Ben jedoch ließ sich durch kein Geschwätz einschüchtern. Er durchschaute die Heuchelei. Sein Hohn war bitter. Hinter seinen grauen Augen war etwas Sonderbares. Unbestechliches, Unzweideutiges; das machte ihnen angst. Außerdem hatte er jene Form der Freiheit errungen, die sie unbedingt anerkannten, nämlich wirtschaftliche Unabhängigkeit. Auf demokratische Prätensionen antwortete er mit einem fast lautlosen, verächtlichen Lachen, schnickte den Kopf seitwärts in die Höhe und sprach zu dem dunkeln, satirischen Engel, dem er all seinen Spott anvertraute:
»Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!«
Eines Tages stand er gerade rauchend vorm Kaminfeuer, als Eugen dreckig und speckig, die schwere Zeitungstasche umgehängt, sich auf die Straße trollen wollte.
»Geh mal her, kleiner Drecksack!« befahl er. »Wann hast Du eigentlich Deine Pfoten das letztemal gewaschen?« Finster blickte er den Kleinen an, hob die Hand, als ob er ihm eine auswischen wollte, endete aber damit, daß er statt dessen mit seinen geschickten knochigen Fingern Eugens Halsbinde zurechtknüpfte.
»Um Gottes willen, Mama«, brach er plötzlich gereizt los, »kannst Du ihm nicht mal ein sauberes Hemd geben? Alle vier oder fünf Wochen sollte er doch wenigstens eins haben!«
»Was soll das heißen?« Elizas Kopf schnellte komisch vom Stopfkorb auf. »Er hat erst vorigen Dienstag eins gekriegt.«
»Kleiner Lump!« knurrte er und sah Eugen an. Sein Blick war wild vor Schmerz. »Mama! Um Gottes willen, warum schickst Du ihn nicht zum Barbier, daß er ihm diese lausigen Locken abschneidet? Ich zahl's gern, wenn's Dir zu teuer ist!«
Sie war verletzt, schürzte die Lippe und stopfte verbissen weiter. Eugen sah Ben dumpf-dankbar an und ging. Ben blieb vorm Feuer stehen und rauchte lange Lungenzüge.
»Was hast Du eigentlich mit Deinem Jüngsten vor, Mama?« fragte er nach einer Weile mit harter, ruhiger Stimme.
»Was soll das heißen?!«
»Hältst Du's wirklich für richtig, wenn er unterm Gassengesindel verkommt?«
»Was soll das heißen?! Ich versteh überhaupt nicht, was Du damit sagen willst«, behauptete sie ungeduldig, »Es ist keine Schande, wenn ein Junge ein wenig ehrliche Arbeit leistet, kein Mensch glaubt das.«
Ben wandte sich an seinen dunklen Engel: »Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!«
Eliza schürzte die Lippe.
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Eliza:
»Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Ich kann nicht einsehn, wieso das uns was ausmacht. Tiefer fallen können wir ja nicht.«
»Ich halte mich für so gut wie andre Leute«, behauptete sie mit Würde. »Ich trage meinen Kopf hoch vor jedermann, mit dem ich zusammenkomme.«
»Ach Du mein Gott!« sagte er zu seinem Engel. Und dann zu Eliza: »Du kommst eben mit niemand zusammen. Ich bemerke nicht, daß Deine feinen Herren Brüder und ihre Frauen mit Dir verkehren.«
Das tat weh, denn es war wahr. Sie schürzte schnell die Lippe.
»Nein, Mama«, sagte er nach einer Pause. »Du und der Alte, Ihr habt Euch einen Dreck drum geschert, was wir Kinder taten, solang Ihr 'nen Nickel dabei sparen konntet.«
»Was soll das heißen?! Ich versteh überhaupt nicht, was Du damit sagen willst«, antwortete sie. »Du tust, als ob wir reiche Leute wären! Aber armen Teufeln bleibt halt nichts andres übrig, als sich nach der Decke zu strecken.«
»Ach Du mein Gott!« Ben lachte bitter. »Du und der Alte, Ihr tut so, als ob Ihr betteln gehn müßtet, dabei habt Ihr 'nen ganzen Strumpf voll Geld.«
»Was soll das heißen?!« fragte sie geärgert.
»Nein«, sagte er nach einer Weile launisch. Er liebte es, Feststellungen mit einem Nein zu beginnen. »In dieser Stadt leben Leute, die haben nicht den fünften Teil von dem, was Ihr habt. Und sie leben doppelt so anständig wie wir. Wir andern Kinder haben ja nie was gehabt von Euch, aber ich seh nicht gern mit an, daß aus dem Kleinen ein Stromer wird.«
Eine lange Stille trat ein. Eliza, dem Weinen nah, schürzte die Lippe, schwieg, stopfte.
»Ich hätte nie gedacht«, sagte sie dann gekränkt, »daß einer meiner Söhne je so zu mir sprechen würde. Hüte Dich!« – sie drohte mit dem Finger – »der Tag der Abrechnung kommt. Du kannst Dich drauf verlassen. Dann wird es Dir dreimal zurückgezahlt werden, daß Du so unnatürlich« – hier sank ihre Stimme zu tränenersticktem Gewisper – »so unnatürlich an mir gehandelt hast.« Sie flennte.
»Ach Du mein Gott!« Ben reckte sein bittres, hageres, graues, knolliges Gesicht zu dem dunklen lauschenden Engel. »Nun hör Dir das an, bitte!«
XI
Eliza sah Altamont nicht als lebendiges, plastisch-perspektivisches Bild; sie sah es als Muster auf einem ungeheuern Blaupausplan. Sie kannte die Geschichte jedes nennenswerten Grundstücks; sie wußte wer es von wem für wieviel gekauft hatte; sie wußte, wem es 1891 gehörte, sie wußte, ob und für wieviel es nun auf dem Markt zu haben war. Sie kannte die Verkehrsstatistik, sie wußte, an welcher Ecke die meisten Leute täglich oder stündlich vorübergingen. Sie spürte die Wachstumsschmerzen der jahraus, jahrein größer werdenden Stadt. Sie wußte die Richtung der zukünftigen Ausdehnung richtig einzuschätzen. Sie verstand sich auf Entfernungen. Sie erkannte auf den ersten Blick, wo die Zufahrt zu einem wichtigen Knotenpunkt einen dummen Umweg machte, zog im Geist eine gerade Linie quer durch Grundstücke, Gärten und Häuser und erklärte:
»Hier wird eines Tages der Durchbruch kommen.«
Ihr Verständnis für den Handel mit Immobilien war klar und roh; es betraf das Praktische und verstrickte sich nie in Technikalitäten und Probleme. Es war außerordentlich wegen seiner Unmittelbarkeit. Ihr Instinkt war: dort zu kaufen, wo die Leute hinziehen würden, und zwar, solange die Lose billig waren; Sackgassen zu meiden; die Finger von allen abseitigen Spekulationen zu lassen; ihr Geld in Objekte zu stecken, die in der Richtung der Hauptverkehrsadern lagen.
So kam es, daß sie Dixieland erwog. Es lag fünf Minuten vom Stadtplatz an einer leicht abschüssigen Straße, an der kleine Einfamilienheime des Mittelstands und ein paar Boardinghouses standen.
Dixieland war ein dreistöckiger, vielgiebliger, schmutzig-gelbgestrichener, billig gebauter Holzkasten ohne klaren Grundriß. Es hatte achtzehn oder zwanzig Räume. Es hatte einen kleinen, sauberen grünen Vorgarten; an der Straße stand eine Reihe junger Ahornbäume mit tiefhängenden Kronen. Der Hintergarten reichte sechzig Meter den Berghang hinunter. Die Straßenfront war ungefähr vierzig Meter breit. Eliza richtete das Auge auf den Stadtplatz und sagte:
»Hier wird eines Tages der Durchbruch kommen.«
Das Haus war nicht unterkellert. Die Seite gegen den Hang zu und die hintere Veranda standen auf Säulen von nassem, verwitterndem Backstein. Im Winter heulte der Wind höllisch unter der Bodenverschalung. Es gab eine unzulängliche Heißluftheizung. Wenn eingeschürt wurde, strömte diese Vorrichtung eine trockne enervierende Hitze ins Erdgeschoß und puffte ein gasartiges kühles Etwas in die oberen Räume.
Der Platz stand zum Verkauf. Sein Besitzer war ein Gentleman in mittleren Jahren mit einem Pferdekopf, der Reverend Wellington Hodge. Er war unter günstigsten Auspizien als Methodistenprediger nach Altamont gekommen. Aber als er begann, neben Jehovah, dem Herrn der Heerscharen, auch John Barleycorn, dem Geist im Whisky, inbrünstig zu dienen, fing seine Trübsal an. Seine Karriere als Evangelist kam zu einem jähen Abschluß in einer Winternacht, als die Straßen unterm Schneefall verstummten. Wellington, lediglich mit seinem wollnen Unterzeug bekleidet, machte um zwei Uhr nachts einen wilden Ausbruch aus Dixieland. Ein kühner Wettlauf führte den Streiter Christi atemlos aber siegreich vors Portal des Hauptpostamts, wo er das Reich Gottes und die Austreibung aller Teufel verkündigte. Dann hatte er, von seiner Frau unterstützt, ein Boardinghouse aufgemacht, sich schlecht und recht durchgeschlagen. Nun war er verbraucht, entehrt,