte: Bettzeug, Handtücher, Löffel. Das schwarze Geschöpf bekam zwei Jahre Zuchthaus.
Eliza liebte den Apparat des Gesetzes, den Geruch und die Spannung einer Gerichtsverhandlung. Wenn es nur irgend anging, klagte sie. Es machte ihr Spaß, Leute vor den Kadi zu zerren; es machte ihr Spaß, angeklagt zu werden. Sie verlor nie einen Prozeß.
Wenn ihre Hausgäste nicht zahlten, beschlagnahmte sie triumphierend die Koffer. Besondren Spaß machte es ihr, einen Ausreißer in letzter Minute zu erwischen. Sie erschien in Begleitung gehorsamer Konstabler am Bahnhof, von der gellenden Gassenbrut umringt.
Eugen schämte sich wegen Dixieland. Und wiederum getraute er sich nicht, seine Scham offen einzugestehn. Genau wie in seiner Arbeit als Zeitungsjunge, kam er sich auch hier gezeichnet, ins Netz verstrickt, in der Falle gefangen vor. Er fand sein Leben im Boardinghouse seiner Mutter unanständig. Er liebte die Würde des Heims, den privaten Charakter des Wohnens. Er haßte es, daß die Tür zu den Vierwänden, die ihn vor den Mitmenschen schirmen sollten, gegen Entgelt offen stand. Er verstand kaum, spürte aber deutlich die Vergeudung und Wirrsal, die blinde Grausamkeit im Leben seiner Angehörigen. Sein Geist war auf die Folter gespannt. Er ward täglich tiefer überzeugt, daß ihr Leben, gemessen an seinem Wunschbild eines einfachen ruhigen Behagens, nicht hoffnungsloser verkrampft und verstümmelt, entstellt und verkehrt hätte sein können, wenn sie sich absichtlich bemüht hätten, es zu zerrütten und zu verzerren. Er erstickte vor unterdrücktem Zorn … und dachte an Elizas träge Sprechweise, die endlosen Reminiszenzen, die ständig geschürzte Lippe, die ihn weiß vor Wut, ja fast wahnsinnig machte.
Er hatte längst durchschaut, daß ihre Armut, das Drohen mit der Bettelsuppe, die düstern Anspielungen auf das Begräbnis auf dem Armenweg in die blinde Mythologie der Geldsucht gehörten. Ärger über ihre Habgier gloste in ihm wie ein versteckter Brand. In Dixieland gab es überhaupt keinen Winkel, der der Familie heilig war, kein Gelaß, das sie für sich allein bewohnten, keinen Stuhl, wo man vor der Zudringlichkeit der Hausgäste sicher war.
Wenn sich das Haus füllte, zogen sie – Stufe um Stufe sich mit dem Schäbigeren begnügend – von einem Zimmer ins andre. Er spürte, daß ihnen das schaden, daß es sie grob, unempfindlich machen würde. Schon damals glaubte er leidenschaftlich an gutes Essen, anständiges Wohnen, selbstverständliche Bequemlichkeit. Er spürte, daß ein zivilisierter Mensch bei diesen Dingen den Anfang machen müsse. Er wußte, daß der Niedergang des Geistes, wo auch immer er in der Geschichte eintrat, nicht auf gute Küche und zuverlässige Wasserleitung zurückzuführen sei.
Im Hochsommer, wenn das Haus vollbesetzt war, mußte er oft warten, bis die Gäste gespeist hatten, ehe sich ein Plätzchen zum Essen für ihn fand. Mißmutig ging er unter der hochgepfropften Hinterveranda auf und ab oder zog sich grollend in eines der muffigen fensterlosen Bodengelasse zurück, die Eliza gelegentlich an Negerinnen vermietete, wenn diese keine Schlafstatt außer dem Hause hatten.
Er lernte den kleinlichen Kastengeist des Dorfs kennen.
Seit Jahren war er gewohnt, am Sonntag gebadet, gebürstet, frische Wäsche am gesalbten Leib, durch die angenehm belebten Straßen zum presbyterianischen Kindergottesdienst zu gehen. Er war bereits der Obhut der frommen Jungfrauen entwachsen, die seinen naiven Glauben im Katechismus, in der Güte Gottes und den Grundrissen der Himmelsarchitektur unterwiesen hatten. Das Fünfcentstück, das er früher nur ungern im Gedanken an Ingwerbräu und Plätzchen abgeliefert hatte, gab er nun leichten Herzens hin, denn er hatte genug Geld für die Sodafontäne.
Hochgemut kam er zur Sonntagsschule, um vor dem Altar zu dienen. Die Sonntagsschüler versammelten sich im Gemeindesaal. Der Superintendent, ein hagerer Schotte mit gelblicher Haut und einem angegrauten Bart, Dentist von Beruf, hielt die Ansprache. Er las die Bibelstelle oder das Gleichnis, das an dem betreffenden Sonntag durchgenommen wurde, kommentierte mit cäsarischer Trockenheit und Übersicht, gab den Dienst dann an den ersten Helfer ab, einen glattrasierten, bebrillten Herrn mit hohem, weißem Stehkragen und einem Woodrow-Wilson-Gesicht, der ebenfalls gebürtiger Schotte war. Der Helfer lächelte die Kindergemeinde mit kalter Liebenswürdigkeit an. Er führte sie Vers um Vers durch den Gesang. Eine feiste Jungfrau behämmerte das Klavier, das wie Espenlaub unter den Schlägen erzitterte.
Eugen liebte den Klang der kristallhellen, von den markigen Tönen der Helfer und Helferinnen unterstützten Kinderstimmen. Wenn die Kollekte für die Innere Mission war, sangen sie stets:
»Wirf eine Rettungsleine aus,
Jemand ertrinkt auf See …«
Ein andres Lied war:
»Wollen wir uns am Strom versammeln,
Am Jordan, dem schönen Strom …«
Das hatte er sehr gern. Ganz besonders liebte er das edle Ungestüm von »Vorwärts, Christi Streiter! …«
Neben dem Gemeindesaal lagen die kleinen Klassenzimmer der Sonntagsschule. Sobald der Choral verklungen war, zogen sich die Gruppen dorthin zurück. Eugen ging nun in eine Klasse, in der nur Knaben waren. Sein Lehrer war ein bleicher junger Mann, dünn and gebeugt, der von Beruf Sekretär des »Christlichen Vereins Junger Männer« war. Er war schwindsüchtig. Die andern Jungen bewunderten ihn, weil er sich früher als Baseball- und Basketballspieler rühmlich ausgezeichnet hatte. Er sprach mit einer trauervollen, zuckrigen, winselnden Stimme. Er war von einer bedrückenden Christushaftigkeit. Er sprach vertraulich zu den Knaben über die Bibelstelle oder das Gleichnis des Sonntags, prägte ihnen mahnend ein, was sie daraus fürs tägliche Leben an Gehorsam und Liebe zu Eltern und Freunden, an Pflichttreue und Ritterlichkeit und Nächstenliebe lernen könnten. Und er wiederholte stets, wenn die Jungen je in Zweifel über die Richtigkeit ihres Wandels kämen, dann brauchten sie sich nur zu fragen, was unser Herr Jesus Christus dazu sagen würde. Er sprach sehr oft von Jesus, es klang melancholisch und enttäuscht. Eugen verspürte dann immer eine leichte Übelkeit; es war ihm, als ob ihn etwas mit einer weichen, behaarten, nassen Zunge abschlecke.
Er war nervös und zurückhaltend. Die anderen Jungen kannten einander sehr gut. Ihre Elternhäuser standen an der Montgomery Avenue oder dort in der Nachbarschaft, im vornehmsten und modernsten Viertel der Stadt. Manchmal sagte einer schmunzelnd zu ihm: »'ne Saturday Evening Post gefällig, Mister?«
Da