Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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kam es, daß der brütende Geist des noch nicht Zehnjährigen sich in das verwickelte Problem von Augenschein und Wahrheit verstrickte. Eugen fand weder Wort noch Antwort vor dem Rätsel, das ihn verdutzt und wütend machte. Er sah, daß das, was den Stempel der Tugend trug, ihm Abscheu erweckte, daß das, was für edel galt, ihm niedrig und widerlich vorkam. Mit acht Jahren schon biß sich sein Verstand mit dem quälenden Paradox des Ichsüchtig-Selbstlosen herum, jener Niedrigkeit, die als Vornehmheit auftritt, jener Schäbigkeit, die großmütig tut. Er war außerstande, die tiefen Quellen des menschlichen Wunschwollens, das durch tugendhaftes Gehaben auf die öffentliche Anerkennung abzielt, aufzudecken. Und so machte ihn die Überzeugung der eignen Mangelhaftigkeit elend.

      Rücksichtslose Ehrlichkeit beherrschte ihn ganz, wo immer sein Herz und sein Haupt wirklich beteiligt waren. So kam es, daß er einmal anläßlich der Beerdigung eines entfernten Verwandten oder Familienfreundes, den er nie besonders gern gemocht hatte, sich bitter schämte, weil seine Miene während der Grabrede des Geistlichen nichtempfundnen Kummer geheuchelt hatte. Folglich gebärdete er sich unfeierlich, schlug die Beine übereinander, sah gelangweilt zur Decke, lächelte zum Fenster hinaus, bis er es erreicht hatte, daß die Leute ihn mißbilligend ansahen. Dies gab ihm eine tiefe Befriedigung; er hatte an Achtung verloren, wußte aber, daß er sein wahres Ich zum Ausdruck gebracht hatte.

      Lukas jedoch gedieh prächtig bei diesem albernen Mummenschanz. Jedem So-Tun von Zuneigung, Kummer, Mitleid, Wohlwollen, Bescheidenheit verlieh er gewichtigen Nachdruck. Er unterstrich dick, trug schwer auf, und das blöde Auge der Welt hielt die Schaustellung für echt. In ihm war nichts, das ihn zügelte, er lebte restlos nach außen. Er hatte den Heißhunger des Herdentriebs, die gierige Leidenschaft, sich einzusetzen.

      In der Familie genügte ein grobes Anhängeschild zur Bezeichnung der Unterschiede. Ben hieß einfach »der Stille«, Lukas ging und stand als der »Selbstlose oder Großherzige«, Eugen wurde »der Gelehrte« getauft. Das diente. Lukas der Großherzige hatte in seinem Leben nie die Sammlung aufgebracht, eine Stunde zu lesen oder nachzudenken. Lukas der Selbstlose hatte jene Gebärde der Zappeligen an sich, als wolle er sich ein Bein mit dem andern durchsägen. Lukas der Großherzige war ein Stammler und Stotterer. Lukas der Selbstlose hatte die Gewohnheit, nach dem Wort, das ihm auf der Zunge lag und nicht herauskommen wollte, zu pfeifen. Großherzig und selbstlos, wie dieser Lukas war, war er über die an Abstraktionen verlorne Brüterei Eugens aufgebracht.

      »Vorwärts, Du Tagträumer!« stotterte er ironisch. »Wir m-m-müssen auf die Straße. Wer zuerst kommt, m-m-mahlt zuerst! W-w-w-wer am frühesten aufsteht, der schöpft den R-r-rahm ab! Der Vo-vo-vogel, der da-da-da ist, der erwischt den Wurm!«

      Obschon »Tagträumer« ein völlig meinungsloses Steinchen aus dem Mosaik der großherzigen Redeweise war, erschrak Eugen; er hatte Angst, seine sorgsam gehütete Geheimwelt sei entdeckt, der Lächerlichkeit preisgegeben. Der ältere Bruder verwand es nie, daß seine Leistungen in der Schule höchst erbärmlich gewesen waren. So hatte er sich leicht davon überzeugt, daß jener Hang zum Denken und Brüten, den er in der geheimnisvollen Macht der Sprache über Eugen erspürte, nur eine besondere Form von Faulheit sei. Die einzigen Formen der Arbeit, die er anerkannte, waren anstrengende Betulichkeit und schweißtreibendes Zungengeklapper. Außerdem hielt er Eugens Neigung zur Innerlichkeit für Nachgiebigkeit, Selbstsucht, Pflichtversäumnis gegen den Geist der Familie. Er war fest entschlossen, den Thron der Tüchtigkeit mit niemand zu teilen.

      Stumpfsinnig, aber eindeutig wurde zu Eugens Kenntnis gebracht, daß so mancher andre Junge in seinem Alter nicht nur sich selber versorge, sondern auch noch seine gebrechlichen Eltern in Luxus erhielte, nämlich dank seiner Einkünfte als Bankpräsident, Kongreßmitglied oder Oberingenieur. Tatsächlich, es gab keine Anspielung, keine Übertreibung, mit der Gant ihn verschont hätte. Er hatte längst herausgefunden, daß in seinem Jüngsten ein Instrument mit Millionen Noten bebte, zitterte und schwang. Es tat ihm wohl, das Kind zu quälen. So sagte er, etwa bei Tisch, während er Eugen eine mächtige Portion vorlegte:

      »Ich will Dir was sagen, es gibt wenige Jungen, die haben, was Du hast. Was aber wird aus Dir werden, wenn Dein alter Vater gestorben und verdorben ist? Hm?« Er wurde sentimental und malte ein gräßliches Bild, wie er bald – ja bald! – in der Erde liegen und verwesen würde. »Ja, dann wirst Du an den Alten denken, mein Jungchen! Man entbehrt das Wasser erst, wenn der Brunnen leer ist.« Mit offenbarem Vergnügen beobachtete er dann, wie Eugens Kehle konvulsivisch zuckte, wie der Junge die Tränen wegzublinzeln versuchte, wie sein Gesicht blaß und starr wurde vor Qual.

      »Aber, aber!« begehrte Eliza auf, obschon auch sie das Schauspiel ergötzte. »Du solltest dem Kind wahrhaftig nicht so stark zusetzen.«

      Bei solcher Gelegenheit brachte Gant mit trauriger Stimme gern den »lütten Jimmy« aufs Tapet. Das war ein kleiner Junge ohne Beine: er wohnte in der Nähe des Vergnügungsparks am Fluß: Gant hatte ihn Eugen öfter gezeigt. Gant hatte um den bedauernswerten Krüppel eine pathetische Fabel von Armut und Waisenschaft gewoben; sie wurde verzweifelte Wirklichkeit für Eugen. Als er sechs Jahre alt war, hatte ihm Gant unvorsichtigerweise einen Pony zu Weihnachten versprochen. Das Fest kam näher. Gant fing an, rührende Geschichten vom »lütten Jimmy« zu erzählen, um Eugen klar zu machen, daß er es tausendmal-tausendmal besser hätte als dieser arme Kerl. Nach einem mächtigen inneren Kampf hatte Eugen, von Gant gedrängt, in einer gekritzelten Botschaft an den Herrn Nikolaus von Elfland zugunsten des »lütten Jimmy« auf den Pony verzichtet. Eugen vergaß es nie. Selbst als er längst erwachsen war, fiel ihm die Sache wieder ein, dann freilich dachte er ohne Groll und Gehässigkeit daran, aber mit einem scharfen Schmerz über den blinden Mißbrauch, die bedenkenlose Unehrlichkeit, die blöde Meineidigkeit, den gemeinen, lähmenden Betrug.

      Lukas plapperte wie ein Papagei die Reden des Alten nach, aber ernst und witzlos, ganz ohne Gants Humor und Schikane, aber mit derselben Sentimentalität. Er lebte in einer Jahrmarktbude mit plumpen bunten Symbolen; sie hießen: »Vater«, »Mutter«, »Heim«, »Familie«, »Großherzigkeit«, »Ehre«, »Selbstlosigkeit«. Sie waren aus Zucker und Zuckerdicksaft gemacht, von einem tränenden Zuckersirup übergossen.

      »Wenigstens ein Junge, der was taugt«, sagten die Nachbarn.

      »Entzückender Kerl«, sagten die Damen, die von seinem Gestotter, seiner Gutmütigkeit, seiner aufmerksamen Ergebenheit begeistert waren.

      » Der Bursche ist dahinter her! Er wird es zu was bringen«, sagten alle Männer im Städtchen.

      Und just als der Bursche, der lächelnd »dahinter her ist«, der »es« lächelnd »zu etwas bringen wird«, wollte Lukas erkannt sein. Wie Evangelien las er die Rundschreiben, die die Curtis Publishing Company an ihre Agenten sandte. Er beherzigte die Ratschläge und gewöhnte sich die Posen an, die das gute Geschäft fördern sollten, die einzige richtige Methode der »Annäherung«, die stillschweigend-überzeugende Art, die Wochenschrift aus der Tasche zu ziehen und die lebhafte, leseappetitanregende Anpreisung des Inhalts. Die Zirkulare sagten nämlich, daß »der gute Verkäufer seine Ware in- und auswendig kennt«. Lukas vermied jedoch die inwendige Kenntnis und ersetzte sie mit frechempfundenem Geschwätz. Im übrigen hielt er sich genau an Axiome wie »Der gute Verkäufer nimmt nie ein Nein zur Antwort«. »Der gute Verkäufer gibt nie einen prospektiven Käufer frei«, »Der gute Verkäufer stellt sich stets auf die Psychologie des Kunden ein.« In wörtlicher Befolgung solcher Weisheit, durch seine bodenlose Dreistigkeit unterstützt, gab Lukas eine der denkbar tollsten Schaustellungen für den Verkauf von gedruckter Ware.

      Er ging neben einem arglosen Straßengänger her, nahm Gleichschritt auf, entfaltete die Zeitung und hielt sie dem »prospektiven Abnehmer« unter die Nase. Dazu ließ er mit irrsinniger Geschwindigkeit ein wüstes Redegeprassel los, das von gestotterten Clownspäßen und Schmeicheleien wimmelte.

      »Jawoll der Herr, jawoll der Herr!! Die Saturday Evening Post, letzte Nummer! Fünf Cent, nur ein Nickel! Auflage zwei Mi-mi-mi-millionen, der Herr! 86 Seiten voll Di-di-di-dichtung und Wahrheit, ganz zu schweigen vom Anzeigenteil. We-we-wenn Sie n-n-nicht lesen können, dann sind für Sie die B-b-bilder allein schon das Geld wert. Auf Seite 13 haben wir diesmal einen feinen Artikel von Isaac F. Markusson, dem berühmten Reiseschriftsteller. Auf Seite vie-vie-vierzig eine Kurzgeschichte von Irvin