Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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beherrschen, als Rechtsanwalt Gerichtshöfe mit dem Zauber seiner Beredsamkeit bannen … aber stets sah er sich von seinen Triumphen nach Altamont heimkehren, den Lorbeer der Welt auf der bescheidnen Braue.

      Die Welt jenseits der dunstumwobenen Bergketten war ein phantastisches Feenland aus Hall und Strahlung, mit Fruchtgärten von Genien bewacht, weindunklen Meeren, schläfrigen Traumstädten … ein Land, aus dem er kühn mit goldnem Raub ins wahre Herz des Lebens, nach Altamont, zurückkehrte.

      Er spürte den köstlichen Kitzel der Verführung und hielt dennoch unter den lockendsten Versuchungen treu an seiner Ehre fest. Da war die schöne, gepflegte Gattin des reichen Mannes, die der brutale Gatte vor aller Öffentlichkeit beleidigt, die der brave Bruce-Eugen ritterlich verteidigt hatte. Nun schmolz sie vor ihm hin mit der reinen Glut ihres einsamen Frauenherzens, erzählte ihm ihr trauervolles Leben. Sie saßen an der reichgedeckten, weinbesetzten, kerzenerleuchteten intimen Tafel des Hauses. Nun streckte sie sehnsüchtig die Arme nach ihm aus und wollte ihm um den Hals fallen … er aber löste sich keusch aus der Umarmung. Da war die blonde Prinzessin aus dem fabelhaften Balkan, die Kaiserin der Spielzeugdörfer und der Puppenhusaren. In einer großen Szene an der Landesgrenze lehnte er edelmütig ihren opferwilligen Thronverzicht zu seinen Gunsten ab und trank ein ewiges Lebewohl von ihren Lippen. Aber er heiratete sie dann doch und machte sie zur Bürgerin seines freien Vaterlandes, später nämlich, als eine Revolution in ihrer Heimat ihren Stand dem seinen gleichgemacht hatte.

      Aber wenn er sich in alte Mythen vertiefte, in die Welt, wo kein Makel die Willkür und freie Taten trifft, dann gab er sich auf goldnen Wiesen und in grünleuchtenden Hainen ganz in heidnischer Liebe hin. Oh! und König sein und eine breithüftige Jüdin auf dem Dach ihres Hauses baden sehn und sie besitzen! Oh! feudaler Baron sein, auf einer Burg mit Zinnen und Zinken, und das alte Herrenrecht mit den schönsten der untertänigen Weiber und Buhldirnen ausüben, beim flackernden Lichtschein große Scheite im Kamin, während der Sturm wild um die Mauern braust!

      Öfter auch, wenn die Gewalt seiner Wünsche den Moralpanzer zersprengte, erging er sich in kupplerischen Schulbubenvorstellungen und träumte sich in eine Romanze mit einer hübschen Lehrerin. Seine Klassenlehrerin im vierten Schuljahr war eine junge, unerfahrene, aber wohlgebaute Person mit karottenfarbnem Haar und einem vollen, sorglosen Lachen.

      Eugen träumte, er sei bereits zum Alter der Reife erwachsen. Ein starker, heldenhaft glänzender Bursch war aus ihm geworden, wahrhaftig, der einzig saubere Bursch unter den krummzähnigen, wuschelhaarigen, verlausten Schülern einer hinterwäldlerischen Dorfschulklasse. Und als der mürbe Herbst kam, nahm ihr Interesse an ihm zu. Sie ließ ihn wegen völlig imaginärer Vergehen nachsitzen, hieß ihn verwirrt irgendeine Strafaufgabe machen. Ihre Augen ruhten mit stetem Sehnsuchtsblick auf ihm, wenn sie dachte er merke es nicht.

      Er stellte sich so, als käme er mit der Aufgabe nicht zurecht. Hilfsbereit kam sie und saß neben ihm auf der Bank. Er spürte den Duft und die Wärme ihres üppigen weißen Arms, den süßen leisen Druck ihrer Schenkel; eine Strähne ihres karottenfarbnen Haars streifte sein Gesicht. Sie erklärte ihm umschweifig die Schwierigkeit der Aufgabe, führte ihm die Finger mit ihrer warmen, ein ganz klein wenig feuchten Hand, wenn er tat, als könnte er etwas – einen Ort auf der Karte etwa – nicht finden. Sie tadelte ihn mit lieber leiser Stimme:

      »Warum bist Du nur so ein böser Junge?« … oder zärtlicher noch: »Willst Du Dich denn in Zukunft nicht bessern?«

      Hierauf würde er mit simulierter jungenhaft-unartikulierter Blödigkeit versichern: »Wirklich, Miss Edith; ich habe es gewiß nicht bös gemeint.«

      Später, wenn die Sonne am Untergehen war, würden sie dann zusammen aus dem Klassenzimmer weggehn. Er schlüpfte achtlos in seinen Mantel, sie schalt ihn und rief ihn zu sich, glättete ihm den Kragen, zupfte ihm die Krawatte zurecht, ordnete sein wirres Haar, sagte:

      »Du bist ein schöner Bursch, Eugen. Ich wette, die Mädchen sind sehr hinter Dir her.«

      Er würde jüngferlich erröten, und sie würde, neugierig gemacht, in ihn eindringen:

      »Na, sag es mir schon, wer Dein Schatz ist!«

      »Aber ich hab ja keinen, wirklich nicht, Miss Edith.«

      »Aha! Ich verstehe. Du machst Dir eben nichts aus diesen albernen Dingern«, würde sie ihm nun zureden. »Du bist zu stolz für solche Tändeleien. Du bist älter als Deine Jahre und brauchst das Verständnis, das nur eine reife Frau geben kann.«

      Und dann würden sie im goldnen Abendlicht am Saum der Föhrenwälder entlanggehn, den schmalen Pfad, der von herbstbraunem Ahornlaub verweht wäre, über die Felder, an den Beeten mit den reifen runden Kürbissen vorbei.

      Sie würde allein mit ihrer tauben, hochbetagten Mutter wohnen, allein in einem kleinen, gartenumzognen Häuschen, ein wenig abseits der Straße.

      Sie würden querfeld aufs Haus zukommen. So würde es notwendig sein, über einen jener niedren Steinzäune, die als Flurgrenze dienen, zu steigen. Er wurde zuerst überklettern und ihr dann behilflich sein, und dabei eifrig die graziös geschwungne Wade ihres absichtlich zur Schau gestellten, seidenbestrumpften Frauenbeins besehen.

      Da die Tage nun kürzer würden, würden sie von der Dunkelheit überrascht werden. Sie würde so tun, als fürchte sie sich, wenn sie den Wald entlang gingen, ihn geängstigt an sich pressen, von merkwürdigen, eingebildeten Geräuschen erschreckt sich an ihn klammern. Schließlich eines Abends würde es beim Zaunübertritt zur Entscheidung, kommen. Sie würde sagen, sie könne in der Dunkelheit nicht allein herunterspringen, und er würde sie in seinen Armen um die Knie packen und sie herunterheben. Da würde sie flüstern:

      »Wie stark Du bist, Eugen!«

      Dann würde er sie nicht loslassen. Seine Hände würden von ihren Kniekehlen an aufwärtsrutschen, während er sie niedersetzte, Sie würde ihn leidenschaftlich küssen, ihn an sich pressen, ihn streicheln Und schließlich unter dem rauhreifbedeckten Persimonenbaum sich ganz seinen unbezähmbaren Knabenwünschen hingeben.

      »Der Junge liest Bücher hundertweis!« prahlte Gant, im ganzen Städtchen. »Die Bibliothek hat er schon ausgelesen.«

      »Bei Gott, Sie müssen einen Advokaten aus ihm machen, er hat wahrhaftig das Zeug dazu.« Major Lidell hatte eine hohe Stimme. Er spuckte akkurat in den Rinnstein, strich sich seinen tabakfleckigen weißen Spitzbart. Er war ein Veteran aus dem Bürgerkrieg.

      X

      Aber diese Freizügigkeit, dieses Einsamsein mit Büchern, dieses Träumen, diese uneingeschränkte Zeit für Phantasien sollte nicht dauern. Gant und Eliza waren beide beredte Fürsprecher der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Die Söhne waren bereits sehr früh zum Geldverdienen angehalten worden.

      »Da lernt ein Junge Selbständigkeit«, sprach Gant und hatte das Gefühl, als hätte er dies irgendwo schon einmal gehört.

      »Es schadet ihnen gewiß nichts«, meinte Eliza. »Wenn sie, jetzt nicht arbeiten lernen, dann werden sie später im Leben nie etwas leisten. Außerdem verdienen sie so ihr Taschengeld.« Dies letztere war zweifellos ein Grund von allerhöchster Wichtigkeit.

      Also hatten die Söhne des Hauses von Kind auf nach den Schulstunden und in den Ferien gearbeitet. Unglückseligerweise unterzogen sich weder Gant noch Eliza der Mühe nachzuforschen, was für Arbeit ihre Söhne taten. Sie waren der zufriedenstellenden, behagenerzeugenden Meinung, daß jegliche Arbeit, die Geld einbringt, ehrlich, ratsam und charakterbildend sei.

      Zu dieser Zeit hatte sich der störrische, wortkarge, einsame Ben bereits mehr und mehr in sich selber zurückgezogen. Er kam und ging wie ein Phantom; wie eines Phantoms wurde seiner in dem radauerfüllten Haus gedacht. Allmorgendlich um drei Uhr, wenn sein spröder, unterernährter Körper der Segnung tiefsten Schlafes bedurft hätte, stand er auf, stahl sich beim schwindenden Sternenlicht aus dem Haus und ging zu der surrenden Presse und dem geliebten Geruch der Druckerschwärze, um seine Route als Zeitungsträger anzutreten. Ohne daß es Gant und Eliza recht bemerkt hatten, war er nach dem achten Lehrjahr stillschweigend von der Schule weggeblieben und hatte weitere Verpflichtungen bei dem Zeitungsverlag übernommen. Er lebte selbstgenügsam in bitterm Stolz von seinem Verdienst.